Luftverschmutzung kann Depressionen auslösen

Schadstoffe verursachen Schäden im Gehirn

Luftverschmutzung kann bei länger andauernder Belastung zu physischen Veränderungen im Gehirn, sowie Lern-und Gedächtnisproblemen und sogar zu Depressionen führen, das erbrachten Forschungsergebnisse bei Mäusen.

Während andere Studien die schädlichen Auswirkungen von Luftverschmutzung auf das Herz und die Lungen gezeigt haben, ist diese eine der ersten Langzeitstudien, um die negativen Auswirkungen auf das Gehirn aufzuzeigen, sagte Laura Fonken, Hauptautor der Studie und Doktorand für Neurowissenschaften an der Ohio State University.

„Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass längerer Kontakt mit schadstoffbelasteter Luft zu sichtbaren, negativen Auswirkungen auf das Gehirn führt, was zu einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen führen kann“, sagte Fonken.

„Dies könnte wichtige und beunruhigende Konsequenzen für Menschen auf der ganzen Welt haben, die in belasteten städtischen Gebieten wohnen und arbeiten.“

Die Studie erschien Mitte 2011 in der medizinischen Fachzeitschrift „Molecular Psychiatry“. Für die Studie arbeiteten Fonken und Kollegen vom Ohio State Department für Neurowissenschaften mit Forschern der Universität Davis, vom Herz- und Lungen-Institut zusammen.

Bei früheren Studien an Mäusen stellte die Davis Research Group, der Qinghua Sun, assistierender Professor für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene, sowie Sanjay Rajagopalan, Professor für Herz-Kreislauf-Medizin angehörten, fest, dass Feinstaub Entzündungen im ganzen Körper verursacht und zu Bluthochdruck, Diabetes und Fettleibigkeit führen kann. Diese neue Studie zielte darauf ab, ihre Forschung hinsichtlich der Auswirkungen von Luftverschmutzung auf das Gehirn auszudehnen.

„Je mehr wir über die gesundheitlichen Auswirkungen von lang anhaltenden Luftverschmutzung herausfinden, desto mehr Gründe zur Sorge gibt es“, sagte Randy Nelson, Co-Autor der Studie und Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der Ohio State.

In der neuen Studie wurden Mäuse entweder gefilterter Luft oder schadstoffbelasteter Luft für sechs Stunden am Tag ausgesetzt, und das an fünf Tagen in der Woche für 10 Monate – somit fast die Hälfte der Lebensspanne der Mäuse.

Die verschmutzte Luft enthielt Feinstaub, die Art von Verschmutzung, die durch Autos, Fabriken und natürlichen Staub verursacht wird. Die feinen Partikel sind winzig – etwa 2,5 Mikrometer im Durchmesser, oder etwa ein Dreißigstel des durchschnittlichen Durchmessers eines menschlichen Haares. Diese Partikel können bis in tiefe Bereiche der Lunge und anderer Organe des Körpers vordringen.

„Je mehr wir über die gesundheitlichen Auswirkungen von anhaltender Luftverschmutzung herausfinden, desto mehr Gründe zur Sorge gibt es. Diese Studie ist ein weiterer Beweis für die negativen Auswirkungen von Luftverschmutzung auf die Gesundheit.“

Die Feinstaubkonzentration, der die Mäuse ausgesetzt waren, war gleichbedeutend mit dem, was die Menschen in einigen belasteten städtischen Gebieten ausgesetzt werden, so die Forscher.

Nach 10 Monaten Exposition gegenüber der schadstoffbelasteten oder gefilterten Luft führten die Wissenschaftler eine Reihe von Verhaltenstests bei den Versuchstieren durch.

Bei einem Lern- und Gedächtnis-Test wurden die Mäuse in der Mitte einer hell erleuchteten Bühne platziert und bekamen eine Frist von zwei Minuten, um ein Fluchtloch zu finden, das in einen dunklen Kasten führte, wo sie sich wohler fühlen. Dann erhielten sie fünf Tage Training, um das Fluchtloch zu finden. Die Mäuse, die verschmutzte Luft geatmet hatten, brauchten jedoch länger, um zu erlernen, wo sich das Fluchtloch befand. Die Mäuse, die schadstoffbelasteter Luft ausgesetzt waren, erinnerten sich auch bei späteren Prüfungen schlechter daran, wo sich das Fluchtloch befand.

In einem weiteren Experiment wiesen die Mäuse, die schadstoffbelasteter Luft ausgesetzt waren, depressivere Verhaltensweisen auf als die Mäuse, die gefilterte Luft geatmet hatten. Die Mäuse, die schadstoffhaltige Luft eingeatmet hatten, wiesen zusätzlich Anzeichen von verstärkten angstähnlichen Verhaltensweisen in einem der Tests auf, in einem anderen Test jedoch nicht.

Aber wie führt die Luftverschmutzung zu Veränderungen in Lernen, Gedächtnisleistung und Stimmung?

Die Forscher führten Tests durch, die auf den Hippocampus im Gehirn der Mäuse abzielten, um die Antworten zu finden.

„Wir wollten deshalb so genau auf den Hippocampus achten, weil dieses Gehirnareal mit Lernen, Gedächtnis und Depression assoziiert ist“, sagte Fonken, der gemeinsam mit Nelson, Mitglied des Ohio State Institute für Verhaltensmedizin ist.

Die Ergebnisse zeigten deutliche, körperliche Unterschiede im Hippocampus jener Mäuse, die schadstoffbelasteter Luft ausgesetzt waren, im Vergleich zu denen, die ihr nicht ausgesetzt waren.

