Archiv der Kategorie ‘Umweltkrankheiten‘

Ursachen von Multiple Chemical Sensitivity

An manche Ursache von MCS haben Sie noch nie gedacht

Es wird geschätzt, dass bis zu 15 Prozent der Bevölkerung in den USA und in anderen industrialisierten Nationen an Multiple Chemical Sensitivity (MCS) leiden (1), trotzdem mangelt es an Untersuchungen, warum Menschen diese Hypersensitivität gegenüber Chemikalien entwickeln. Derzeit gibt es hauptsächlich Tierversuche und Studien mit wenigen Probanden, bei denen MCS diagnostiziert wurde.

Nach der führenden Theorie entwickelt sich eine Hypersensitivität für chemische Stimuli in einem Bereich des Gehirns, der als das limbische System bekannt ist und eine Vielzahl von Funktionen steuert, dazu gehören Gefühle, Verhalten, Langzeitgedächtnis und das olfaktorische System (unser Geruchssinn). Tierversuche haben gezeigt, dass sowohl hohe, akute Expositionen als auch niedrige Dauerbelastungen mit bestimmten organischen Chemikalien zu einer Hypersensitivität des limbischen Systems gegenüber späteren geringfügigen Expositionen mit der gleichen oder einer ähnlichen Chemikalie führen können. (2) Die bisher vielleicht umfassendste Theorie zur Pathophysiologie von MCS wurde von Martin Pall entwickelt, emeritierter Professor für Biochemie und medizinische Grundlagenforschung an der Washington State University. Nach Ansicht von Pall sind die Symptome Folge eines Triggers (chemische Erstexposition), der bewirkt, dass sich der Körper in einem Kreislauf verfängt, welcher mit erhöhten Stickoxid Werten, einer erhöhten Produktion von freien Radikalen (oxidativer Stress) und chronischen Entzündungen verbunden ist, und wiederum mit einer ausgeprägten Sensitivität von Gehirn und zentralem Nervensystem gegenüber „normalen“ Stimuli (mittels NMDA-Rezeptor). (3)

Die gesamte aktuelle biomedizinische Forschung deutet darauf hin, daß exzessive chemische Belastungen, die das Entgiftungsvermögen des Körpers überfordern, bei dafür anfälligen Individuen zur Erkrankung an MCS führen können. Das trifft ungeachtet dessen zu, ob die Belastung akut und offensichtlich oder eher schleichend ist und als Niedrig-Exposition über einen verlängerten Zeitraum stattfindet.

Manche, die an MCS erkrankt sind, wissen ziemlich genau, wodurch ihre Erkrankung ausgelöst wurde. Akute Expositionen mit solchen Sachen wie Organophosphat- und Organochlor-Pestiziden, Formaldehyd oder verschiedenste stark wirksame industrielle Lösungsmittel sind eindeutige Beispiele.

MCS und das Golfkriegssyndrom haben vieles gemeinsam und dies überrascht kaum, weil das militärische Personal während der Operation „Desert Storm“ im Jahre 1991 einer hochgradig toxischen Umgebung ausgesetzt war.

In vielen Fällen beleibt der initiale Auslöser einer MCS-Erkrankung jedoch ein Geheimnis. Aus diesem Grunde habe ich beschlossen, nun auf ein paar Quellen chemischer Belastungen hinweisen, von denen Sie vielleicht nicht gedacht hätten, dass sie das Potential haben MCS auszulösen:

  1. Schimmelpilz – Wenn Menschen in Gebäuden mit Wasserschäden leben oder arbeiten und anschließend an MCS erkranken, kann Schimmel der erste Verdächtige sein. Dr. med. Lisa Nagy, eine führende Umweltärztin, hat ihre eigene Erkrankung auf Schimmel als Folge eines Wasserschadens in ihrer Wohnung zurück geführt. Schimmel und Mykotoxine (Schimmel- und Pilzgifte) in wassergeschädigten Gebäuden und deren biologische Wirkung sind gut erforscht. Es wurde festgestellt, dass sie die Produktion von Autoantikörpern auslösen, welche das Gehirn und das zentrale Nervensystem angreifen, periphere Neuropathien verursachen und zahlreiche neuropathologische Folgen haben, einschließlich veränderter Durchblutung und elektrischer Aktivität des Gehirns. (4)
  2. Kohlenmonoxid – Da es sich um ein farb- und geruchloses Gas handelt, kann eine Belastung mit Kohlenmonoxid (CO) über längere Zeit unentdeckt bleiben. Darum ist es wichtig, zu Hause CO-Detektoren einzubauen und Installationen wie gasbefeuerte Boiler regelmäßig warten zu lassen. Nach Pall ist CO-Belastung ein sehr wahrscheinlicher Auslöser für jene Abfolge pathophysiologischer Veränderungen, die zu MCS führen können und er hebt hervor, dass die Symptome einer CO-Vergiftung denen von MCS sehr sehr ähneln. (5)
  3. Candida Hefepilz Überwucherung – Oberflächlich betrachtet könnte ein übermäßiges intestinales Wachstum des Candida Hefepilzes die am wenigsten augenfällige Quelle einer toxisch chemischen Belastung sein, welche zu MCS führen kann. Doch bei vielen MCS-Kranken spricht einiges dafür, dass sie gleichzeitig an einer Störung ihrer Mikroflora im Darmtrakt leiden, die es der Hefe ermöglicht hat, sich weit auszubreiten. In Anbetracht der chemischen Gifte, die solche Hefen wie Candida sp. produzieren, da sie die Kohlenhydrate der Nahrung, die wir zu uns nehmen, fermentieren, leuchtet es in der Tat ein, dass sie in der Lage sind, wenn diese Toxine aus dem Darm in den Kreislauf absorbiert werden, das Gehirn zu vergiften und dass sie letztendlich zur Entstehung vom MCS beitragen könnten. Diese Mikroorganismen erzeugen Ethanol (Trinkalkohol), Acetaldehyd (ein chemisch Verwandter von Formaldehyd) und eine Menge andere Mykotoxine, die längst als neurotoxisch anerkannt sind.
  4. Zahnbehandlung – Viele MCS-Kranke erwähnen zahnärztliche Behandlungen als Auslöser ihrer Erkrankung. Amalgamfüllungen enthalten Quecksilber, ein bekanntes Neurotoxin und immer mehr Menschen beklagen, dass sie an chemischen Sensitivitäten erkrankt sind, nachdem sie sich neueren Methoden der Zahnkorrektur, wie Invisalign unterzogen haben. (siehe Teil 2)

Sicherlich gibt es noch viele andere versteckte Quellen toxischer Chemikalien, die eine MCS-Erkrankung bei jenen auslösen können, die auf Grund genetischer Eigenschaften und andere Faktoren dafür anfällig sind. Schließlich ist unsere Umwelt im 21. Jahrhundert mit solchen Chemikalien gut gesättigt.

Wenn Sie weitere Vorschläge haben, teilen Sie uns diese bitte unten im Kommentarformular mit. Sehr interessant wäre auch zu erfahren, was Ihrer Ansicht nach Ihre eigene MCS-Erkrankung ausgelöst hat.

Autor:

Matthew Hogg BSc (Hons) (Bachelor of Science mit Ehrenauszeichnung) für EiR The Environmental Illness Resource Blog, 08. August 2011

Übersetzung: BrunO für CSN – Chemical Sensitivity Network

Quelle des Originalartikels: Causes of Multiple Chemical Sensitivity: Some You May Not Have Thought About

Copyright: The Environmental Illness Resource 2011

Referenzen:

  1. Caress SM and Steinemann AC (2004), Prevalence of Multiple Chemical Sensitivities: A Population-Based Study in the Southeastern United States, American Journal of Public Health 94(5): 746–7
  2. Gilbert ME (2001), Does the kindling model of epilepsy contribute to our understanding of multiple chemical sensitivity? Annals of the New York Academy of Sciences 933:68-9
  3. Pall ML, The NO! OH NOO! Theory and Suggestions For Treatment, EIR
  4. Lisa Nagy, Neurological and Immunological Problems associated with Mold and Mycotoxin Exposure, EIR
  5. Pall ML (2002), NMDA sensitization and stimulation by peroxynitrite, nitric oxide, and organic solvents as the mechanism of chemical sensitivity in multiple chemical sensitivity, FASEB Journal 16(11):1407-17

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Deutsche Umwelthilfe verklagt Baumarktkette wegen zu viel Quecksilber in Energiesparlampen

Energiesparlampen der Hornbach-Eigenmarke „Flair Energy“ überschreiten Grenzwerte für Quecksilber

Baumarktkette lehnt Unterlassungserklärung der Deutschen Umwelthilfe (DUH) zur künftigen Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen ab – DUH erhebt Klage gegen Hornbach wegen Nichteinhaltung von Umweltgesetzen

Von der Baumarktkette Hornbach verkaufte Energiesparlampen der Eigenmarke „Flair Energy“ enthalten regelmäßig zu viel giftiges Quecksilber. Dies ergaben Produkttests der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH). Die Untersuchungen weisen bei den geprüften „Flair Energy“ Kompaktleuchtstofflampen durchgehend mehr als die gesetzlich erlaubten 5 Milligramm (mg) Quecksilber auf. Der gemessene Höchstwert lag mit 13 mg um mehr als das Doppelte über dem gesetzlich erlaubten Grenzwert.

Zwar nahm Hornbach inzwischen die Energiesparlampen seiner Eigenmarke „Flair Energy“ vom Markt, doch schließt dies nach Überzeugung der DUH eine Wiederholung nicht aus. Deshalb fordert die Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation von Hornbach die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung, mit der sich das Unternehmen verpflichtet, nur noch Energiesparlampen in Verkehr zu bringen, die weniger als 5 mg Quecksilber enthalten. Dies lehnt Hornbach jedoch ab und verweigert somit jede Garantie, dass künftig alle angebotenen Energiesparlampen tatsächlich die gesetzlichen Quecksilbergrenzwerte einhalten. „Hornbachs Weigerung, verbindlich zu versprechen, zukünftig nur noch Energiesparlampen zu verkaufen, die die gesetzlichen Höchstwerte für Quecksilber erfüllen, ist nicht hinnehmbar“, sagt DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch.

Die modernen Energiesparlampen (Gasentladungslampen) sparen gegenüber Glühlampen 80 Prozent des Stroms ein, enthalten aber technisch bedingt geringe Mengen des giftigen Schwermetalls Quecksilber. Qualitätshersteller schaffen es heute, den Quecksilbergehalt auf ca. 2 mg zu reduzieren. Um mögliche schädliche Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit zu minimieren, ist die zugelassene Quecksilbermenge in Gasentladungslampen auf maximal fünf Milligramm je Lampe begrenzt. „Mit so genannten Quecksilber-Dosierpillen bei der Herstellung von Gasentladungslampen stellt die präzise Einhaltung der Grenzwerte heute kein technisches Problem mehr dar. Die Händler müssen nicht fürchten, unbeabsichtigt zu viel Quecksilber in ihren Energiesparlampen zu haben“, erklärt Thomas Fischer, aus dem DUH-Bereich Kreislaufwirtschaft. Lediglich bei Ramschware sei Vorsicht geboten, denn bei dieser werde das Quecksilber gelegentlich noch mit der veralteten und ungenauen Flüssigdosierung eingebracht. Dies sei jedoch nicht mehr zeitgemäß und ein Zeichen minderer Qualität.

