Umweltkranke: Jetzt glauben sie mir endlich!

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Es ist erschütternd wie sehr Chemikaliensensible und Umweltkranke darunter leiden müssen, wie mit ihnen umgegangen wird. Höhnische Bemerkungen, Belächeln oder direktes Anzweifeln der Existenz ihrer Krankheit, ist für viele Erkrankten der traurige Alltag. Wenn ich mit Umweltkranken am Telefon spreche, berichtet man mir von ungerechter Behandlung, Schikanen und direkter Diskriminierung.

Chemikaliensensible leiden oft sogar mehr darunter, als unter ihren zweifelsfrei vorhandenen Schmerzen und körperlichen Einschränkungen im Alltag. Muss das sein? Tritt jemand einem Gelähmten gegen den Rollstuhl? Oder nimmt jemand einem Blinden den Stock weg? Niemals, wer es wagen würde, den würde die Gesellschaft ächten.

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, an einen Abend in meinem damaligen Arbeitskreis Giftgeschädigter in Trier. Ein Ehepaar, das fast jedes Mal extra aus dem Saarland angereist kam, wollte mich beim Rausgehen sprechen. Der Mann war Schreiner gewesen und konnte kaum noch außer Haus körperlich funktionieren. Er reagierte aufgrund seiner Formaldehydsensibilität auf fast alles. „Ich muss Dir etwas sagen Silvia“, sagte er mit fester Stimme, „bei mir haben sie jetzt Krebs festgestellt.“ Ich war wie erschlagen und wusste vor Betroffenheit nicht recht was ich sagen sollte. „Das tut mir furchtbar Leid“, mehr kam nicht aus mir heraus, weil ich die beiden so sehr mochte. „Nein, Silvia, es ist in Ordnung, ich bin froh darüber, denn jetzt müssen sie mir endlich glauben.“

Diese Begebenheit habe ich einige Male an medizinischen Kongressen berichtet, um die Situation von Chemikaliensensiblen zu verdeutlichen. Die Ärzte reagierten erschüttert und brachten kein Wort hervor. Eigentlich kann man dazu kaum noch etwas sagen, so ungeheuerlich ist es, dass ein schwer kranker Mensch in unserer Gesellschaft froh ist, dass er schlussendlich zu allem noch Krebs bekommen hat – damit ihm endlich geglaubt wird.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, März 2008

19 Kommentare zu “Umweltkranke: Jetzt glauben sie mir endlich!”

  1. Clarissa 20. März 2008 um 07:45

    Oh man, das hat mir mächtig weh getan. Das ist ja wohl das härteste was ich bisher gelesen habe außer den Suiziden die einige von uns als letzten Ausweg sahen – und die werden dann im nach hinein als physisch gestört eingestuft.

  2. Henriette 21. März 2008 um 00:40

    Es ist traurig und kaum in Worte zu fassen. Muss es wirklich so weit kommen?

    Warum läuft für Chemikaliensensible alles so gewaltig daneben?

    Warum müssen Chemikaliensensible ein solches Leben führen?

    Die Verantwortlichen für diese Zustände müssen endlich aufwachen. Für was haben wir in Deutschland einen Gesundheitsminister?

    Bei Krankheiten wie MCS glänzt Herr Seehofer durch Untätigkeit. Es liegt in seinem Verantwortungsbereich dafür Sorge zu tragen, dass existierende Krankheiten wie z. B. MCS und andere Umwelterkrankungen, nicht länger ein solches Schattendasein führen, mit all den schwerwiegenden Konsequenzen für die Betroffenen. Denn obwohl MCS im Schwerbehindertenrecht ganz klar als organische Krankheit klassifiziert ist, erleben MCS-Patienten in ihrem Alltag eine ganz andere „Wahrheit“.

    Es ist skandalös und eine Schande. Handeln ist hier dringend erforderlich, anstatt bei diesem überaus wichtigen Gesundheitsthema durch Untätigkeit aufzufallen.

  3. Mary-Lou 22. März 2008 um 10:49

    Es ist ein Armutszeugnis für das deutsche Gesundheitswesen und die Verantwortlichen versagen völlig. Auf der einen Seite soll man Vorsorgeuntgersuchungen wahrnehmen, andererseits wird von uns MCS-Patienten keinerlei Notiz genommen bzw. man steckt uns systematisch in die Psycho-Schublade. Anstatt den Karren ins Rollen zu bringen, wird er ständig ausgebremst und wir werden belächelt.