Die Wissenschaftler untersuchten speziell die Verästelungen, die aus Nervenzellen (oder Neuronen) wachsen und als Dendriten bezeichnet werden. Die Dendriten haben kleine Ansätze, sogenannte Stacheln, die aus ihnen herauswachsen und die Signale von einem Neuron zum anderen übermitteln.

Die Mäuse, die verschmutzter Luft ausgesetzt waren, hatten weniger Stacheln in Teilen des Hippocampus, kürzere Dendriten und eine insgesamt reduziertere Zellekomplexität.

„Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Arten von Veränderungen mit einer verminderten Lern-und Gedächtnisleistung verbunden sind“, sagte Nelson.

In anderen Studien fanden einige der Co-Autoren dieser Studie aus dem Davis-Forschungszentrum, dass chronische Exposition gegenüber Luftverschmutzung ausgedehnte Entzündungen im Körper hervorruft, was mit einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen beim Menschen verbunden ist, einschließlich Depression. Diese neue Studie gab Hinweise darauf, dass diese Low-grade-Entzündung offensichtlich im Hippocampus vorhanden ist.

Bei Mäusen, die schadstoffbelastete Luft geatmet hatten, waren chemische Botenstoffe, die Entzündungen verursachen – sogenannte pro-inflammatorische Zytokine – im Hippocampus aktiver, als bei Mäusen, die gefilterte Luft atmeten.

„Der Hippokampus ist besonders empfindlich gegenüber Schäden, die durch Entzündungen verursacht werden“, sagte Fonken.

„Wir vermuten, dass die systemische Entzündung, die durch das Einatmen von verschmutzter Luft verursacht wird, an das zentrale Nervensystem übermittelt wird.“

Die Studie wurde von den National Institutes of Health unterstützt.

Autor:

Jeff Grabmeier, Ohio State University, Air Pollution linked to Learning and Memory Problems, Depression, Columbus, Ohio, 5. Juli 2011

Übersetzung: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network

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Studie konnte Zusammenhang zwischen Chemikalien-Sensitivität und psychischen Krankheiten nicht bestätigen

Die Schwedin Prof. Dr. Eva Millqvist forscht schon seit einigen Jahren über Hyperreaktivität der Atemwege und die Umweltkrankheit MCS – Multiple Chemical Sensitivity. Ihr Spezialgebiet liegt im Bereich Reaktionen der Atemwege auf Reizstoffe.

Krank durch Gerüche und Duftstoffe

Patienten mit Atemwegsbeschwerden, die durch Chemikalien und Gerüche ausgelöst werden, sind in Allergiekliniken häufig anzutreffen. Laut Millqvist und ihrem Team sind diese Gesundheitsprobleme jedoch nicht durch asthmatische oder allergische Reaktionen erklärbar.

Deutsche Patienten berichten häufig, dass ihnen vom Allergologen das Aufsuchen eines Psychologen empfohlen wurde, nachdem sie über Reaktionen auf Chemikalien oder Gerüche berichtet hatten. Darüber, ob dazu tatsächlich Anlass besteht, gibt die neue Studie aus Schweden Aufschluss.

Studien zeigten Reaktionen

Frühere Studien von Millqvist haben gezeigt, dass MCS-Patienten oft eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber inhaliertem Capsaicin aufweisen. Dieser Bestandteil von Chili ist dafür bekannt, dass er sensorische Reaktivität reflektiert. Als Diagnose wurde „sensorische Hyperreaktivität der Atemwege“ (SHR) für diese Art von Beschwerden vorgeschlagen.

Haben es Patienten mit Asthma oder SHR häufiger an der Psyche?

In ihrer jüngsten Studie setzten sich die renommierte Wissenschaftlerin und zwei Kollegen das Ziel herauszufinden, ob es eine Beziehung zwischen Asthma und sensorischer Hyperreaktivität (SHR) gibt. Zusätzlich wollte das Forscherteam untersuchen, ob Patienten mit Anzeichen von SHR eine erhöhte psychiatrische Morbidität (Ängste, Depressionen, etc.) aufweisen.

Patienten wurden Tests und Fragebogen unterzogen

Die Wissenschaftler hatten in ihre Studie 724 Patienten eines Asthma-Zentrums einbezogen, bei denen Verdacht auf Allergien oder Asthma bestand. Alle Patienten mussten einen quantitativen Fragebogen ausfüllen und darin über affektive Reaktionen und Verhaltensstörungen durch duftende Stoffe, bzw. solche, die stechend wirken, berichten.

Ein standardisierter Capsaicin-Test wurde durchgeführt und ein Fragebogen zur Beurteilung der psychiatrischen Morbidität bei Patienten mit ausgeprägter Chemikalien-Sensitivität angewendet, um diejenigen zu identifizieren, die unter SHR leiden.

Keine Anzeichen für Depressionen oder Ängste

Von den Asthma-Patienten des Allergie-Zentrums, die an der Studie teilnahmen, wiesen ca. 6% eine sensorische Hyperreaktivität (SHR) auf. Millqvist und ihre Kollegen gaben an, dass dies im Einklang mit der Prävalenz in der allgemeinen schwedischen Bevölkerung steht. Es gab keinen signifikanten Hinweis darauf, dass SHR mit Ängsten oder Depressionen in Verbindung steht.

Patienten sollten auf genauer diagnostischer Abklärung bestehen

Die Studie erschien in der Ausgabe Juli 2010, der medizinischen Fachzeitschrift „Annals of Allergy, Asthma & Immunology“. Sie sollte Patienten, die auf Chemikalien und Gerüche mit hyperreaktiven Atemwegsbeschwerden reagieren und deswegen vom Allergologen einen Hinweis auf das mögliche Vorliegen einer psychischer Erkrankung erhielten, den Impuls geben, sich damit nicht zufrieden zu geben und vielleicht zusätzlich einen erfahrenen Umweltmediziner aufzusuchen.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 2. September 2010.