Weil Hornbach seinen Kundinnen und Kunden trotz technischer Machbarkeit keinen Schutz vor zu hohen Mengen des Schwermetalls Quecksilber in Energiesparlampen garantieren will, erhebt die DUH nunmehr Klage gegen Hornbach vor dem Landgericht Landau. „Mit unserem Gang vor Gericht wollen wir erreichen, dass Hornbach die geltenden Quecksilber-Grenzwerte für alle angebotenen Energiesparlampen einhält und sicherstellen, dass zukünftig Hornbach-Kunden unbedenkliche Lampen kaufen können“, so Resch.

Literatur:

Deutsche Umwelthilfe e.V., Deutsche Umwelthilfe verklagt Baumarktkette Hornbach wegen zu viel Quecksilber in Energiesparlampen, Berlin, 9. August 2011

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Radioaktivität: Die Macht der Fahrlässigkeit

Ganze Wohnviertel radioaktiv verstrahlt

Es war September 1987, als der wahrgewordene Alptraum die brasilianische Stadt Goiânia heimsuchte. Bis heute wird versucht, dieses Schicksal, das dort mehreren Menschen das Leben kostete und hunderten weiteren Menschen ein unendlich großes Leid verschaffte, möglichst zu verschweigen. Es ereignete sich im Armenviertel der Stadt und kaum jemand hat hier in Europa wirklich je etwas davon erfahren. Die Auswirkungen dieses Unglücks sind bis heute aktuell und brisant.

Diebstahl für das blanke Überleben

Zwei jungen Männer, Wagner Mota und Roberto Santos Alves, grade einmal 19 und etwas über 20 Jahre jung, waren wie so oft auf einem Streifzug durch das nächtliche Viertel unterwegs. Auf der Suche nach Gegenständen, die sie zu Geld machen könnten. Sie hatten sich auf das Sammeln von Altmetall und Papierresten spezialisiert, um dies bei einem Schrotthändler gegen Geld einzutauschen. Manche mögen diese beiden jungen Männer als Diebe bezeichnen, doch das macht ihr Schicksal nicht einfacher. Sie waren verzweifelt und zu Hause warteten ihre Familien auf ein Stück Lebenskraft. Die Nahrungsmittel und das Trinkwasser waren knapp und fast unerschwinglich.

Strahlender Sondermüll

Es war ein wunderschöner Abend des 13. September 1987, als die Beiden in das verlassene Goiânische Institut für Radiotherapie eindrangen. Dieses Institut war eine verlassene Privatklinik in der Stadt, dort entwendeten sie mit einer Schubkarre ein seit zwei Jahren ausgedientes Strahlentherapiegerät, weil sie das Metall für wertvoll hielten und nicht wussten, was es für ein Gerät war. Beide hatten so ein Gerät niemals zuvor gesehen, denn eigentlich müssen diese Geräte als Sondermüll entsorgt werden und kaum ein Armer bekommt so etwas jemals zu Gesicht, da sich diese Menschen kostenaufwendige Therapien nicht leisten können. Die Entsorgung dieses Gerätes hätte eigentlich durch die 4 ärztlichen Leiter der Privatklinik stattfinden müssen, diese hatten das Gerät jedoch sich selbst überlassen, vermutlich aufgrund der hohen Entsorgungskosten. Wagner und Roberto schoben das Gerät mit Hilfe ihrer Schubkarre in Robertos Hinterhof und fingen an, es nach und nach auseinander zu bauen.

Leuchtendes Pulver

Es gelang ihnen nicht, das Gerät vollständig ganz klein zu hauen und in Einzelstücke auseinander zu nehmen. Nach fast zwei Wochen, nachdem sie das Gerät entdeckten und mitnahmen, versagten ihre Kräfte immer mehr und sie wurden krank. Sie verkauften das Gerät am 25. September kurzerhand komplett, an den Schrotthändler Desair Ferreira, um daraus wie üblich Profit zu schlagen. Der Schrotthändler fing an das Gerät eigenhändig mit seinem eigenem Werkszeug weiter auseinander zu bauen. Er entdeckte in dem Gerät einen Bleibehälter, diesen schlug er mit einem Meißel auf und entdeckte darin ein Pulver, das in der Dämmerung wunderschön leuchtete. So etwas Schönes hatte er vorher noch nie gesehen, er rief seine Frau, seine Nachbarn und alle herbei. Von diesem herrlich leuchtenden Pulver waren alle sehr begeistert, wie Kinder die ganz besondere Süßigkeiten entdeckten, wollten nun alle etwas von dem leuchtendem Pulver haben, das aussah wie Salz und fast wie von selbst auf der Haut kleben blieb.

Spaß, so kostbar wie ein Diamant

Sie rieben sich damit ein, malten sich Herzchen auf die Backen, Sterne auf die Stirn, sie zeichneten Zeichen auf die Wände, sie tanzten, lachten, waren fröhlich wie schon so lange nicht mehr in ihrem armen trostlosem Leben, das vom schweren Alltag der brasilianischen Slums gezeichnet war. Endlich hatten sie etwas, was niemand zuvor jemals gesehen hatte, etwas das ihnen vielleicht ein bisschen Glück bringt, etwas wie ein kostbarer Diamant. Das musste gefeiert werden. Es wurde aus den letzten Habgütern ein Abendessen organisiert, dieser Abend sollte der schönste Abend ihres Lebens werden.

Rätselhafte Erkrankung im Slum

Plötzlich wurden alle Menschen krank. Maria Gabriela Ferreira, die Frau des Schrotthändlers, bemerkte, dass diese Erkrankung aller Freunde gleichzeitig auftrat. Sie führte es zuerst auf ein gemeinsames Getränk des Abends zurück. Alle litten unter Erbrechen, Durchfall, Fieber, Hautausschläge und vieles mehr. Man dachte an eine Lebensmittelvergiftung, oder an eine neuartige Tropenkrankheit, an Allergien, an alles Mögliche, nur nicht an das Eine, das Undenkbare. Die konsultierten Ärzte tappten im Dunkeln, sie waren völlig ratlos, fanden keine Viren und keine Bakterien, keine Anzeichen einer Immunreaktion. Diese plötzliche Erkrankung war ein großes Rätsel.

Das schöne Pulver in Verdacht

Am 28. September verdächtigte die Frau des Schrotthändlers, Maria Gabriela Ferreira, das schöne Pulver als Krankheitsursache. Sie brachte den Bleibehälter, worin sich das Pulver befand, in ein Krankenhaus. Der diensthabende Arzt vermutete sofort korrekterweise, dass es sich bei dem Pulver um radioaktives Cäsium-137 handeln könnte. Er brachte den Behälter außerhalb des Krankenhauses in den Garten. Maria hatte den Behälter zum Glück während des Transportes in das Krankenhaus nicht geöffnet, sie transportierte den Behälter in einer Plastiktüte im Bus und hatte ihn auch im Krankenhaus nicht geöffnet, was vielen Menschen das Leben rettete. Aus dem Behälter waren bis dahin ca. 90% der Radioaktivität entwichen. Laut offiziellen Angaben war die Strahlung im Bus nicht gesundheitsgefährdend.

Ganze Viertel verstrahlt

Einen Tag später, am 29. September 1987, wurde durch den Spezialisten Walter Mendes mittels eines Szintillationszählers die Verstrahlung der Familie Ferreiras und deren Wohnumgebung festgestellt. Das gesamte Viertel war betroffen. Die Radioaktivität war über mehrere Wohnbezirke verschleppt worden, ganze Straßenzüge und Plätze waren kontaminiert. Zuerst hieß es, die Strahlenwerte seien nicht gravierend. Die Regierung wurde beschuldigt, der Zivilbevölkerung alarmierende Daten vorzuenthalten, um den Unfall zu vertuschen. Vor allem auch zu vertuschen, dass die Klinik das Gerät nicht sorgfaltsmäßig entsorgte.

Tote und schwer Verletzte – alles unter Kontrolle

Die fast 2.000 Menschen der unmittelbaren Umgebung wurden in das naheliegende Olympiastadion gebracht und dort versorgt. In der Zwischenzeit erlitten zahlreiche Personen zum Teil so hohe Strahlendosen, dass vier Personen in unmittelbarer Zeit starben und 28 Personen strahlungsbedingte Hautverbrennungen erlitten. Die am schwersten verstrahlten Opfer, darunter auch Kinder, wurden in einem der Krankenhäuser der Stadt in einem leer geräumten Flügel separiert abgeliefert, sie blieben dort zunächst ganz auf sich allein gestellt. Ärzte und Pfleger wagten sich nicht zu ihnen, wegen der hohen Strahlung, die von diesen kontraminierten Patienten ausgingen. Die Behörden, die viel zu lange versucht hatten den Vorfall möglichst vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, versuchten sich in Beschwichtigung. Man habe die Lage unter Kontrolle, alles sei in Ordnung, es gebe keinerlei Strahlungsgefahr.

Verstrahlte Menschen und Tiere, kontaminierte Häuser und Plätze

Insgesamt wurden in den darauffolgenden Wochen 112.800 Personen untersucht, 249 wurden als kontraminiert ermittelt. Von den Häusern der Umgebung wurden 85 Häuser als kontaminiert ermittelt, davon waren 41 Häuser massiv kontaminiert und wurden letztendlich komplett abgerissen. Die Tiere der Familien mussten getötet werden, der Boden von Gärten und öffentlichen Parkanlagen abgetragen, Grundstücke zubetoniert. Das Leben war noch schlechter geworden, als es in diesem Alptraum sowieso schon war. Vierzehn stark verstrahlte Patienten wurden schließlich nach Rio de Janeiro ins dortige Marinehospital geflogen, wo ein internationales Spezialisten-Team, das auf Strahlenschäden durch Kriegsverletzungen spezialisiert ist, auf sie wartete. Vier Patienten kehrten schon kurze Zeit später in schweren Bleisärgen zurück, sie waren an den Folgen der Kontamination verstorben. Darunter auch die kleine Tochter der Familie des Schrotthändlers, Leide Ferreira. Sie verstarb am 23. Oktober, nur wenige Wochen nach dem Unglück. Leide war das allererste Todesopfer dieser schweren Tragödie. Sie wurde nur 6 Jahre alt.

Qualvoller Strahlentod

Wenige Stunden nach ihr verstarben ihre Mutter, Maria Gabriela Ferreira (38), die Frau des Schrotthändlers. Sie starb ebenso qualvoll an inneren Blutungen und multiplem Organversagen, wie ihre kleine Tochter Leide. Kurz darauf starben auch die zwei jungen Gesellen des Schrotthändlers, Admilson und Israel, die beiden wurden nur 18 und 22 Jahre alt. Ihr Tod war ebenfalls aufgrund der Strahlenkrankheit furchtbar qualvoll.

Ausschreitungen auf Beerdigungen

Die Beerdigungen verliefen ebenso schrecklich, so als wenn das alles was geschehen war, nicht schon genug des Alptraumes war. Mitten in der Trauer kam es auf dem Friedhof zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen tausende Menschen aus Wut, Verunsicherung und Angst vor weiterer Verseuchung, gegen die Beerdigung und die Familie demonstrierten. Sie warfen Steine, schlugen mit Knüppel auf die Särge und den Trauerzug. Die Spezialsärge bestanden jedoch aus einem Bleimantel, so dass keine Radioaktivität ausweichen konnte, sie wogen bis zu 700 kg und mussten mit Hilfe eines Krans in die vorbereiteten Betongruben versenkt werden und vollständig einbetoniert werden.