    Herr Seehofer beschäftigt sich lieber mit der lukrativen Gentechnik, mit MCS-Kranken kann man ja keinen Cent verdienen, die kosten nur – Monsanto lässt grüssen.

  4. Janik 23. März 2008 um 08:47

    Schockierend! Da ist ein rechtschaffener Mensch, der sein ganzes Leben lang seine Arbeit ordentlich verrichtet hat und wenn er krank ist, wird er abgestempelt und als Simulant dargestellt.

    Wem nutzen solche Abwertungen von rechtschaffenen Menschen, außer den Verursachern und Versicherungen? Keinem, das sollte die Gesellschaft erkennen und weitere Integration der Opfer von Berufskrankheiten und durch Schadstoffe Erkrankten fordern und betreiben, statt in den gleichen Tenor mit den Verursachern zu fallen.

  5. Spider 24. März 2008 um 00:30

    Heute habe ich meinem Besuch von dem Blog erzählt, dass Chemikaliensensible schon soweit gekommen sind, dass sich MCS-Betroffene hierzulande freuen, dass sie an Krebs erkrankt sind, damit ihnen endlich geglaubt wird. Mein Besuch war sehr betroffen und meinte, das ist doch kaum vorstellbar. Aber leider ist es die traurige Wahrheit.

    Wie mit MCS- und anderen Umwelt-Kranken, verfährt man sonst mit niemandem. Es ist die traurige Realität und ich erachte es als schockierend und völlig überflüssig. Die Gesundheitspolitik in diesem Land versagt vollkommen auf breiter Linie, auf Kosten umweltbedingt Erkrankter .

    Gesundheitsvorsorge, Prävention, Therapie, Reha – hört sich alles super an, aber bitte, wo bleiben wir? Um unsere Belange kümmert sich niemand, wir werden nur belächelt und verraten. Berufsbedingte Erkrankungen aufgrund massiver Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz oder der Schadstoffbelastung an Schulen, werden belächelt und die Opfer diskriminiert und abgeschoben.

    Anstatt angemessen zu behandeln und zu helfen, werden MCS-Kranke praktisch aus der Gesellschaft entsorgt. Wo bleiben unsere Rechte aus dem Grundgesetz? Unsere zugesicherten Menschenrechte werden mit Füssen getreten.

  6. Mary Poppins 25. März 2008 um 16:47

    Dieser Beitrag gehört in die Zeitung für Umweltmedizin als Denkanstoss.

  7. Annette 25. März 2008 um 17:05

    Die Aussage von diesem Mann sagt soviel über die Erkrankung MCS, in ihrem Schweregrad wird sie wirklich nur von ganz wenigen Krankheiten übertroffen.
    Wie geht es diesem Mann heute, hat er es geschafft?

  8. X-Faktor 25. März 2008 um 20:13

    Wie weit hat uns der moderne Lebensstandard bebracht? Vielen hat der Luxus unserer Zeit die Gesundheit und den Lebnsinhalt genommen. Umweltkranke Menschen werden abgeschoben und belächelt, verhöhnt und diskriminiert, so dass sie sich freuen, wenn sie an Krebs erkrankt sind, damit man ihnen Glauben schenkt. Das ist echt heftig und unvorstellbar. Den Reichen und Gesunden stehen Türen und Tore offen und wir werden um unsere gerechtfertigten Ansprüche in BG- und Sozialrechtsverfahren betrogen, in dem man MCS als nicht existent abtut.

    Armes Deutschland!

  9. Yella 26. März 2008 um 10:05

    Ich lege diesen Bericht meinem Arzt vor, soll er sich Gedanken machen und nachdenken darüber ,wie ein Patient sich fühlt, den man abstempelt und gesellschaftlich ausgrenzt. Die Ex und hopp Gesellschaft nimmt man so lange schweigend und ignorierend hin, bis es einen selbst betrifft. MCS kann jeden treffen gebe ich da noch zu bedenken.

  10. Joana 26. März 2008 um 10:22

    Ich selbst habe mir schon oft gewünscht, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen, damit endlich alles vorbei ist. Ich kann den Mann sehr gut verstehen.