Literatur:

Johansson A, Millqvist E, Bende M., Relationship of airway sensory hyperreactivity to asthma and psychiatric morbidity, Department of Respiratory Medicine, Central Hospital, Skövde, Sweden, Ann Allergy Asthma Immunol. 2010 Jul;105(1):20-3.

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Allergien können Depressionen auslösen

Die Allergiesaison erreicht für Pollenallergiker gerade ihren Höhepunkt. Husten, nießen, tränende und juckende Augen zählen zu den häufigsten Symptomen. Was selten im Zusammenhang mit Pollenallergie und Heuschnupfen genannt wird, aber bei fast jedem zweiten Betroffenen auftritt, sind Depressionen. Das haben Wissenschaftler der University of Maryland herausgefunden und bei ihrem Jahreskongress der Psychiater als neue Erkenntnis dargelegt. (1)

Umweltmediziner verblüfft diese Erkenntnis hingegen nicht, für sie ist es nichts Neues, denn Pioniere ihrer Fachrichtung beobachteten dies bereits vor sechs Jahrzehnten. Allergien auf Pollen, Nahrungsmittel, Schimmelpilze oder Sensitivitäten auf Chemikalien können durchaus auch psychische Reaktionen, einschließlich Depressionen auslösen.

Seit 6 Jahrzehnten bekannt – Allergien können Depressionen auslösen

Den ersten Artikel über Depressionen, die durch Allergien hervorgerufen wurden, konnte man 1950 in einer der größten medizinischen Zeitschriften lesen. (2) Im Jahr 1951 stellte der Allergologe Theron Randolph – beim 7. Jahreskongress des American College of Allergists in Chicago – seinen Kollegen ein Fallbeispiel vor, bei dem ein Provokationstest mit Nahrungsmitteln bei einem Patienten eine akute psychotische Episode hervorgerufen hatte. (3) Das erste Fachbuch, das über solche Zusammenhänge anschaulich berichtet, stammt ebenfalls von Randolph und wurde in der Erstauflage 1962 publiziert.(4)

Allergien legen den Körper lahm und schlagen auf das Gemüt

Beim Jahrestreffen 2010 der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie referierte Dr. Partam Manalai darüber, dass Allergien, wie auch Depressionen weitverbreitete Krankheiten darstellen. Es sei nicht verwunderlich, dass Allergien auf das Gemüt schlagen und die Wahrnehmungsfähigkeit, als auch die Lebensqualität der Betroffenen einschränken.

Führt Pollenallergie zu Suizid? Offensichtlich ja.

Der Wissenschaftler berichtete über ein auffälliges Phänomen auf das er gestoßen sei. Wenn im Frühjahr viele Pollen in der Luft sind, steigt gleichzeitig die Suizidrate an. Das Gleiche, jedoch in geringerer Ausprägung, ist im Herbst zu beobachten, wenn einige Pflanzen und Bäume nochmals blühen.

Um den Dingen auf den Grund zu gehen, untersuchten der Wissenschaftler und sein Team einhundert Personen aus der gleichen Region, die unter starken Depressionen litten. Etwa die Hälfte diese Menschen hatte Allergien auf Bäume und Unkräuter. Im Frühjahr wie auch im Herbst zeigte sich bei ihnen ein erhöhtes IgE (der Marker für klassische Allergien).

Höhepunkt der Pollensaison – Höhepunkt von Depressivität

Manalai legte auf dem Kongress dar, dass Patienten, die allergisch auf luftgetragene Allergene reagierten, während der Pollensaison eine Verschlechterung des Gemüts erfuhren. Patienten, die unter beiden Erkrankungen litten, seien während der Hauptpollensaison noch empfänglicher für Depressionen. Deshalb sei es seiner Auffassung nach sehr wichtig, diese Erkrankungen zu behandeln, um zu vermeiden, dass Patienten in der Hauptpollensaison in eine Depression abgleiten.

Schwere Allergien, eine schwere Bürde

Dass Depressionen eintreten, wenn jemand allergisch reagiert, ist für den Wissenschaftler aus Maryland nicht verwunderlich. Er veranschaulichte dies für die Zuhörer indem er sie aufforderte einfach einmal darüber nachdenken, wie es ist, wenn Allergien so schwerwiegend sind, dass man nicht atmen kann, nachts nicht richtig schläft, man sich so richtig fertig und scheußlich fühlt, weil es sich anfühlt, als hätte man einen Zentner Kartoffeln auf der Brust, dann sei es wohl recht normal, dass man anfängt depressiv zu werden. Bei Allergien sei es eben nicht wie bei einer Erkältung, zwei Tage und alles ist vorbei, erklärte der Mediziner. Man hänge für Monate fest und diejenigen, die das ganze Jahr über Allergien haben, die würden das ganze Jahr über festhängen.

Depressionen als Reaktion auf Allergene und Chemikalien

Solche „Ganzjahresallergien“ auf klassische Allergene und auch Sensitivitäten auf Chemikalien haben die ersten Pioniere der Umweltmedizin schon vor rund sechs Jahrzehnten als mögliche Auslöser für Depressionen bei ihren Patienten erkannt. (5,6) Für sie war schon damals aufgrund ihrer Beobachtungen und Diagnostik schlüssig, dass nicht Depressionen Allergien oder Sensitivitäten auf Chemikalien auslösen, sondern umgekehrt, denn war der Auslöser weg, traten schlicht und einfach auch keine Depressionen bei diesen Patienten auf. Setze man hingegen den Patienten bei Provokationstests dem Allergen aus, war die Depression da und zwar so, als hätte man einen Lichtschalter umgelegt. Diese Pioniere belegten damals schon mit ihren Tests, dass es keinen chronischen Krankheitsverlauf oder Leiden braucht, damit jemand depressiv reagiert, sondern, dass ein Allergen, bei einer Person die darauf reagiert, diesen Zustand durchaus auch in Sekunden hervorrufen kann.