Fahrlässigkeit verursachte jahrzehntelange, andauernde Folgen

Noch heute leiden die Menschen, die in diesem Gebiet wohnen, unter den gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung, nur weil ein unverantwortlich arbeitendes medizinisches Personal aus der Privatklinik sich nicht um die Entsorgung des hochgefährlichen Strahlentherapiegerätes kümmerte und dies der unwissenden Zivilbevölkerung zum Verhängnis wurde.

Nichts kann dieses Schicksal rechtfertigen. Auch nicht das Argument, dass das Gerät von zwei jungen Männern aus ihrer Armut heraus, aus einem leer stehenden Abrissgebäude gestohlen wurde. Ein solches Gerät gehört, genau wie andere Gefahrgüter, sachgemäß entsorgt. Die vier Ärzte, die verantwortlich für das Gerät waren, wurden von der Stadt verklagt.

Autor: Chris B. für CSN – Chemical Sensitivity Network, 5. August 2011

Informationsquellen, Dokumentationen: „Cesio 137“ – „Goiânia 1987“

Weitere CSN Artikel zum Thema Radioaktivität:

Die besten Blogs im Juli 2011

Der Bericht über Patrick, einen 19-jährigen jungen Mann, erschütterte viele CSN Blogleser. Schon an den ersten beiden Tagen nach Erscheinen brach der Artikel Rekorde, weil viele der Leser den Link weiterreichten, um auf den tragischen Fall aufmerksam zu machen. Auch die englischsprachige Version „Damn, I do not accept that my life is over!“ fand eine große Leserschaft.

Auf dem zweiten Platz landete die CSN-Blogfrage „Driftet die deutsche Umweltmedizin in die Esoterik ab?“. Die Resonanz war groß und die Blogfrage erregte manche Gemüter. Ein Verein zur Hilfe Umwelterkrankter (VHUE) forderte sogar per Einschreiben/ Rückschein, dass CSN eine Gegendarstellung zu dieser Blogfrage veröffentlichen müsse (wie kann man auf eine Frage eine Gegendarstellung verlangen?), die von deren Präsident Dr. John Ionescu, Geschäftsführerin Monika Frielinghaus und Vorstandsvorsitzenden Dr. Walter Wortberg gezeichnet war. CSN befand, dass diese Forderung und auch die Stellungnahme absurd sind und stellte das Statement nicht ein.

Den dritten Platz in der CSN Blog Top 10 erzielte ein Artikel, in dem Prof. Aas, ein norwegischer Wissenschaftler, auf leicht verständliche Art erläuterte, was MCS ist. Auch dieser Artikel wurde von den Lesern weiterverbreitet und auf vielfachen Wunsch in englische Sprache „Environmental Diseases are not unexplained mysteries“ übersetzt.

 

Zum Lesen der CSN-Top 10 Artikel, einfach anklicken >>>

  1. Verflucht, ich akzeptiere nicht, dass mein Leben gelaufen ist!
  2. Diftet die deutsche Umweltmedizin in die Esoterik ab?
  3. Umweltkrankheiten sind kein unerklärbares Mysterium
  4. Subject: So wird heute betrogen
  5. Jungem Mann mit MCS wurde Rente gewährt
  6. Asbest ist verboten, die Zahl der Opfer wächst trotzdem noch lange weiter
  7. Finanzierung wissenschaftlicher Studien beeinflusst Studienergebnisse
  8. Aktuelle Messwerte der Radioaktivität in Deutschland und Japan
  9. Genfood als Marketingstrategie für Pestizide
  10. Dienstanweisung soll Gesundheit der Mitarbeiter verbessern

Fukushima: Japanischer Professor belegt Inkompetenz der Regierung

“Ich bebe vor Wut!” – Prof. Kodama zur Kontamination nach Fukushima

Im Ausschuss für Arbeit, Soziales und Gesundheit, Japanisches Unterhaus, 27. Juli 2011, morgens/Transkript.

Der Nächste bitte, Zeuge Kodama:

Mein Name ist Kodama, ich bin der Chef des Radioisotopen-Zentrums der Universität von Tokyo. Am 15. März war ich sehr bestürzt. Wir von der Universität Tokyo haben 27 Radioisotopen-Zentren und sind verantwortlich für Strahlenschutz und Dekontamination. Ich selbst bin Mediziner und war über einige Jahrzehnte hinweg an Dekontaminationsarbeiten bei Einrichtungen der Universitätskliniken in Tokyo beteiligt.

Gegen 9:00 morgens am 15. März maßen wir eine Strahlung von 5 microsievert/h in Tokai-mura in der Präfektur Ibaraki und unterrichteten das Ministerium für Erziehung und Wissenschaft gemäß des Artikel 10 der Maßnahmen bezüglich Nuklear- notfallmaßnahmen. [japanisches Gesetz zum Strahlenschutz] Später wurden Strahlungen in Tokyo gemessen, die 0,5 microsievert/h überschritten. Dieser Stand ging bald zurück. Und dann, am 21. März regnete es in Tokyo, und mit dem Regen kam eine Strahlenbelastung von 0,2 microsievert/h. Meiner Meinung nach ist dies der Grund für die bis heute erhöhte Strahlenbelastung.

Zu dieser Zeit sagte Generalstaatssekretär Edano: „Es gibt keine direkten Auswirkungen auf die Gesundheit.“ Ich dachte eigentlich, das werde ein großes, großes Problem werden. Warum war ich so besorgt? Weil das gegenwärtige Strahlenschutzgesetz darauf basiert, kleine Mengen radioaktiven Materials zu behandeln, die sehr hohe Strahlendosen emittieren. In diesem Fall ist die Gesamtmenge des radioaktiven Materials von geringer Bedeutung. Wichtig ist die Höhe der Strahlendosis. Im Fall des Nuklearunfalles im AKW Fukushima I jedoch haben wir 5microsievert/h innerhalb eines 100km-Radius [er bezieht sich auf Tokai-mura], 0,5 microsievert/h innerhalb eines 200km-Radius [bezüglich der Tokyo-Gegend] und Strahlung weit darüber hinaus, sogar in Tee aus Ashigara und Shizuoka [über 300km], wie jetzt jedermann weiß.

Wenn wir Strahlungsverletzung und -Krankheit untersuchen, achten wir auf die Gesamtmenge des radioaktiven Materials. Aber es gibt keinen definitiven Bericht von TEPCO oder der japanischen Regierung über die genaue Menge des radioaktiven Materials, das in Fukushima freigesetzt wurde. Also haben wir auf Grundlage unserer Wissensdatenbank am Radioisotopen-Zentrum unsere Berechnungen angestellt. Bezüglich des thermischen Ausstoßes ist er 29,6-mal höher als die Menge, die beim Atombombenabwurf in Hiroshima freigesetzt wurde. Das Uran-Äquivalent beträgt 20 Hiroshima-Bomben. Beängstigender ist, dass die Strahlung von einer Atombombe innerhalb eines Jahres auf ein Tausendstel abnimmt, während die Strahlung von einem Kernkraftwerk nur auf ein Zehntel abnimmt. In anderen Worten: wir sollten von Anfang an erkennen, dass – genau wie Tschernobyl – das Atomkraftwerk Fukushima I radioaktives Material freigesetzt hat, das der Menge von 10 Atombomben entspricht und dass die resultierende Kontamination viel schlimmer ist als die Kontamination von einer Atombombe.

Von Standpunkt eines Systembiologen muss man, wenn die Gesamtmenge klein ist, nur die jeweilige Menge für jede einzelne Person berücksichtigen. Wenn jedoch große Mengen radioaktiven Materials freigesetzt werden, bestehen sie aus Partikeln. Die Verbreitung von Partikeln ist nicht-linear, und ihre Berechnung ist eine der schwierigsten Aufgaben der Fluiddynamik [Teilgebiet der Strömungslehre]. Kernbrennstoff ist wie in Kunstharz eingeschlossener Sand, aber wenn die Brennstäbe schmelzen, wird eine große Menge kleinster Partikel freigesetzt.

Was passiert dann? Probleme wie das kontaminierte Reisstroh passieren.

Zum Beispiel wurde in Fujiwara-cho in der Präfektur Iwate Reisstroh mit 57.000 Bq/kg gefunden. In Osaki in der Präfektur Miyagi 17.000 Bq/kg, in Minami-Soma City in der Präfektur Fukushima 106.000 Bq/kg und in Shirakawa City in der Präfektur Fukushima 97.000 Bq/kg und in Iwate 64.000 Bq/kg. Das Kontaminationsmuster folgt keinen konzentrischen Kreisen. Es hängt vom Wetter ab. Die Kontamination hängt auch davon ab, wo die Partikel landen – zum Beispiel auf Material, das Wasser absorbiert.

Wir vom Radioisotopen-Zentrum haben der Stadt Minami Soma City bei Dekontaminations-Maßnahmen geholfen. Bisher haben wir sieben Dekontaminationen durchgeführt. Als wir das erste mal nach Minami Soma kamen, gab es nur einen Geigerzähler. Am 19. März, als das Ministerium für Agrikultur, Waldwirtschaft und Fischerei vermutlich die Anweisungen [bezüglich der Viehfütterung] ausgab, gingen in der Stadt gerade Lebensmittel, Wasser und Benzin zur Neige. Der Bürgermeister von Minami Soma veröffentlichte ein Hilfsgesuch im Internet, das weltweit gesehen wurde.

In solch einer Situation hätte niemand auf ein Papier des Ministeriums geachtet, niemand hätte etwas gewusst. Die Bauern wussten nicht, dass Reisstroh im Begriff war, kontaminiert zu werden. Trotzdem kauften sie Futter von außerhalb, gaben hunderttausende Yen aus, fütterten ihr Vieh damit und gaben ihm Trinkwasser. Was sollten wir also jetzt tun? Wir müssen garantieren, dass in dem kontaminierten Gebiet vollständige Strahlenmessungen durchgeführt werden.

Wie ich bereits erwähnte, gab es einen Geigerzähler in Minami Soma City, als wir im Mai dorthin kamen. Tatsächlich gab es 20 Strahlenmessgeräte, die von den US-Truppen zur Verfügung gestellt worden waren. Aber niemand im örtlichen Bildungsausschuss konnte die englische Bedienungsanleitung verstehen, bis wir kamen und ihnen erklärten, wie die Geräte zu bedienen sind. So war das dort.

Zur Lebensmittelkontrolle: es gibt fortschrittlichere Geräte als Germanium-Detektoren, bildgebende Halbleiter-Detektoren. Warum gibt die japanische Regierung kein Geld aus, um sie zu benutzen? Nach 3 Monaten hat die Regierung nichts dergleichen getan, und ich bebe vor Wut. Zweitens: Seit Herr Obuchi Premierminister war [1998], bin ich zuständig für Therapeutische Antikörper im Auftrag des Kanzleramtes. Wir benützen Radioisotope in Antikörper-Therapien, um Krebs zu behandeln.

Mit anderen Worten: meine Arbeit besteht darin, Radioisotope in menschliche Körper zu injizieren. Deshalb habe ich höchstes Interesse an der internen Strahlenbelastung und das ist es, was ich intensiv untersucht habe. Also möchte ich den Mechanismus erklären, wie es zu interner Strahlenbelastung kommt.