    MCS-Kranke werden zu Suizid-Gedanken getrieben, mit derartiger Vorgehensweise im deutschen Gutachterwesen bzw. durch die Mehrheit der Umweltmediziner. Zum Glück gibt es ein paar Ausnahmen, sonst wäre die Selbstmordrate unter MCS-Kranken noch höher. Das ist sehr traurig aber wahr.

  11. Silvia 27. März 2008 um 16:15

    In den vergangegen Monaten haben sich mehrere MCS Kranke das Leben genommen. Sie sahen keinen Ausweg mehr, weil sie von Behördenseite schikaniert und im Stich gelassen wurden.

    Ich kann nicht aufzählen, wie oft ich in den vergangegen Jahren mit Menschen sprach, die nicht wegen ihrer Schmerzen, sondern wegen der menschenverachtenden Behandlung die ihnen zuteil wurde und der fehlenden medizinischen Versorgung, keine Kraft mehr hatten und ihrem Leben ein Ende setzen wollten. In Deutschland wird es den Selbsthilfegruppen überlassen diese Menschen aufzurichten und vom Suizid abzuhalten.

  12. Clarissa 27. März 2008 um 18:14

    Liebe Silvia, auch ich stehe oft davor, permanente Schmerzen, seit gut einer Woche volle Ascher im Kopf, riechen und schmecken. Ich hoffe das dieser Zustand wieder weggeht, denn so möchte ich nicht für den Rest meines Lebens leben müssen.
    Früher habe ich es nie verstanden, das Menschen einen Suizid verüben, heute kann ich es leider verstehen und habe Verständnis dafür – wie die Zeit die Sicht der Dinge verändert.
    Keine Bange ich bleibe der Welt noch eine Weile erhalten, wie lange ??

  13. Silvia 27. März 2008 um 18:43

    Liebe Clarissa,
    was ist Dir passiert, dass es plötzlich so schlimm ist?
    Erfahrungsgemäß geht es weg, wenn die Belastung verschwindet. Diese ganzen Heizungsabgase aus den Pelletheizungen z.B. machen sehr vielen extreme Beschwerden, auch solche wie Du sie beschreibst.

    Auf Aussenstehende mag es labil wirken, wenn ein kranker Mensch mitteilt, ich kann nicht mehr anders. Bei den MCS Kranken kann ich aus meiner Erfahrung jedoch sagen, es sind fast alles gestandene Leute die das Leben lebten und arbeiteten, oft auch viel für die Gemeinschaft taten und in fast allen Fällen ohne eignes Verschulden krank wurden durch Chemikalien. Dann kommt dieses Anzweifeln, das für dumm verkaufen, Vorwürfe von Simulantentum, der Betrug um ihr Recht, die körperlichen Ausfälle, die Zwangsisolation, Schmerzen, keine medizinische Versorgung, der ständige Kampf um jeden Tag…

    Aus meiner über 15jährigen Erfahrung mit MCS Patienten möchte ich anmerken: Die MCS Kranken sind durch die Bank verdammt stark und hart im Nehmen, aber jeder hat eine Grenze und das muß akzeptiert werden. Die Gesellschaft sollte allerdings beginnen Rücksicht zu nehmen auf die, die für sie und ihre Annehmlichkeiten in die Knie gegangen sind und die Verantwortlichen bei den Behörden denen sei gesagt: Hört auf mit der Diskriminierung und werdet tätig im Sinne von Menschlichkeit!

    Clarissa, bleib weiter stark, wir brauchen Dich!

  14. Bongo Wongo 28. März 2008 um 11:38

    Das ist voll heftig, aber nachvollziehbar. Das kann nur jemand verstehen, der MCS hat und auch die Schattenseiten des Gutachterwesens und der deutschen Umweltmedizin kennen gelernt hat. Die Ignoranz mit der man uns gegenüber verfährt, das ständige Verhöhnen und alles drum und dran geben einem den Rest. Wir werden in die Ecke gedrängt und uns wird dringend notwendige Hilfe versagt.

  15. T-Rex 29. März 2008 um 22:28

    Sehr erschütternd und verdeutlicht, dass das Gro der Umweltmedizin in Deutschland noch sehr an sich arbeiten muss. Die dt. Umweltmedzin ist es, die nicht ernst genommen werden kann, nicht die Patienten die sie bewusst stigmatisiert.