Winzige Spuren eines Auslösers und schon ist die Depression da

Der amerikanische Allergologe Theron Randolph, der als Begründer der Umweltmedizin gilt, beschrieb in seinem Buch von 1962, zur Veranschaulichung die Frau eines Arztes, die auf Kosmetika, Medikamente und Parfüms mit Depressionen reagierte. War sie damit nicht in Kontakt, ging es ihr gut – kam sie damit in Kontakt, ging es los. Winzige Spuren von Parfüm reichten aus. Auch auf konventionelle Nahrungsmittel, die Pestizidrückstände aufwiesen und Nahrung aus Konservendosen die innen beschichtet waren, traten bei dieser Patientin Depressionen, Atembeschwerden und starke Kopfschmerzen auf. Randolph gründete in dieser Zeit die erste schadstoffkontrollierte Umweltklinik weltweit und Fälle dieser Art sollte er noch zuhauf diagnostizieren und behandeln. Nicht anders erging es Prof. William J. Rea und Prof. Doris Rapp, zwei weitere Pioniere der Umweltmedizin, die Zehntausende von Patienten in ihren umweltkontrollierten Kliniken diagnostizierten und mit großem Erfolg behandelten.

Wie findet man heraus ob Pollen die Ursache für eine Depression sind?

Welche einfachen Möglichkeiten man hat um herauszufinden, ob Pollen die Ursache für Depressionen oder andere psychische Symptome sind, schildert Prof. Dr. Doris Rapp. Die heute über 80-jährige amerikanische Medizinerin gilt als absolute Pionierin im Bereich Kinder-Umweltmedizin. Sie besitzt drei Videoarchive mit Dokumentationen, die Kinder bei Allergietests zeigen. Videos über spontane Depressionen auf Pollen, Schimmelpilze, Nahrungsmittel oder Chemikalien kann die Medizinerin hundertfach vorzeigen. Einige davon wurden immer wieder auf Medizinkongressen oder in TV-Berichten gezeigt und man kann sie auch im Internet anschauen.

In einem ihrer Bücher (7) gibt Prof. Dr. Rapp folgende einfache Anleitung, die gleichermaßen auf Erwachsene anwendbar ist:

  • Werden Sie zum Beobachter. Finden Sie durch genaues Beobachten heraus, ob die Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten dann auftreten, wenn starker Pollenflug herrscht. Schauen Sie hierzu in die Zeitung (Anm.: heute kann man im Internet oder auf dem Handy Pollenwarndienste anklicken und den genauen Pollenflug am Wohnort ermitteln) und führen Sie eine Weile Buch. Es wird schnell erkennbar, ob Pollen mit der Depression in Zusammenhang stehen.
  • Lassen Sie zur Absicherung Allergietests durchführen, ob und welche Pollenallergien vorliegen. (Achtung IgE reicht nicht aus (8)
  • Wer allergisch reagiert, hat während der Reaktion meistens eine völlig veränderte Handschrift. Das Schreiben des Namens bietet sich an. Überprüfen Sie dies bei ihrem Kind oder sich selbst an einem pollenfreien Tag, während des Pollenfluges und wenn er abklingt. Lassen Sie auch ein kleines Bild malen. Ein Strichmännchen reicht. Sie werden staunen was dabei herauskommt wenn jemand allergisch reagiert, ziehen Sie Vergleiche wenn die Person allergiefrei ist.

Antidepressiva Behandlung der Wahl für Allergiker? Mitnichten

Allergiker, die auf bestimmte Allergene oder chemische Auslöser Depressionen oder psychische Symptome entwickeln, sind demnach was die Pioniere der Umweltmedizin herausfanden, keine zwangsläufigen Kandidaten für Antidepressiva oder Psychotherapie.

Bei der Erörterung, welche Therapie sinnvoll ist, lohnt es sich zum Wohle der Erkrankten nochmals in der Zeitgeschichte der Medizin auf Randolph zurückzuschauen. Der Allergologe Randolph erkannte durch reines Beobachten und dokumentieren, dass es oft genug völlig ausreicht, wenn sich der Patient von den Auslösern fernhält, bzw. ein bestimmtes Nahrungsmittel auf das er reagiert, nicht mehr zu sich nimmt, damit die Depressionen oder andere Symptome fast wie von „Geisterhand“ verschwinden.

Karenz, Desensibilisierung der Allergien, Luftfilter, Atemmasken, Umstellung der Ernährung und ggf. Anpassungen im Wohn-und Arbeitsumfeld, Ausgleich von Nährstoffdefiziten, etc. wurden von Randolph schon in den Sechzigern als Grundpfeiler einer erfolgreichen Therapie beschrieben. Heute gibt es weltweit Mediziner, die diesen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und durch Behandlungserfolge bei ihren Patienten in deren Richtigkeit bestätigt werden.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 15. Juni 2010

Literatur:

  1. Amanda Gardener, Allergies might trigger Depressions, Health Day Reporter, 15. June 2010
  2. Theron Randolph, Allergic Factors in the Etiology of Certain Mental Symptoms, Journal of Laboratory & Clinical Medicine 36 (1950):977.
  3. Theron Randolph, An experimentally induced acute psychotic episode following the Intubation of an allergic food, 7th Annual Congress, American College of Allergists, Chicago, 3. February 1951.
  4. Theron Randolph, Human Ecology and Susceptibility to the Chemical Environment, Charles Thomas Publisher, 1962.
  5. Theron Randolph, Depression caused by Home Exposures to Gas and Combustion Products of Gas, oil and Coal, Journal of Laboratory & Clinical Medicine 46(1955):942.
  6. Theron Randolph, Ecologic Mental Illness – Psychiatry Exteriorized, Journal of Laboratory & Clinical Medicine, 54(1959):936.
  7. Doris Rapp, Is this your Child’s World? Bantam Books, 1996.
  8. William J. Rea, Chemical Sensitivity Vol. II/S.1039, Lewis Publisher, 1992.