Das größte Problem bei interner Strahlung ist Krebs. Wie entsteht Krebs? Weil Strahlung DNA-Stränge zerschneidet. Wie Sie wissen, hat die DNA die Form einer Doppelhelix. In dieser Spiralform ist sie äußerst stabil. Wenn sich jedoch eine Zelle teilt, wird die Doppelhelix zu Einzelsträngen, doppelt sich und wird zu 4 Strängen. Das ist das höchst gefährdete Stadium. Deshalb sind Föten und kleine Kinder, deren Zellen sich rasch teilen, am empfänglichsten für Strahlengefährdung. Selbst bei Erwachsenen gibt es Zellen, die sich rasch teilen wie Haar, Blutzellen und Darmepithel [Bestandteil der Darmschleimhaut], die von Strahlung beschädigt werden können.

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel dafür geben, was wir über interne Strahlungsbelastung wissen. Eine genetische Mutation verursacht keinen Krebs. Nach der anfänglichen Bestrahlung braucht es einen zweiten Auslöser, damit eine Zelle zu einer Krebszelle mutiert, der „driver mutation“ oder „passenger mutation“ genannt wird. [keine deutsche Bezeichnung verfügbar] Für Details sehen Sie sich bitte das beigefügte Dokument über die Fälle in Tschernobyl und Cäsium an.

Anmerkung CSN: driver mutations (Haupt oder Zellwuchs-Mutationen) sind jene, die den Krebs produzieren, während passenger mutations (Neben oder Gastmutationen) keinen Krebs machen. Vgl. Cancerfocus

Alpha-Strahlung ist sehr berühmt[berüchtigt]. Ich bin erschrocken, als ich von einem Professor der Tokyo Universität erfuhr, der sagte, es sei sicher, Plutonium zu trinken. Alpha-Strahlung ist die gefährlichste Strahlung. Sie verursacht Thorotrast-Leberschäden [später erklärt], wie wir Leberspezialisten sehr genau wissen. Bei interner Strahlung wird häufig auf so und so viele Millisievert verwiesen, aber das ist absolut bedeutungslos. Jod-131 geht in die Schilddrüse, Thorotrast geht in die Leber und Cäsium geht ins Urothel [Gewebe der Harnwege] und in die Harnblase. Ein Ganzkörperscan ist völlig bedeutungslos, ohne sich diese Stellen im Körper anzuschauen, wo Strahlung akkumuliert.

Thorotrast war ein Kontrastmittel, das in Deutschland seit 1890, in Japan seit 1930 benützt wurde, aber man fand heraus, dass 25 bis 30% Prozent der Menschen 20 bis 30 Jahre später Leberkrebs bekamen.

Warum dauert es so lange, bevor sich Krebs entwickelt?

Thorotrast ist ein alpha-strahlendes Nuklid. Alphastrahlung verletzt nahegelegene Zellen, und die DNA, die am meisten betroffen ist, ist ein Gen namens „P53“. Mittlerweile kennen wir Dank der Gentechnik die gesamte Sequenz der menschlichen DNA. Allerdings gibt es 3 Millionen Positionen auf der DNA, die von Person zu Person unterschiedlich sind. Daher macht es heute überhaupt keinen Sinn, so zu handeln als ob alle Menschen gleich wären. Das Grundprinzip sollte die „personalisierte Medizin“ sein, wenn wir interne Strahlung untersuchen,- welche DNA ist beschädigt und welche Art Wandel findet statt. Im Fall von Thorotrast ist es erwiesen, dass im ersten Stadium P53 geschädigt wird und es dann 20 bis 30 Jahre dauert, bis die Zweit- und Drittmutationen auftreten, die Leberkrebs und Leukämie verursachen.

Über Jod-131.

Wie Sie wissen, akkumuliert Jod in der Schilddrüse, und das ist besonders während der Entwicklungsphase der Schilddrüse festzustellen, d.h. bei kleinen Kindern. Aber dennoch: als die ersten Forscher in der Ukraine 1991 sagten: „Es gibt eine ansteigende Zahl von Schilddrüsenkrebs-Fällen“, veröffentlichten Forscher in Japan und den USA Artikel in „Nature“, die besagten: „Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Strahlung und Schilddrüsenkrebs.“

Warum sagten sie das? Weil es keine Daten gab für die Zeit vor 1986, gab es keine statistische Signifikanz. Die statistische Signifikanz wurde schließlich 20 Jahre später festgestellt.

Warum? Weil der Kurvenausschlag, der 1986 begann, wieder verschwand. Selbst ohne Daten von vor 1986 gab es also den kausalen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Schilddrüsenkrebs-Fälle und der Strahlenbelastung aus Tschernobyl.

Epidemiologische Beweisführung ist sehr schwierig. Es ist unmöglich, Beweise zu liefern, bevor alle Fälle abgeschlossen sind. Daher wird aus dem Blickwinkel des „beschützt unsere Kinder“ eine völlig andere Herangehensweise benötigt. Dr. Shoji Fukushima von der staatlichen Institution „Japan Bioassay Research Center“, die die gesundheitlichen Auswirkungen von chemischen Verbindungen erforscht, hat seit dem Tschernobyl-Unfall Krankheiten im Bereich des Urinaltraktes untersucht. Dr. Fukushima und Doktoren aus der Ukraine untersuchten Teile von Blasen, die bei über 500 Operationen von Prostatahypertrophie [Vergrößerung der Prostata] entnommen wurden.

Sie fanden heraus, dass es in den hoch kontaminierten Gegenden, wo 6Bq/Liter im Urin entdeckt wurde, eine hohe Frequenz von P53-Mutationen gab, obwohl 6Bq/l unbedeutend klingen mag. Sie stellten auch viele Fälle von proliferativen präkazerosen Konditionen fest [entartete Zellen, die Krebs entwickeln können], von denen wir annehmen, dass sie durch Aktivierung von P38 MAP Kinase und dem sogenannten „NF-kappa-B“ Signal bedingt sind, was zwangsläufig zu einer proliferativen Zystitis führt, mit in beachtlicher Frequenz auftretendem Carcinoma in Situ.

Mit diesem Wissen war ich bestürzt, den Bericht zu hören, dass 2 bis 13 Bq/Liter [radioaktives Cäsium] in der Muttermilch von sieben Müttern in Fukushima gemessen wurde. Wir vom Radioisotopen-Zentrum der Universität Tokyo haben geholfen, Minami-Soma City zu dekontaminieren. Wir haben jeweils 4 Leute gleichzeitig geschickt und Dekontaminationen auf der Länge von 700km pro Woche durchgeführt.

Nochmals: das, was in Minami-Soma geschieht, zeigt deutlich, dass ein 20 oder 30 km Radius [vom AKW] überhaupt keinen Sinn macht. Sie müssen mehr ins Detail gehen, wie z.B. in jedem Kindergarten messen. Im Moment werden aus dem 20-30 km Radius 1.700 Schulkinder mit Bussen zur Schule gefahren. Tatsächlich liegt aber das Stadtzentrum von Minami-Soma nahe am Ozean und 70% der Schulen haben eine relativ niedrige Strahlenbelastung. Trotzdem werden Kinder dazu gezwungen, in die Busse zu steigen und den ganzen Weg zu Schulen in der Nähe von Iitate-mura [wo die Strahlung viel stärker ist] zurückzulegen. Die Busfahrten kosten jeden Tag 1 Millionen Yen.

Ich verlange nachdrücklich, dass diese Situation so schnell wie möglich beendet wird. Das Problematischste an der Richtlinie der Regierung ist, dass sie die Bewohner nur für ihre Umzugskosten entschädigen, wenn deren Gebiete als offizielle Evakuierungs-Zonen ausgewiesen sind. In einem kürzlich im Sangiin [Oberhaus der japan. Regierung] tagenden Ausschuss sprachen der damalige TEPCO-Präsident Shimizu und Herr Kaieda, Minister für Wirtschaft, Handel und Industrie darüber. Ich fordere Sie dazu auf, diese zwei Dinge sofort zu trennen – Kompensationskriterien-Belange und das Thema Schutz von Kindern.

Ich ersuche Sie nachdrücklich, alles zu tun, was Sie können, um Kinder zu beschützen. Eine andere Sache, von der ich mich überzeugt habe, während ich die Dekontamination in Fukushima durchführe, ist die Tatsache, dass Notfalldekontamination und permanente Dekontamination unterschiedlich behandelt werden sollten.

Wir haben eine Menge Notfalldekontamination durchgeführt. wenn Sie z.B. dieses Diagramm anschauen, werden Sie feststellen, dass das untere Ende dieser Rutsche die Stelle ist, worauf kleine Kinder ihre Hände legen. Jedes Mal, wenn der Regen die Rutsche herunter strömt, akkumuliert mehr radioaktives Material. Gibt es eine Schräglage, kann die Strahlungsdosis zwischen rechts und links unterschiedlich sein. Bei einer solchen Neigung kann die durchschnittliche Strahlung zwar bei 1 Mikrosievert liegen, aber an einer Seite trotzdem 10 Mikrosievert betragen. Benützen Sie einen Hochdruckreiniger, können Sie die Strahlungsdosis von 2 Mikrosievert auf 0,5 Mikrosievert verringern. Wir müssen mehr Notfalldekontaminationen an solchen Stellen durchführen.

Der Boden unter der Dachrinne ist auch eine Stelle, wo Kinder oft mit ihren Händen hinkommen. Benützen Sie einen Hochdruckreiniger, können Sie die Strahlungsdosis von 2 Mikrosievert auf 0,5 Mikrosievert verringern. Trotzdem ist es extrem schwierig, den Wert unter 0,5 Mikrosievert zu bringen, weil alles kontaminiert ist. Gebäude, Bäume, ganze Gegenden. Sie können die Strahlungsdosis einer Stelle verringern, aber es ist sehr schwer, das für eine ganze Gegend zu tun. Außerdem, welche Probleme müssen wir lösen und was wird das kosten, wenn wir ernsthaft dekontaminieren wollen?

Im Fall der „Itai-Itai-Krankheit“, hervorgerufen durch Cadmiumvergiftung [von einer Mine] hat die Regierung bisher 800 Billionen Yen ausgegeben, um die Hälfte der Cadmium-kontaminierten Gegend, die insgesamt etwa 3.000 Hektar groß ist, zu dekontaminieren.

Wie viel Geld wird es kosten, wenn wir eine tausendmal größere Fläche dekontaminieren müssen? Daher möchte ich drei dringende Anträge stellen.

Erstens: Ich beantrage, dass die japanische Regierung als nationale Strategie die Messung der Strahlung von Lebensmitteln, Erdreich und Wasser mittels Japans fortschrittlichster Technologie wie bildgebenden Semikonduktor-Detektoren betreibt. Das liegt absolut im Bereich von Japans derzeitigen technischen Fähigkeiten.

Zweitens: Ich beantrage, dass die Regierung so schnell wie möglich ein neues Gesetz in Kraft setzt, um die Strahlenbelastung von Kindern zu reduzieren. Im Moment ist alles, was ich tue, illegal.