  16. Maria Magdalena 3. April 2008 um 22:33

    Seit dem ich weiß, dass es viele MCS-Betroffene gibt, fühle ich mich nicht mehr so allein gelassen und unverstanden mit meinem Problem. Seit dem ich weiß, was ich wirklich habe, bin ich bereit, meine Interessen zu verteidigen, auch wenn es noch so schwer zu sein scheint, denn wenn man daran glaubt, dann wird einem geholfen. Man darf sich außerdem von Ignoranten, egal ob Laien oder Fachleuten, niemals verunsichern und schikanieren lassen, denn Ignoranten haben eine solche Ehre nicht verdient. Die Zeit des großen Umbruchs in Sachen MCS scheint gekommen zu sein. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Ich wünsche allen MCS-Betroffenen viel Liebe, Mut und Kraft, viele gute Freunde und einen lieben süßen Schutzengel!

  17. Supergirl 27. April 2008 um 09:55

    Hallo Maria Magdalena,

    ich schließe mich Deiner Meinung an, wir dürfen uns weder von Laien noch von Fachleuten verunsichern und demütigen lassen. MCS ist im Schwerbeindertenrecht als organische Erkrankung verankert, auch wenn Gutachter und so mancher Umweltmediziner versucht, uns in eine ganz andere Schublade zu stecken. Wir müssen uns auch weiterhin dafür einsetzen, dass das öffentliche Interesse an MCS, sei es in Dokumentationen oder sogar wie ganz aktuell im Ersten im Spielfilm „Die Alpenklinik“, seine Fortsetzung findet. Um so schwieriger wird es dauerhaft sein, Chemilaliensensitivität zu bagatellisieren.

  18. Jewel 12. Juli 2008 um 10:28

    Das ist schon extrem, wenn sich Kranke mit ihrer Krebs- und Umwelterkrankung abfinden und Krebs sogar als „positiv“ einstufen. Damit man ihnen nun endlich Glaube schenkt. Welch ein Desaster, anders kann ich die allgemeine Situation um uns Umweltkranke nicht ausdrücken.

    Abartig, wirklich, keiner anderen Krankheitsgruppe ergeht es derart mies, wie uns MCS-Erkrankten. Den Stand den wir in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem einnehmen, ist quasi ganz unten.

  19. Stefan 6. Dezember 2023 um 03:46

    15 Jahre nach diesem Artikel war ich mit schwerer MCS im Krankenhaus in München, mehrfach und es wurde nicht akzeptiert. Mir wurde gesagt, MCS, Long Covid und Porphyrie können wir hier nicht behandeln oder diagnostizieren. MCS sehen wir hier als eine Somatisierungsstörung und behandeln dies aber gerne als PTSD, Depression, Psychose und können Ihnen auf jeden Fall helfen, aber zuerst bräuchte ich Medikamente aus der Psychiatrie dazu.
    Auch meine sogar im offiziellen engl. Handbuch der Toxikologie von Quecksilber wird meine Porphyrie Mutation erwähnt, aber es wurde schnell abgetan mit Fehlinformation, heterozygote Varianten würden sich ja eh nicht auswirken und ich hätte keine homozygoten in Porphyie Genen (mit nahezu null Häm Produktion (auch für CYPs und Gluthation Synthese bei MCS) stirbt man im Kindesalter schnell, die Menschen damit leben nicht mehr).
    Ich war etwas geschockt, auch dass man mich sofort vor Ort in die Psychiatrie einweisen wollte trotz vorheriger Abklärung mit der Psychiatrie und einem fast einstündigen Diagnose Gespräch, bei dem nichts relevantes herauskam ausser einer allg. Depression und psychotischen Merkmalen bei einem „Schub“ (was ich auch so sehe, zumindest nach deutlicher Chemikalienxposition die länger anhält kann dies vorkommen).
    Ich bin auch seit 3 Jahren dabei den Amtsarzt zu überzeugen, aber bin trotz unzähliger Diagnosen inkl MCS, etc. bisher als voll arbeitsfähig eingestuft, aber weiter in der Abklärung, ich weiss nicht was die noch wollen ?!

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