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Medikament löste Symptomverschlimmerung aus – weitere Nebenwirkungen bis hin zu Suizid möglich

Einen ungewöhnlichen Fall hatten die Ärzte der Abteilung Dermatologie der University Miami zu lösen. Ein 9-jähriger Junge hatte leichte Dermatitis, die allergisch bedingt war. Er bekam ein Medikament, das aber statt zu helfen eine schwere systemische Dermatitis auslöste. Die Ursache war ein Zusatzstoff, wie durch einen Allergietest ermittelt wurde. (1) In anderen Fällen kam es noch weitaus schlimmer. Das amerikanische FDA verlangt auf dem Beipackzettel für Medikamente mit dem Wirkstoff Montekulast seit 2008 u.a. die Angabe eines Warnhinweises auf mögliche suizidale Gedanken und Selbstmordabsicht (Suizidalität). (2,3) Montekulast darf Kindern ab dem 6. Lebensjahr verabreicht werden.

In einer FDA Meldung von Juni 2009 wurden als weitere mögliche Nebenwirkungen u.a. Unruhe, Alpträume, Tremor, Ängste, Aggression, Halluzinationen und Depressionen angeführt. (3) Schon zuvor bat die Behörde Ärzte wie auch Patienten, schwere Nebenwirkungen an FDA MedWatch zu melden. (4)

Inhaltsstoff des Medikaments löst Verschlimmerung aus

Aktuell wurde in der medizinischen Fachzeitschrift Pediatric Dermatology über einen 9-jährigigen Jungen berichtet, der wegen seiner allergisch bedingten Dermatitis Montelukast Kautabletten erhalten hatte. Als die Dermatitis sich drastisch verschlechterte, tippten die Dermatologen auf das Medikament, bzw. einen Inhaltsstoff darin. Sie führten einen Hauttest (Patchtest) durch und stellten fest, dass der Junge unter anderem auf Formaldehyd reagierte. Außerdem wurde der Junge noch auf weitere Chemikalien positiv getestet, was die Ärzte dazu veranlasste, die Diagnose Multiple Chemikaliensensitivität / MCS zu stellen.

Aspartam verstoffwechselt sich zu Formaldehyd

Die positive Reaktion auf Formaldehyd brachte die Ärzte letztendlich darauf, dass ein bestimmter Inhaltsstoff in den Montekulast Kautabletten ursächlich für die Verschlimmerung der Dermatitis war: Aspartam, ein Süßstoff. Der Grund: Im Körper wird der Süßstoff Aspartam zu Formaldehyd metabolisiert

Doppelter Beweis

Für die Mediziner der dermatologischen Abteilung der University of Miami gab es keinen Zweifel, dass der Inhaltsstoff Aspartam ursächlich für die Verschlimmerung der Dermatitis des Jungen gewesen war. Ihre Diagnose wurde zusätzlich bestätigt, als die Dermatitis nach Absetzen der Kautabletten verschwand.

Ein Medikament mit Nebenwirkungen bis hin zu Suizid

Montelukast Kautabletten werden in erster Linie Kindern zur Vorbeugung gegen Asthma, dessen Langzeitbehandlung und gegen allergisches Asthma verabreicht. In seltneren Fällen auch gegen Dermatitis. Die Nebenwirkungen, die im vorgenannten Fallbeispiel zur Absetzung des Medikaments führten, waren vergleichsweise gering, verglichen mit den möglichen Nebenwirkungen, deren Nennung die amerikanische Kontrollbehörde für Arzneimittel – FDA als Warnhinweis auf Beipackzetteln verlangt.

Seit 2008 muss als Warnung aufgeführt werden, dass Montekulast Kautabletten (Singulair) psychiatrische Erkrankungen, Ängste, Depressionen und Suizidabsichten, als auch Suizid hervorrufen können. (5)

Weitere Hinweise und internationale Markennamen von Medikamenten die Montelukast enthalten, sind u.a. dem Merck Manual zu entnehmen.

Das FDA gab die Meldung zur Pflicht warnender Hinweise hinsichtlich möglicher neuropsychiatrischer Nebenwirkungen, sowie möglichem Suizidverhalten, auch für Tabletten mit dem Inhaltsstoff, sowie auf Oral-Granulat aus.

Auch in Deutschland erhältlich

Asthmamedikamente mit dem Wirkstoff Montekulast, ein Leukotrin-Rezeptor-Antagonist, sind auch in Deutschland erhältlich. Das deutsche Ärzteblatt (DÄ) berichte im Januar 2009 über Montekulast und erläuterte die Position der FDA. Das DÄ legte dar, dass die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde auf den Beibehalt der Warnhinweise beharre, trotz der Einwände der Hersteller, dass der Vorwurf, das Medikament könne Suizidabsichten hervorrufen, in Studien nicht bewiesen worden sei. Das DÄ beruft sich auf eine Meldung des FDA, worin die Behörde mitteilte, dass die Studien nicht darauf ausgelegt gewesen seien, um nach neuropsychiatrischen Komplikationen zu suchen und dass bei einigen Zwischenfällen mit Montekulast die klinischen Details mit einer medikamenteninduzierten Wirkung konsistent gewesen seien. (6)

Konträre Meinung, Warnung auf Beipackzettel

Deutsche Experten hatten teilweise eine andere Meinung zu Montekulast. In der Süddeutschen Zeitung bezeichnete Prof. Johannes Ring von der TU München das Medikament noch Ende März 2008 als „echten Fortschritt“.