Das jetzige Strahlenschutzgesetz spezifiziert die Menge der Strahlung und die Arten von Radionukleiden, die die einzelnen Institutionen bearbeiten dürfen. Die Universität Tokyo mobilisiert all die Arbeitskraft ihrer 27 Radioisotopen-Zentren, um Minami-Soma City bei der Dekontamination zu helfen. Aber viele der Zentren haben keine Erlaubnis, mit Cäsium zu arbeiten. Es ist illegal, es in Autos zu transportieren. Aber wir können nicht hoch radioaktives Material bei den Müttern und Lehrern dort lassen, also stecken wir alles in Fässer und bringen die mit nach Tokyo zurück. Sie dort in Empfang zu nehmen, ist illegal. Alles ist illegal. Es ist die Schuld des Parlamentes, solche Situationen so zu belassen, wie sie sind. Es gibt viele Institutionen in Japan, z.B. Radioisotopen-Zentren an nationalen Universitäten, die Germanium-Detektoren und andere hochentwickelte Detektoren besitzen. Aber wie können wir als Nation mit aller Kraft unsere Kinder beschützen, wenn die Hände dieser Institutionen gebunden sind? Dies ist das Ergebnis der groben Fahrlässigkeit des Parlamentes.

Drittens: Ich beantrage, dass die Regierung als nationale Strategie die Fähigkeiten des privaten Sektors mobilisiert, um Techniken zur Dekontamination des Erdreiches zu entwickeln.

Es gibt viele Firmen mit Expertise in radiologischer Dekontamination; Chemie- unternehmen wie Toray und Kurita, Dekontaminationsunternehmen wie Chiyoda Technol und Atox, und Baufirmen wie Takenaka Corporation. Bitte mobilisieren Sie deren Kräfte sobald wie möglich, um ein Dekontamination-Forschungszentrum aufzubauen. Es wird zehntrillionfach Yen kosten, die Dekontaminationsarbeiten durchzuführen. Ich bin tief besorgt, dass es hier zu Öffentlichen Arbeiten mit Ausschreibungen, Konzessionen etc. kommt. Wir können uns den Luxus nicht erlauben, eine Sekunde zu verschwenden, wenn wir den finanziellen Zustand der japanischen Regierung bedenken. Wir müssen herausfinden, wie wir tatsächlich dekontaminieren können.

Was in aller Welt treibt das Parlament, während 70.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden und herum irren?

Das ist alles.

Übersetzung aus dem Englischen: 007bratsche

Prof. Tatsuhiko Kodama ist der Leiter des Radioisotopen-Zentrums der Universität Tokyo. Am 27.7.2011 hielt er als Zeuge im Unterhaus der japanischen Regierung diese Rede zur Lage in den von den havarierten Reaktoren in Fukushima betroffenen Gebieten.

Diese Rede gibt es auf dem Blog EX-FSK auf Japanisch, Englisch, Französisch und Deutsch.

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Hommage an Lukanga Mukara

Wie klug Du bist, mein Kind! Du fragst, ob es noch andere Menschen auf der Welt gibt. Was Du noch nicht wissen kannst ist, dass Du eine sehr seltsame Frage stellst. Früher haben wir sie falsch beantwortet und heute tun wir dies nicht mehr, obwohl wir sie immer noch gleich beantworten. Es gibt keine anderen Menschen!

Es gibt ein anderes Dorf mit ein paar Menschen, die Du nicht kennst. Sie sind so wie Du und ich. Es gab mal einen großen Streit und damit wir uns nicht weiter streiten müssen, sind ein paar Leute weg gegangen und haben nicht weit von hier, aber weiter als Du laufen kannst, ein neues Dorf gebaut. Vielleicht haben die sich auch gestritten und es gibt irgendwo noch so ein neues Dorf, das wissen wir nicht. Es gibt aber nur solche Menschen wie wir.

Worüber gestritten wurde, weiß niemand mehr. Das ist schon sehr lange her.

Die anderen Menschen haben wir nie gesehen. Doch es gab mal einen von uns, der ist weit gereist. Der hat sie aber auch nicht gesehen. Er war nur in ihrer Welt, in der er keinen von ihnen traf. Er erzählte, dass alles was er sah, wie für Menschen gemacht war. Ob diese Menschen das alles selber hergestellt hatten, konnte er niemanden fragen. Auch kam es ihm so vor, als ob vieles in Unordnung oder vielleicht sogar kaputt war.

Leider starb er nach seinen langen Erzählungen. Er hatte diese seltene Krankheit, bei der das Blut immer weißer wird und die wir nicht heilen können. Es ist sicher von seiner Reise krank geworden. Deshalb ist es besser, wir bleiben in unserer Welt. Uns geht es doch gut.

Er berichtete von riesigen Dörfern und Hütten, die bis in den Himmel ragten. Es gab sogar Wege in ihnen, über die man hinauf gelangen konnte. Wir können uns sowas gar nicht vorstellen.

Nun fragst Du, ob diese Geschichten überhaupt wahr sind, ob es diese andere Welt gibt und ob dort einmal Menschen gelebt haben. Das wissen wir natürlich nicht, doch wir haben über eine lange Zeit sehr viele Veränderungen hier in unserer Welt beobachtet, die etwas mit diesen Menschen zu tun haben könnten.

Bevor Du geboren wurdest sahen wir öfter riesige Vögel am Himmel. Die flogen höher als alle anderen Vögel und manche zogen langen, weißen Rauch hinter sich her. Sie flogen so, wie der große, weiße Vogel vom Bach dort drüben gerade fliegt. Siehst Du? Er bewegt seine Flügel nicht, er gleitet durch den niederen Himmel, als ob dieser ihn tragen würde. Wie Du siehst, muss er aber ab und zu seine Flügel auf und ab schwingen, während jene großen, schwarzen Vögel dies nie taten. Wir haben ihnen immer hinterher gesehen, solange wir sie sehen konnten. Sie haben ihre Flügel nie geschwungen.

Diese Vögel gibt es schon lange nicht mehr. Sie sind ausgestorben. Unser Reisender erzählte sogar, dass diese Vögel in Wirklichkeit fliegende Hütten dieser Menschen gewesen wären. Kannst Du Dir vielleicht vorstellen, wie Hütten fliegen können?

Über die Jahre hat sich auch der Himmel, in dem diese Vögel zu Hause waren, verändert. Es gab immer mehr Wolken und es regnete zu viel, so dass wir oft nur von den Bäumen und nichts vom Boden zu essen hatten. Das wird jetzt wieder besser.

Unser Reisender hat erzählt, diese Menschen hätten ihre ganze Welt in Besitz genommen. Das hat niemand von uns verstanden. Zum einen wissen wir nicht, wie man so etwas macht und zum anderen wissen wir nicht, wo zu es gut sein soll, wenn jedes Ding uns oder einem von uns gehören würde. Es wäre ja auch nicht gut, weil man dann damit machen könnte, was man will. Vielleicht sind diese Menschen deshalb alle gestorben, weil sie alles was ihnen gehörte so sehr durcheinander gebracht haben, dass kein einziger mehr leben konnte. Du siehst ja, was der Regen macht. Wenn der Regen einem von uns gehören würde, würde es nicht mehr für alle regnen. Vielleicht würde es gar nicht mehr regnen.

Nicht nur diese bewegungslos fliegenden Vögel sind ausgestorben. Früher gab es viel mehr Tiere, nicht nur Vögel oder große, sondern auch ganz kleine im Wasser und unter jedem Stein. Auch das wird jetzt wieder besser.

Einmal sind wir beinahe selber ausgestorben. Damals kam eine große Hummel, die ganz böse brummte. Normale Hummeln tun niemanden was und sind nicht so riesig. Diese Hummel flog fast über unsere Köpfe, wenn keine Bäume dazwischen gewesen wären. Sie pisste auf uns und viele wurden davon krank und starben. Auch die Bäume. Diese Hummel kam aber nur ein Mal. Sie ist längst selber gestorben, weil sie so viel Gift in sich hatte. Um das zu sagen, muss man nichts vom Heilen verstehen.

Unser Reisender hat uns sehr viel erzählt. Das konnte gar nicht alles weitererzählt werden. Es haben ihm zu wenige von uns zugehört, um sich das alles zu merken. Ich war leider nicht dabei, weil ich damals ungefähr so alt wie Du war und man mir das alles nur beigebracht hat, um es weiter zu erzählen. Ich kann Dir aber eine ganz lustige Geschichte erzählen, obwohl die Geschichte unseres Reisenden eher eine traurige Geschichte ist.

Du weißt, wir setzen uns auf große Steine oder auf ein Stück alten Baum. Wir machen diese Stücke sogar hohl, damit sie leichter sind. In fast jeder Hütte gibt es eins davon, weil nicht jeder gerne auf dem Boden sitzt. Besonders wir Ältere nicht.

Unser Reisender sah ganz viele Stücke, die waren schon so ausgehöhlt, dass man von ihren fast nichts mehr sehen konnte. Sie hatten aber die Form eines sitzenden Menschen. Genauer, sie sahen aus, wie der Abdruck eines sitzenden Menschen. Bei manchen war sogar der Platz für die Arschbacken ausgehöhlt. So wie wenn Du Dich mit Deinem Hintern auf den feuchten Sand am Bach setzt. Dann kann man dort eine Zeit lang die Form Deiner Arschbacken sehen. Haha! Unser Reisender hatte zuerst Bedenken, sich auf so ein Stück zu setzen. Er dachte, es müsste sofort zusammenbrechen. Doch irgendwann war er sehr müde und setzte sich. Das Stück hielt. Ein andres zerbrach tatsächlich. Hahaha! Die meisten waren aber sehr stabil, obwohl sie aus fast nichts bestanden.

Wenn diese Geschichte für Dich nicht lustig genug ist, erzähle ich Dir eine andere.

Obwohl nirgends etwas zu essen wuchs, fand er genug zu essen. Es hatte aber immer sehr harte Schalen, die er zerschlagen musste. Die Splitter waren viel schärfen als die Splitter unserer härtesten Steine. Irgendwann fand er heraus, dass die Schalen aus zwei Teilen bestanden und er ein Teil davon nur drehen brauchte. Er konnte sie sogar wieder zu machen. Ist das nicht lustig? – Er meinte, er hätte dort lange leben können. Die Dinge die er sah waren so gemacht, dass man mit ihnen viel einfacher Leben konnte als wir das tun. Doch er spürte, dass er nicht mehr die gleiche Kraft wie zu Beginn seiner Reise hatte. Er ahnte schon, dass er irgendwann sehr krank werden würde. Deshalb kam er zurück, um uns berichten zu können, was er alles gesehen hatte. Menschen hatte er aber keine gesehen. Keinen einzigen, nicht mal einen toten. Doch da in dieser anderen Welt alles für Menschen gemacht war, muss es dort einmal Menschen gegeben haben.

Autor: BrunO für CSN – Chemical Sensitivity Network, 30. Juli 2011

Anregungen für diese Geschichte waren:

Hamburger Klinikum kann ab sofort MCS-Patienten und Umweltkranke aufnehmen

Schadstoffkontrollierte Krankenzimmer

Endlich gibt es in Deutschland ein Krankenhaus, das über speziell eingerichtete schadstoff- und allergenkontrollierte Krankenzimmer verfügt. Jahrelang haben vor allem an MCS Erkrankte um Krankenzimmer gebeten, die den besonderen Bedürfnissen dieser Patientengruppe wenigstens annähernd gerecht werden. Jetzt gibt es drei „Umweltbetten“, für ganz Deutschland. Wenngleich dies zu wenig ist und die Klinik im Norden von Deutschland nicht für jeden der Erkrankten erreichbar, ist es ein großer Fortschritt.

Umweltkontrollierte Krankenzimmer in Hamburger Klinikum

Im März 2011 hatte ein Hamburger Klinikum angekündigt, dass man im fertiggestellten Klinikneubau zwei Krankenzimmer einrichte, die für die besonderen Bedürfnissen von Umweltkranken und Multiallergikern geeignet wären. Bis die Klinik signalisieren konnte, dass die mit viel Sorgfalt ausgebauten Zimmer Patienten aufnehmen können, vergingen weitere vier Monate. Die beiden Umweltkrankenzimmer sind ein Hoffnungsschimmer für Chemikaliensensible aus ganz Deutschland. Leichte bis mittelschwere Fälle können sich in der Hamburger Klinik Operationen, medizinischen Eingriffen und spezieller Diagnostik unterziehen.

Umweltkranke können nun ins Krankenhaus

Seit Mitte Juli 2011 ist das Agaplesion Diakonieklinikum Hamburg (DKH) in der Lage die drei Betten der beiden „Umweltzimmer“ mit MCS-, Umweltpatienten und Multiallergikern belegen zu können. Der Umweltzimmerbereich gehört zur Abteilung der Inneren Medizin in dem seit Februar geöffneten herkömmlich erbauten Regelklinikum mit 360 Betten.

Nähere Einzelheiten:

Hamburger Krankenhaus bietet Zimmer für Patienten mit MCS und Umweltkrankheiten

Kriterien zur Aufnahme im Umwelt-Krankenzimmer

Das DKH ist ein Klinikum, das viele verschiedene Fachbereiche abdeckt und an dem auch Operationen durchgeführt werden. Es handelt sich nicht um eine Umweltklinik und es werden keine umweltmedizinischen Therapien oder Behandlungen durchgeführt, sondern schulmedizinische Interventionen, die auf die jeweilige medizinische Indikation hin ausgerichtet werden. Das Klinikpersonal, mit dem die Umweltpatienten in Kontakt kommen, ist speziell geschult, vermeidet es Duftstoffe zu benutzen und ist bestrebt, den umweltkranken Patienten im Rahmen des Machbaren zu helfen.

Ärztliche Krankenhauseinweisung erforderlich

Zur Aufnahme in den „Umweltzimmern“ benötigt der Patient eine hausärztliche Krankenhauseinweisung. Der Patient oder der einweisende Arzt ruft in der Zentrale des DKH unter Tel: 040-79020-0 an und lässt sich zum Bettenmangement durchstellen. Dort wird der Einweisungsgrund genannt und erklärt, dass ein MCS-, Umweltpatient oder Multiallergiker eine Unterbringung in den „Umweltzimmern“ wünscht. Für die Aufnahme muss der Patient einen ärztlichen Nachweis vorlegen, der ihn als MCS- und Umweltpatient/Multiallergiker ausweist, z. B. ein MCS-Pass oder ärztlicher Befund. In den „Umweltzimmern“ sollen nur Patienten mit umweltbezogenen Erkrankungen als Nebendiagnose aufgenommen werden.

Belegung der Umwelt-Krankenzimmer

Da das DKH mit der Versorgung von MCS-, Umweltpatienten und Multiallergikern Neuland betritt, sollten gerade die Patienten der ersten Wochen dies bedenken, falls am Anfang nicht gleich alles reibungslos funktioniert. Um diese Anfangsphase so unproblematisch wie möglich zu gestalten, ist höchste Kooperation von allen Beteiligten gefragt. Die Hamburger SHG MCS & CFS hält es von daher auch in der Anfangsphase für sinnvoll, wenn nicht die empfindlichsten MCS-Patienten als erstes aufgenommen werden, so lange bis Erfahrungsberichte vorliegen. Diese Vorgehensweise ermöglicht, dass unvorhersehbare Probleme beseitigt werden können. Die Mitarbeiter des DKH sind motiviert, den Umweltpatienten den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten und bitten ausdrücklich um Anregungen und Verbesserungsvorschläge.

Umweltbetten müssen ausgelastet sein

Der Erfolg des Projektes hängt u.a. von der Belegung der Betten ab. Die Hamburger SHG für MCS & CFS teilt deshalb mit, dass für ein dauerhaftes Belegen der Betten mit Umweltpatienten eine ausreichende Nachfrage notwendig ist. Selbsthilfegruppen für MCS und CFS Kranke, Organisationen für Allergiker und Ärzteverbände sind daher aufgerufen ihre Mitgliedern über die Hamburger Umweltzimmer im Agaplesion Diakonieklinikum und die medizinischen Möglichkeiten des Klinikums zu informieren.

Selbsthilfegruppe unterstützt bei Fragen

Die Hamburger SHG Umweltkrankheiten MCS & CFS bietet an, Fragen zu den „Umweltzimmern“ von akut krankenhausbedürftigen MCS- und Umweltpatienten/ Multiallergikern oder bereits aufgenommener Patienten zu beantworten. Es sei darauf hingewiesen, dass die Organisatoren der Selbsthilfegruppe ebenfalls erkrankt sind und aufgrund der eigenen begrenzten Leistungsfähigkeit Anfragen vornehmlich unter der Faxnummer 040-63975226 oder per E-Mail unter shg-umweltkrankheiten-hh@gmx.de entgegennehmen. In sehr dringenden Fällen kann die Selbsthilfegruppe auch telefonisch unter 040-6300936 erreicht werden.

Kooperativ dem Pilotprojekt zum Erfolg verhelfen

Die Hamburger Umwelt-Krankenzimmer sind die Ersten ihrer Art in Deutschland, das bedeutet, in der Anlaufphase ist höchste Kooperation eines der wichtigsten Kriterien um dem Pilotprojekt zum Erfolg zu verhelfen. Die SHG Umweltkrankheiten MCS & CFS – Hamburg ist sehr auf die Erfahrungen von Patienten der „Umweltzimmer“ angewiesen, um deren Verbesserungsvorschläge und Eindrücke mit dem DKH zu besprechen und bittet nach dem Aufenthalt in den „Umweltzimmern“ um Rückmeldung. Konstruktives Feedback von Patientenseite wird mithelfen, dass dieses Projekt für Umweltkranken aus ganz Deutschland im Falle der Notwendigkeit eines Krankenhausaufenthaltes eine Perspektive wird.

Patienteninformation: Patienteninfo für MCS- und Umweltkranke / Multiallergiker

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 23.07.2011

Literatur:

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Jungem Mann mit MCS wurde Rente gewährt

Volle Rentenleistungen aus der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung (BUZ) und der gesetzlichen Rentenversicherung bei MCS?

RA Dr. jur. Burkhard Tamm, Fachanwalt für MedizinrechtRegelmäßig ist es für an MCS erkrankte Patienten schwierig, gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Bund erfolgreich Ansprüche auf Rentenleistungen wegen voller Erwerbsminderung durchzusetzen. Dasselbe gilt für Rentenleistungen aus einer privaten Berufsunfähig- keitsversicherung. Oft ist es erforderlich, zur Durchsetzung dieser Ansprüche den Rechtsweg zu beschreiten und dauert es Jahre, bis die Rente endlich fließt, eine von vielen Betroffenen gemachte leidvolle Erfahrung.

RA Dr. Burkhard Tamm: Ich möchte deshalb heute über einen Fall berichten, in dem es mir vor kurzem gelungen ist, Rentenansprüche meines an MCS erkrankten, noch sehr jungen Mandanten sowohl gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund als auch gegen die private Berufsunfähig- keitsversicherung mit Erfolg durchzusetzen, ohne dass es dafür eines Widerspruchs oder gar einer Klage bedurft hätte.

Alles begann damit, dass mein Mandant auf Veranlassung seiner Krankenkasse bei der Deutschen Rentenversicherung Bund einen Antrag auf Rehabilitationsleistungen gestellt hatte. Aufgrund der Besonderheiten der bei ihm vorliegenden Erkrankung MCS war mein Mandant dabei von vornherein der Ansicht, dass eine Rehabilitation wenig sinnvoll, weil letztlich nicht möglich sei, weil es in ganz Deutschland keine auf MCS spezialisierte Klinik gebe.

Auch der von der Deutschen Rentenversicherung beauftragte Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass im Falle meines Mandanten eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme weder sinnvoll noch Erfolg versprechend sei, woraufhin die Deutsche Rentenversicherung den Reha-Antrag meines Mandanten ablehnte. Von diesem wurde das Gutachten zunächst recht negativ aufgenommen, letztlich jedoch nicht wegen des Ergebnisses, das letztlich zur Ablehnung einer Reha-Maßnahme führte, sondern aufgrund des Ablaufs der Begutachtung und einiger inhaltlicher Feststellungen.

Ich teilte meinem Mandanten dann mit, dass meine Einschätzung in Bezug auf das Gutachten eine andere sei, denn zum einen hatte der Gutachter festgestellt, dass bei meinem Mandanten zweifellos ein Krankheitsbild vorlag, das erheblichen Krankheitswert hatte, auch wenn „keinerlei objektivierbarer Krankheitsbefund vorliege“ (!). Zudem stellte der Gutachter fest, dass bei meinem Mandanten nur noch ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden täglich auf dem gesamten Arbeitsmarkt vorliegt und es äußerst fraglich ist, ob noch jemals eine Besserung eintreten könne, wenngleich mein Mandant erst 28 Jahre alt ist.

Diese Feststellungen des Gutachters nahm ich zum Anlass, meinem Mandanten dringend anzuraten, einen Rentenantrag zu stellen und Leistungen wegen voller Erwerbsminderung zu beantragen. Gestützt auf das im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung erstellte Gutachten gelang es mir in der Folge dann, innerhalb von nur rund vier Monaten die Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu erreichen.

Mein Mandant hatte mich jedoch von Anfang an nicht nur im Zusammenhang mit seinem Reha-Antrag beauftragt, sondern gleichzeitig auch damit, seinen Rentenantrag gegenüber seiner privaten Berufsunfähigkeitsversicherung vorab zu prüfen und vorzubereiten und erst dann bei der Versicherung einzureichen wenn er aus meiner Sicht ausreichend gut vorbereitet ist. Da sich mein Mandant bereits zu diesem frühen Zeitpunkt – d.h. vor Antragstellung – an mich gewandt hatte, war es mir möglich, seinen Antrag sorgfältig vorzubereiten und insbesondere das im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung erstellte Gutachten, dessen Fertigstellung ich zunächst abgewartet hatte, zur Stützung seiner Ansprüche bei der Versicherung mit einzureichen.

Auf diese Weise gelang es mir auch gegenüber der privaten Berufsunfähig- keitsversicherung meines Mandanten, erfolgreich und rückwirkend ab Januar 2009 Rentenleistungen durchzusetzen. Auch hier lag zwischen der Einreichung des vollständigen Antrags (26.01.2011) und dem Anerkenntnis des Bestehens eines Anspruchs durch die Versicherung (1.6.2011) nur ein sehr kurzer Zeitraum.

Fazit:

  1. Die Darstellung sollte zunächst zeigen, dass es durchaus auch Fälle gibt, in denen Rentenansprüche wegen MCS ohne ein langwieriges Widerspruchsverfahren oder gar eine Klage durchgesetzt werden können, wenngleich solche Fälle sicherlich selten sind.
  2. Liegt ein ablehnender Bescheid der Rentenversicherung vor, dann sollte ein auf den Bereich der Erwerbsminderungsrenten spezialisierter Rechtsanwalt aufgesucht werden, der nach Gewährung von Akteneinsicht überprüft, ob es Ansatzpunkte für die Durchsetzung von Ansprüchen gibt und ggf. welche. Der von mir geschilderte Fall soll zeigen, dass ein im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung erstelltes Sachverständigengutachten und der darauf beruhende ablehnende Bescheid nicht unbedingt so negativ zu bewerten sein müssen, wie dies dem Mandanten zunächst scheint.
  3. Vor allem dann, wenn es um die Durchsetzung von Ansprüchen aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung geht, ist es ratsam, bereits möglichst frühzeitig den Rat eines auf diesen Bereich spezialisierten Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen, damit dieser den auf die Gewährung von Rentenleistungen gerichteten Antrag sorgfältig vorbereiten und erst dann bei der Versicherung einreichen kann.