Der Warnhinweis auf mögliches suizidales Denken und Suizidalität ist auch auf deutschen und österreichischen Beipackzetteln zu finden. Ungeachtet der genannten schweren Nebenwirkungen, die möglicherweise bei Kindern eintreten können, kann Montekulast im deutschsprachigen Internet derzeit rezeptfrei erworben werden.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 7. März 2010

Literatur:

  1. Castanedo-Tardan MP, González ME, Connelly EA, Giordano K, Jacob SE., Systematized contact dermatitis and montelukast in an atopic boy, Pediatr Dermatol. 2009 Nov 1;26(6):739-43.
  2. FDA, Singulair (montelukast sodium) Tablet, Chewable, Detailed View: Safety Labeling Changes Approved By FDA Center for Drug Evaluation and Research (CDER) – April 2008
  3. FDA, Updated Information on Leukotriene Inhibitors: Montelukast (marketed as Singulair), Zafirlukast (marketed as Accolate), and Zileuton (marketed as Zyflo and Zyflo CR), 28.8.2009 und 12.06.2009 (letztes Seitenupdate 05.01.2010)
  4. FDA, Follow-up to the March 27, 2008 Communication about the Ongoing Safety Review of Montelukast (Singulair), 13.01.2009
  5. FDA, Early Communication About an Ongoing Safety Review of Montelukast (Singulair), 23.03.2008
  6. Deutsches Ärzteblatt, FDA bewertet Suizidrisiko von Asthmamedikamenten, 14. Januar 2009

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Warum Antidepressiva bei so vielen Menschen nicht wirken

Neue Studie zeigt Mängel an der Wirkung von Antidepressiva

Mehr als die Hälfte der Menschen, die Antidepressiva nehmen, erfahren niemals eine Besserung.

Eine neue Studie von Eva Redei von der Northwestern University Feinberg School of Medicine belegt, dass die Ursachen von Depressionen zu stark vereinfacht wurden und Medikamente an den falschen Punkten ansetzen.

Es sieht so aus, als wären zwei lange favorisierte Glaubenssätze über Depressionen nicht mehr haltbar: Zum einen, dass stressreiche Ereignisse eine Hauptursache für Depressionen sind, und zum anderen, dass eine Störung in der Balance der Neurotransmitter im Gehirn depressive Symptome auslöst.

Beide Ergebnisse sind bedeutsam, da diese Glaubenssätze gegenwärtig die Grundlage für die Entwicklung von Medikamenten gegen Depressionen darstellen.

Eva Redei fand auf molekularer Ebene starke Belege gegen das alte Dogma, dass Stress allgemein eine Hauptursache für Depressionen ist. Sie fand, dass es fast keine Überlappung zwischen Genen, die mit Stress in Zusammenhang stehen, und solchen, die mit Depressionen in Zusammenhang stehen, gibt.

In ihrer Präsentation auf der Neuroscience 2009 Konferenz in Chicago sagte Redei: „Dies ist eine sehr große Studie und statistisch aussagekräftig. Diese Forschungsergebnisse eröffnen neue Wege, um Antidepressiva zu entwickeln, die evtl. effektiver sind. Seit 20 Jahren gibt es kein Antidepressivum, das auf einem neuen Konzept basiert.“

Ihre Ergebnisse basieren auf umfangreichen Studien mit einem stark depressiven Rattenmodell, dass viele der Verhaltensauffälligkeiten aufweist, die sich auch bei Patienten mit Depressionen finden.

Geringe Überlappung zwischen Stressgenen und Depressionsgenen

Redei isolierte die spezifischen Gene, die in diesen Tieren mit Depressionen in Zusammenhang stehen. Sie untersuchte die Hirnregionen “Hippokampus und Amygdala“ , die gewöhnlich in Ratten und Menschen mit Depressionen assoziiert werden.

Dann setzte sie vier verschiedene genetische Varianten von Ratten für zwei Wochen chronischem Stress aus. Danach identifizierte sie die Gene, die reproduzierbar die Stressreaktion in allen vier genetischen Varianten in den gleichen Hirnregionen verstärkten oder verminderten.

Redei erhielt so einen Satz von depressionsbezogenen Genen, die aus dem Rattenmodell für Depression stammten, und einen, der aus der Studie über chronischen Stress stammte.

Als nächstes verglich sie die beiden Sätze und suchte nach Überlappungen. „Wenn der Stress die Depressionen verursacht, sollte es eine signifikante Überlappung zwischen diesen beiden Sätzen von Genen geben. Aber es gab keinen.“

Sie fand in den untersuchten 30.000 Genen ungefähr 254 stressbezogene Gene und 1275 depressionsbezogene Gene. Eine Überschneidung gab es nur bei 5 Genen.

Redei schließt daraus, dass es zumindest im Tiermodell keinen belastbaren Hinweis darauf gibt, dass chronischer Stress zu den gleichen molekularen Veränderungen führt wie eine Depression.

Antidepressiva behandeln Stress und nicht Depressionen

Die meisten Tiermodelle, die zum Testen von Antidepressiva verwendet werden, basieren auf der Hypothese, dass Stress Depressionen verursacht. „Man stresst die Tiere und sieht auf ihr Verhalten. Dann manipuliert man das Verhalten der Tiere mit Medikamenten und sagt `OK, dass werden mal gute Antidepressiva“. Aber in Wirklichkeit behandelt man nicht Depressionen, sondern Stress.“

Das ist eine der Hauptursachen, warum aktuelle Antidepressiva so schlecht wirken. Redei sucht nun nach den Genen, die bei den depressiven Ratten anders sind, um Ziele für die Medikamentenentwicklung zu identifizieren.