Autor und Ansprechpartner:

RA Dr. jur. Burkhard Tamm, Fachanwalt für Medizinrecht, Würzburg, 01.07.2011

Kontakt:

RA Dr. jur. Burkhard Tamm

Weitere Schwerpunkte: VersicherungsR – LebensmittelR

Dr. Tamm & Degelmann, Fachanwälte in Bürogemeinschaft.

Augustinerstr. 6, 97070 Würzburg, Tel. 0931 – 32 98 72 90

Internet: www.tamm-law.de und E-Mail: drtamm @ tamm-law.de

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Verflucht, ich akzeptiere nicht, dass mein Leben gelaufen ist!

Lasst mich doch leben!

Patrick ist 19, auf dem Kleiderschrank liegt seine American Football-Ausrüstung, in der Ecke seines Zimmers steht seine E-Gitarre und auf dem Regal liegen die genialen Texte, die er schrieb. Seine Songs haben Aussage, keine abgewandelten, banalen Coverversionen von irgendwelchen abgedroschenen Songs, die irgendwann in den Charts oben waren. Nix da, Patricks Musik geht zur Sache und lässt unmissverständlich durchblicken, dass der Songschreiber kein Weichei ist, sondern selbstbewusst und dass er etwas auf dem Kasten hat. Als Patrick die Songs und die Musik dazu niederschrieb, ging er aufs Gymnasium, was kein Problem darstellte, weil ihm die Lehrinhalte eher zufielen. Ein Klacks und schließlich gibt es auch noch ein Leben neben der Schule. Seine Kumpels waren genauso drauf. Das Leben ist da, um gelebt zu werden! War da um gelebt zu werden, denn die American Football-Ausrüstung, die Gitarre, die angefangenen CD-Aufnahmen und die Songbücher im Regal sind unübersehbar angestaubt.

Das war mal

Wenn Patrick in seinem Zimmer auf dem Bett liegt, kommt es ihm vor, als sei es vor Jahrzehnten gewesen, als er das letzte Mal mit den Kumpels aus seiner Band auf der Bühne stand. Manchmal hat er noch diese Flashes, er sieht die Gesichter der Mädels vor der Bühne, glühend, ehrfürchtig hochschauend und von ihrer verdammt guten Musik ergriffen. Wenn diese Flashes kommen, dreht Patrick sich um, er will sich nicht mehr an das, was war, an das Leben erinnern, ohne augenblicklich wieder so leben zu können. Am liebsten würde Patrick dann schreien, richtig laut schreien, damit alle es hören können:

„Mein Körper und meine Schmerzen halten mich gefangen, lassen nicht zu, das ich so leben kann wie die anderen. Ein kaputter Körper macht mich zum Krüppel. Er zwingt mich, immer wieder Dinge nicht zu tun, die ich gerne tun möchte. Aber ich will leben.“

Ursachen und Auswirkungen

Patrick ist durch Chemikalien erkrankt und sein Körper hat eine extreme Form von Chemikalien-Sensitivität (MCS) entwickelt. Manche Chemikalien sind dazu imstande, den Körper zu sensibilisieren. In der Medizin ist dies von einigen Chemikalien gut bekannt, Formaldehyd, Isocyanate und auch einige Pestizide sind dazu in der Lage. Was bei Patrick alles eine Rolle spielte, dass er jetzt so da hängt, weiß man nicht, aber man kann es erahnen. Sein Vater war Chemiker und hatte 30 Jahre mit Chemikalien Kontakt, die in der Lage sind, Gene zu schädigen. Was bei jahrelanger Arbeit aufsummiert und welchen Effekt die zahllosen, oft nicht gerade harmlosen Chemiecocktails hatten, denen Patricks Vater ausgesetzt war, das vermag niemand präzise zu definieren. Fakt ist, dass der Vater von Patrick wegen toxisch bedingter Gesundheitsschäden nicht mehr arbeiten kann und schwer krank ist. Dann ist da das Haus, in dem sie leben. Siebenmal hatten sie Hochwasser. Der Schimmel an den Wänden wurde großflächig mit Chlor abgewaschen. Eine hochgiftige Chemikalie. Von den Holzschutzmitteln im Haus ganz abgesehen, auch sie hatten mit Gewissheit Part am Zustand, in dem Patrick sich jetzt befindet.

Andere haben wenigstens gelebt

Das Durchschnittsalter bei Menschen, die chemikaliensensibel sind, liegt bei 35-45 Jahren gemäß Studien. Es gibt auch Erkrankte, die wesentlich älter sind und welche, die noch Kleinkind sind, aber die Mehrzahl der Erkrankten hatte ein Leben vor MCS. Bei Patrick ist es anders:

„Entschuldigt, ich will keinem weh tun, aber die anderen MCS-Kranken durften ihr Leben vorher leben (Jugend, Schule, Ausbildung, Reisen, Freunde, Partnerschaft etc.) und erleben, aber mir ist alles von Anfang an verwehrt. Die schönste Zeit des Lebens, meine Jugend ist mir nicht vergönnt, im Gegenteil, ich gehe durch die Hölle, aber das interessiert niemanden, weil man mir nicht glaubt.

Ciao Buddy

Nachdem Patrick völlig zusammenbrach, war das Mitgefühl der Kumpels und Mitschüler erst groß. Sie kamen ihn auch besuchen und versorgten ihn mit Infos aus der Schule. Das gab ihm die Möglichkeit, seine Schule eine Zeitlang weiterzumachen. Als das nicht mehr ging, versuchte er es über die Fernschule per Internet. War, denn auch das ist vorbei. Es kommt keiner mehr, es ruft auch keiner mehr an. Wenn Patrick ganz kurz keine dieser unerträglichen Schmerzen hat, dann realisiert er, dass er für die anderen, bis auf zwei, so eingestaubt ist wie seine Gitarre ist. Auch für seine damalige Freundin, mit der er ein Leben aufbauen wollte. Sie lebt ihr Leben ohne ihn, mit wem auch immer. Dieses Realisieren schmerzt auf einer anderen Ebene als die unerträglichen körperlichen Schmerzen und Patrick ist wütend deswegen:

„Ich lasse nicht zu, es kann und darf nicht sein, dass ich da draußen vergessen werde, nicht existiere. Es darf nicht sein, das mein Kampf umsonst ist.“

„All das, was ich erreicht habe, lasse ich mir nicht zerstören.“

„Ich habe mich damit abgefunden, dass ich wohl immer allein bleiben und leben werde. Für diese Art Erkrankung zeigt niemand Verständnis, im Gegenteil, man wird umgehend ausgegrenzt. Wie bitteschön soll ich da jemanden kennenlernen, die es wirklich ernst meint? Welches Mädchen, welche junge Frau ist bereit solch ein Opfer zu bringen und wie soll ich sie finden, wenn ich ein Leben in der Isolation leben muss? Vergiss es. Dies gilt auch für andere Freundschaften.“

„Obwohl ich immer wieder bei verschiedenen Personen, die mir früher hinsichtlich Freundschaft was bedeutet haben, nachhakte. Bis auf zwei Freunde ist keiner mehr übrig – ich habe immer alles gegeben und nun… einfach fallengelassen, da man ja nicht mithalten kann und all das andere denen zu nervig und zu kompliziert erscheint.“

Wenigstens mal raus gehen

Bei allem Unglück verloren Patrick und seine Eltern auch noch ihre treueste Weggefährtin. Patricks Mutter hat einen neuen Hund angeschafft, damit ihr Sohn etwas Leben im Haus hat und Trost durch das liebe Tier findet. Die Entscheidung war gut, denn der Hund liebt Patrick sehr und er ihn:

„So gerne würde ich mal für ein paar Stunden einfach nur in die Natur, mit unserem Hund zum Training oder einfach nur mit ihm richtig spielen, noch nicht einmal das ist mir vergönnt.“

Oder einfach in die Saiten hauen und den Frust raus lassen

Wenn Patrick früher einmal Frust hatte, dann war das nicht zu überhören. Er griff seine Gitarre und ließ bildlich gesehen die Fetzen fliegen und sang, dass die Wände bebten. Das kam nicht oft vor, aber wenn, dann wusste jeder im Haus nach zwei Minuten Bescheid. Musik ist eben Leben und sich ausdrücken, raus lassen was auf der Seele drückt. Aber selbst dass, den Frust, die Wut und die Enttäuschung raus lassen, ist für Patrick nicht möglich:

„Gitarre spielen und Singen bedeutet mir so viel, aber auch das lässt mein verfluchter Körper nicht zu. Die Muskelschwäche und Schmerzen bremsen mich immer wieder aus. Vom Sport ganz zu schweigen – Mein Traum vom American Football ist vorbei.“

MCS bedeutet im schwersten Stadium ein „Leben“ in völlige Isolation

Patrick gehört zu den MCS Kranken, denen ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände nicht möglich ist. Nicht zu verwechseln, dass diese Menschen nicht unter anderen sein wollen, im Gegenteil der Wunsch und Drang mit anderen etwas zu unternehmen besteht jeden Tag rund um die Uhr. Es ist kein psychisches Problem oder Menschenscheu, der Körper geht auf die Barrikaden, wenn er Chemikalien ausgesetzt ist und das ist man, wenn man seine vier Wände verlässt, zwangsläufig. Autoabgase, Heizungsabgase, parfümierte Mitmenschen, Häuser, aus denen der Weichspülermief wabert. Alles Chemiecocktails, die einem schwer chemikaliensensiblen Menschen kaum eine Chance lassen, sich länger darin zu bewegen.

Extreme Schmerzen, Krampfanfälle, Atembeschwerden, Kollaps, Bewusstlosigkeit, dass kann ein kurzer Kontakt mit der Außenwelt zur Folge haben. Gleiches gilt für Besuch. Kommt jemand zu Besuch, kann die Freude darüber bei jemandem, der so schwer wie Patrick betroffen ist, schnell in ein Desaster münden. Das Deo nicht weggelassen oder Rückstände aus der chemischen Reinigung in der Jacke, Weichspüler, der nicht raus zu waschen war und Dinge die der Besuch selbst nicht wahrnahm. Völliger Schwachsinn? Mitnichten, wer sich die Mühe macht und die Inhaltsstoffe solcher „Alltagsprodukte“ anschaut, ist im Stande, den Umkehrschluss zu ziehen und erkennt, dass die Reaktionen eine nachvollziehbare Konsequenz darstellen bei einem Menschen, dessen Körper hypersensibilisiert ist. Aber wer macht sich diese Mühe? Nicht einmal die meisten Ärzte. Teils aus Unkenntnis, weil sie nie etwas von der Erkrankung gehört haben, teils aus Ignoranz und schlichtem Zeitmangel. Und wenn Ärzte sich nicht schlaumachen und die Krankheit aus Bequemlichkeit als Marotte deklarieren, wie sollen ganz normale Mitmenschen sie dann verstehen?