Redei sagte, ein anderer Grund dafür, dass heutige Antidepressiva oft ineffektiv sind, rühre daher, dass sie darauf abzielen, Neurotransmitterkonzentrationen zu erhöhen, dies basierend auf der populären molekularen Erklärung von Depressionen als Resultat verminderter Konzentrationen der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Aber das sei falsch. Die Medikamente haben die falschen Ziele.

Medikamente haben das falsche Ziel

„Die Medikamente haben sich auf die Effekte konzentriert, nicht auf die Ursachen. Darum dauert es so lange, bis sie wirken, und deshalb sind sie bei so vielen Menschen ineffektiv.“

Ihre Tiermodelle zeigten keine dramatischen Unterschiede in der Anzahl der Gene, die die Neurotransmitterfunktionen kontrollieren. Wenn Depressionen mit Neurotransmitterfunktionen im Zusammenhang stünden, hätte man es sehen müssen.

Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und Nagetiergehirnen

Redei sagte, ihre Ergebnisse mit den depressiven Ratten seien sehr wahrscheinlich auf Menschen übertragbar. „Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Hirnregionen bei Menschen und Nagetieren sind bemerkenswert. Der Hippokampus und die Amygdala sind Teile des entwicklungsgeschichtlich alten sogenannten Eidechsenhirns, dass das Überleben kontrolliert und auch bei primitiven Organismen das gleiche ist.“

Literatur: Feinberg, Northwestern University, Northwestern Research Finds Antidepressant Drugs Aim at Wrong Target, October 2009

Übersetzung: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 4. Jan. 2010

Des Pfizers neue Kleider

Bittere Pillen

Aus Pressemitteilungen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG  vom 24.11.2009 aus Anlass der Bewertung dreier Antidepressiva:

Nutzen des Antidepressivums Reboxetin ist nicht belegt

In seinem Anfang Juni 2009 veröffentlichten Vorbericht hatte das IQWiG lediglich die Bewertungsergebnisse von Bupropion XL uneingeschränkt präsentieren können. Für Mirtazapin hatte es die Aussagen unter einen Vorbehalt stellen müssen, weil nicht auszuschließen war, dass Studiendaten, die der Hersteller Essex Pharma nicht zur Verfügung gestellt hatte, das Ergebnis maßgeblich beeinflussen könnten. Bei Reboxetin verzichtete das IQWiG völlig auf eine Auswertung der bis dahin öffentlich zugänglichen Studiendaten. Denn es war offenkundig, dass der Hersteller, die Firma Pfizer, knapp zwei Drittel aller bislang in Studien erhobenen Daten unter Verschluss hielt und eine Auswertung der verfügbaren Daten allein ein verzerrtes Bild ergeben hätte. Trotz mehrfacher Anfragen hatte sich Pfizer bis dahin geweigert, dem IQWiG eine Liste aller publizierten und unpublizierten Daten zur Verfügung zu stellen. 

Hersteller liefern Daten erst auf öffentlichen Druck hin

Nach Erscheinen des Vorberichts entschlossen sich jedoch die Firmen Pfizer und Essex Pharma, die unveröffentlichten Daten und Informationen über Studien zugänglich zu machen. Erst jetzt war eine Bewertung aller drei Wirkstoffe auf vollständiger Datenbasis möglich. 

Die Analyse der vollständigen Daten zeigt, dass die Entscheidung des IQWiG richtig war, auf eine Bewertung von Reboxetin ausschließlich auf Basis der publizierten Daten zu verzichten. Denn die Zusammenfassung der Ergebnisse der veröffentlichten und nicht veröffentlichten Studien belegt keinen Nutzen von Reboxetin, während die Daten aus den veröffentlichten Studien einen Nutzen suggerieren. 

Von den ebenfalls untersuchten Antidepressiva Bupropion XL und Mirtazapin können Menschen mit Depressionen laut IQWiG aber profitieren. 

Zum Wirkstoff Reboxetin standen dem IQWiG bei der Erstellung des Abschlussberichts insgesamt 17 Studien zur Verfügung. Wie deren Auswertung zeigt, gibt es darin weder für die Akuttherapie noch für die Rückfallprävention einen Beleg für einen Nutzen. Weder sprachen die Patientinnen und Patienten besser auf die Therapie an als bei einem Scheinmedikament noch konnten sie ihren Alltag besser bewältigen. 

Reboxetin: Belege für Schaden, nicht aber für Nutzen

Dem fehlenden Nachweis eines Nutzens von Reboxetin stehen Belege für einen Schaden gegenüber: Sowohl im Vergleich zu Placebo als auch im Vergleich mit dem Wirkstoff Fluoxetin, einem weiteren Antidepressivum aus der Klasse der Selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI), brachen Patientinnen und Patienten die Therapie häufiger wegen unerwünschter Nebenwirkungen ab.  

Pflicht zur Veröffentlichung von Studienergebnissen gesetzlich regeln

Wie der Prozess der Erstellung dieses Berichts zeigt, führt mangelnde Kooperationsbereitschaft der Hersteller zu begrenzt aussagekräftigen Nutzenbewertungen und verzögert die Erstellung der Bewertungen erheblich. „Verschweigen von Studiendaten ist kein Kavaliersdelikt“, sagt IQWiG-Leiter Peter Sawicki. „Die Studiensponsoren nehmen Patienten und Ärzten die Möglichkeit, sich informiert über verschiedene Therapieoptionen zu entscheiden. Wie das Beispiel Reboxetin zeigt, kann das Verschweigen von Studiendaten dazu führen, dass Patienten ein Medikament bekommen, für das es keinen Nutzenbeleg gibt, das aber einen Schaden verursachen kann.“ Zudem werde nicht nur die Arbeit des Instituts selbst behindert, sondern auch die des G-BA .“Denn dem G-BA fehlt dann die verlässliche wissenschaftliche Basis, die er für seine Entscheidungen über die Erstattungsfähigkeit von Medikamenten braucht“, so der Institutsleiter. 