Patricks Meinung über MCS:

„MCS ist die schlimmste Krankheit, die es gibt, manchmal wünsche ich mir, ich wäre querschnittsgelähmt. Ich weiß das klingt hart, aber da wäre ich nicht so isoliert, alleingelassen, unglaubwürdig und hätte keine Schmerzen. Ich könnte trotz diesem Handikap fast überall hin, reisen, Konzerte besuchen, Freunde treffen, meine Ausbildung evtl. machen und, und, und.“

Die ganze Familie ruiniert

Patricks Eltern sind bereit, alles für ihren Sohn zu tun, damit er sein Leben zurückbekommt. Aber MCS ist zu komplex, dass man die Krankheit mit Schulmedizin und ein paar Naturheilmitteln, etc. bekämpfen kann. Es muss als Erstes ein cleanes Wohnumfeld her. Patrick, als auch sein Vater, bräuchten Wohnraum, der so weitgehend wie möglich chemie- und schimmelfrei ist. Aber wie realisiert man das? Das Haus, in dem sie ihre Wohnung haben, gehört den Großeltern, wegen der Erkrankung von Patricks Vater ist finanziell kein Sprung mehr zu machen.

Hilfe durch Behörden? Nein

Eigentlich wäre Patrick ein Fall für die Behörden, um Hilfe zu erhalten. Aber weil er keinen Schulabschluss hat, gibt es auch keine finanzielle Unterstützung, keine Grundsicherung; das ist für den jungen Mann entwürdigend. Seine Mutter sagt:

„Wir kriegen von nirgendwoher Hilfe, ganz im Gegenteil. Wir werden schikaniert von den Behörden und man stellt Forderungen an Patrick, die er nicht erfüllen kann. Jeder, der bis drei zählen kann, muss das einsehen. Aber niemand macht sich die Mühe, das Elend anzuschauen, stattdessen bekommt man Beschlüsse, die jeglicher Menschlichkeit entbehren. Ja, und quasi existiert Patrick nur auf dem Ausweis. Die Krankheit meiner beiden Männer hat uns ruiniert und die, die es wissen und ändern könnten, schauen einfach zu!“

„Viele fragen mich, wie kann das gehen, diese totale Isolation seit über 2 Jahren. Sie sagen zu mir: „da würde ich verrückt,…. also ich würde durchdrehen,…das stelle ich mir schlimm vor, und, und…“ Sie fragen auch: „Woher nimmt Patrick, woher nehmt ihr die Kraft?“

Die Antwort von Patricks Mutter: „Man kann so leben, Ihr seht es ja an Patrick und an uns. Irgendwie sind wir wohl Kämpfernaturen und was wollen wir tun außer tapfer und mutig zu sein und einen starken Willen zum überleben hochzuhalten? Der Kampf um die Gerechtigkeit macht einen zusätzlich stark.“ Das ist, was Patricks Mutter nach außen sagt, aber in ihrem Inneren denkt sie oft, wie lange spielt der Körper, sprich, der Herzmuskel da noch mit? Jeden Tag steht sie rund um die Uhr ihren „Mann“. Jeder Tag ist eigentlich ein Überlebenskampf. Für Patrick, als auch für seinen Vater.

Wunsch: Eine menschliche Entscheidung

Das, was Patrick und seine Eltern seit März 2009 zuteilwurde, ist erschütternd. Seine Eltern hatten mit ihm zusammen einen Antrag zur Feststellung seines Behinderungsgrades gestellt. Jetzt soll ein Gerichtsbeschluss dazu führen, dass der 19 -jährige Mann, der den ganzen Tag unter unerträglichen Schmerzen und Reaktionen leidet, in ein chemikaliengeschwängertes Krankenhaus soll. Man sei dort auf Notfälle eingerichtet.

  • Was, wenn er dort, wie vom Medizinischen her zu erwarten, völlig kollabiert? Wer trägt dann dafür die Verantwortung?
  • Wer zahlt den Aufenthalt in einer Umweltklinik im Ausland, weil es in Deutschland keine gibt?
  • Kann man ihn mit Reanimierung und dem normalen Notfallprocedere wieder auf die Beine stellen?
  • Was, wenn nicht?

In Deutschland gibt es bekanntermaßen keine einzige Klinik, die Umweltbedingungen vorweisen kann, die einem schwer Chemikaliensensiblen auch nur annähernd entgegenkämen.

Bisher statt Hilfe nur Kosten verursacht

Der Verwaltungsaufwand, der bislang betrieben wurde, um Patrick, einem 19-Jahrigen mit ungebrochenem Lebenswillen, jegliche Hilfe zu verweigern, hat jetzt schon Unsummen gekostet. Rechtmäßig besteht die Möglichkeit Schwerkranke, die das Haus nicht verlassen können, in den eigenen vier Wänden zu begutachten. Für Patrick wäre es ein Akt von Menschlichkeit, dies zuzulassen. Damit wäre das untragbare Risiko für den jungen Mann, der nichts weiter möchte als dass seine Behinderung festgestellt wird, genommen. Seine Behinderung und seine Erkrankung ist feststellbar und nirgendwo besser als in seinem eigenen Zuhause, wo jeder sich mit eigenen Augen überzeugen kann, was die Krankheit vom Erkrankten und seiner Familie abfordert.

Autoren: Silvia K. Müller und Kira, CSN – Chemical Sensitivity Network, 9. Juli 2011

Anm.: Patricks Unterlagen liegen CSN vollständig vor.

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Das Bewusstsein zur Erfassung der Wichtigkeit von unbelasteter Nahrung, schadstofffreien Produkten im Alltag und gesunder Wohnumgebung und unbelasteter Umwelt wächst weltweit. Besonders bemerkenswert sind Bestrebungen, die in jüngster Zeit in Norwegen zu beobachten sind. In diesem skandinavischen Land bemüht man sich, insbesondere Kinder besser vor Schadstoffen und Allergenen zu schützen. Einer der aktivsten Wegbereiter ist Kjell Aas, ein Professor im Ruhestand, der den norwegischen Allergie- und Asthma Verband mit seinem profunden Wissen unterstützt. Der Wissenschaftler ist bestrebt, Unwissenheit über Umwelt- und schadstoffbedingte Krankheiten aus dem Weg zu räumen. Auf allgemein verständliche Weise klärt er Behörden und die Bevölkerung auf.

Umweltkrankheiten sind kein Mysterium, sondern wissenschaftlich erklärbar

Für viele Mitmenschen ist es immer noch schwierig zu verstehen, dass verschmutzte Luft auch gesundheitliche Beschwerden und Symptome außerhalb der Atemwege verursachen kann. Die Forschung hat uns zwar bis heute nur bruchstückhafte Erklärungen geliefert, aber es gibt einige völlig nachvollziehbare Erklärungsmodelle und solide wissenschaftliche Erkenntnisse, denen Kjell Aas zu Allgemeinwissen verhelfen möchte.

Der Wissenschaftler Kjell Aas erläutert: „Die medizinische Wissenschaft hat es noch nicht geschafft, alle biochemischen Mechanismen hinter einer Krankheit zu erforschen. Das gilt ebenfalls für die sogenannten Umweltkrankheiten, z. B. Hyperaktivität, Migräne, Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS). Was aber auf keinem Fall bedeutet, dass diese Umweltkrankheiten etwas Geheimnisvolles oder Unerklärbares sind oder gar, dass sie psychisch bedingt sind. Das kann durch eine oder mehrere biochemische Reaktionen erklärt werden. Sowohl die körperlichen als auch geistigen Funktionen und Tätigkeiten werden durch mehr oder weniger komplexe chemische Prozesse geregelt, deren Reaktionen abhängig von der Dosis und individuellen Toleranzschwellen sind.

Individuelle Biochemie gibt den Takt vor

Vom wissenschaftlichen Aspekt her, sagt Kjell Aas, müsse man verinnerlichen, dass unsere interne Biochemie sich auf die reibungslose Funktion einer Vielzahl von Zellen mit spezifischen betreibenden Rezeptoren und Signalanlagen, Tausenden von Enzymen und Co-Enzymen stützt. In diesen biochemischen Prozessen können hemmende und stimulierende Mechanismen und integrierte „Verstärker-Systeme“ zu erheblicher Wirkungsverstärkung führen.

Kjell Aas erklärt es für medizinische Laien so: „Jeder Mensch ist individuell und jeder von uns besitzt seine eigene individuelle Biochemie. Ein paar Milligramm Kokain können die Persönlichkeit und das emotionales Leben ändern“, sagt der Wissenschaftler und führt fort: „oder man denke an Alkohol, er kann die gleiche Wirkung haben, aber wie jeder weiß, ist die Toleranzschwelle bei jedem individuell verschieden.“

Die Luft, die wir tagtäglich atmen

Der Wissenschaftler erinnert in seinen veranschaulichenden Ausführungen daran, dass Erwachsene 12 bis 15 kg Luft pro Tag verbrauchen und dass die Luft, die wir einatmen, gasförmige Chemikalien in mehr oder weniger hoher Konzentration enthält. Einige dieser Gase verbinden sich mit anderen, wodurch sie schädlicher werden. Dazu gehören Ozon und weitere Gase, die zu Oxidationsprozessen führen.

Darüber hinaus enthält die Luft, die wir tagtäglich ohne Unterlass einatmen, Partikel. Wir atmen jede Stunde des Tages Millionen von Feinstoffpartikeln ein. Dazu gehören chemische Substanzen, die mit dem Feinstaub in der Lage sind, unsere Atemwege so leicht wie Gase zu passieren und vollständig in Blut, Lymphe und Gewebeflüssigkeit überzugehen, gibt der Wissenschaftler zu bedenken.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Besonderes Augenmerk möchte Kjell Aas auf Kinder richten und die derzeitigen Gegebenheiten für sie verbessern. Er begründet dies damit, dass Kinder ganz wenig vertragen und schnell krank werden können von Chemikalien. „Wir haben in unserem Körper verschiedene Zellen, erläutert der Wissenschaftler, „ welche alle auf chemischen Stoffen basieren, deshalb muss die Chemie stimmen, damit die Zellen richtig funktionieren und der Körper nicht krank wird.“

Der Norweger vertieft seine Erklärung und sagt: „Wenn ein unerwünschter chemischer Stoff eingeatmet wird, kommt das chemische Gleichgewicht und damit die Zellen durcheinander und wir werden krank. Die Zellen werden von diesen unerwünschten Chemikalien blockiert und können wichtige Botenstoffe nicht aussenden, die für unsere Gesundheit aber wichtig sind“.

Wer genauer über diese Aussagen von Kjell Aas nachzudenken beginnt, dem wird bewusst, dass wir als Konsequenz Kinder, deren Körper sich noch in Aufbau und Entwicklung befindet, besonders schützen müssen. Genau dieses Verständnis ist es, dass Kjell Aas in uns allen wecken möchte und dass wir alle beginnen entsprechend zu handeln. Der Norweger fordert daher abschließend, dass wir uns nachfolgenden wichtigen Aspekt wirklich verinnerlichen sollten:

„Die Luft in Räumen, die für Kinder akzeptabel ist, ist es auch für Erwachsene, aber eine Raumluft die für Erwachsene akzeptabel ist, kann Kinder schon krank machen.“

Autoren:

  • Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 1. Juli, 2011
  • Alena Jula, Just Nature, Norwegen

Literatur: Kjell Aas, Inneklima, Norwegen, Frühjahr 2011

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