Reboxetin wurde im Dezember 1997 in Deutschland zugelassen. Die deutsche Zulassungsbehörde hatte seinerzeit jedoch nicht alle Studien berücksichtigen können, die das IQWiG ausgewertet hat. Denn der IQWiG-Bericht bezieht auch Studien ein, die nach 1997 abgeschlossen wurden. Für die USA hat der Hersteller Pfizer ebenfalls eine Zulassung beantragt, die aber 2001 offenbar nicht erteilt wurde. 

Kein Kavaliersdelikt

Dass Ergebnisse von Studien nur teilweise veröffentlich werden, ist seit mehr als 20 Jahren als „Publikations-Bias“ (engl. für Verzerrung, Schieflage) bekannt. Dabei hat sich gezeigt, dass insbesondere sogenannte negative Studien, in denen beispielsweise das eigene Arzneimittel nicht das erhoffte Ergebnis gebracht oder sich sogar als wirkungslos erwiesen hat, erst Jahre später oder gar nicht veröffentlicht werden. Das hat zur Folge, dass Patienten und Ärzte allein auf Basis der veröffentlichten Berichte ein geschöntes Bild der Effekte erhalten. 

Diese Tendenz gilt nach wie vor als eine der wichtigsten und tückischsten Fehlerquellen in der Medizin. „Irreführung durch Verschweigen ist kein Kavaliersdelikt“, sagt Sawicki: „Ohne vollständige Information können Patienten im Extremfall sogar nutzlose oder gar schädliche Behandlungen erhalten.“ So haben andere Wissenschaftler bereits für mehrere Wirkstoffe zur Behandlung von Depressionen gezeigt, dass die Wirkung in der publizierten Literatur ausnahmslos überschätzt wurde – um bis zu 70 Prozent (im Mittel etwa 30%). Für einige Wirkstoffe ist sogar fraglich, ob überhaupt noch ein Nutzen nachweisbar ist, wenn man alle Studien einbezieht. 

Lediglich ein Drittel der Daten zu Reboxetin öffentlich zugänglich

Bei dem jetzt abgeschlossenen Projekt ging es darum, den Nutzen der drei Wirkstoffe Reboxetin, Mirtazapin und Bupropion XL bei der Behandlung und Vorbeugung der Depression zu bewerten. Die jetzt vorliegenden vollständigen Daten zu Reboxetin zeigen, dass in den 17 für die Nutzenbewertung geeigneten Studien etwa 5100 Patienten behandelt wurden. Hinreichend transparent publizierte Daten lagen lediglich von etwa 1600 Patienten vor. Demnach fehlen in der öffentlich zugänglichen Literatur die Ergebnisse von etwa 2/3 der Patienten. Dabei suggerieren die veröffentlichten Ergebnisse einen Nutzen, der sich bei Betrachtung aller Daten jedoch nicht belegen lässt. 

Mit dem Verschweigen von Daten verstoßen Hersteller auch gegen Absprachen, die mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studien geschlossen wurden: Sie stellen sich freiwillig und uneigennützig für die Experimente zur Verfügung und gehen dabei Risiken ein, weil sie durch ihre Teilnahme und die Veröffentlichung der Ergebnisse anderen Erkrankten helfen wollen. Dies ist die Voraussetzung für ihre Einwilligung, an Medikamentenstudien teilzunehmen: „Wer Ergebnisse einer Studie geheim hält, hintergeht die teilnehmenden Patientinnen und Patienten und stellt die Rechtmäßigkeit ihrer Einwilligung zur Studienteilnahme in Frage“, sagt Sawicki. 

 

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 18. Dezember 2009

Auch interessant:

 

Psychiatrisierung bei MCS ein Irrweg Teil I – XII

Opfer der Medizinindustrie – „Then it will all have been worth it…“

Teenager als Opfer der Medizin

CFS ist als chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt. Darunter stellt man sich Müdigkeit vor. Aber CFS ist mehr als Müdigkeit. Zur ständigen Erschöpfung kommen noch weitere Symptome, unspezifische wie Schwindel oder Kopfschmerz, aber auch Licht-, Berührungs- oder Geruchsempfindlichkeit, Schmerzen im ganzen Körper, und gefährliche Immunschwächezustände. Viele CFS-Patienten können nicht mehr selbst für sich sorgen, werden zu Pflegefällen, in schweren Fällen sind sie bettlägerig.

Nichtsdestoweniger wird CFS oft fehldiagnostiziert. Depressionen und andere psychische Störungen sind häufige Diagnosen, hinter denen eigentlich CFS steckt. Viele CFS Patienten erfahren nie von ihrer Krankheit, sondern werden jahrzehntelang z.B. auf Depressionen behandelt.

Forschung fördern – Ohne Wirtschaftssponsoren

Die 1997 gegründete, US-amerikanische „National CFIDS (Chronic Fatigue Immune Dysfunction Syndrome) Foundation“, kurz NCF, versucht, Forschung über CFS zu fördern, mit dem Ziel, dass CFS Anerkennung findet und einmal eine Behandlung gefunden wird. CFIDS ist auch bekannt als CFS (Chronic Fatigue Syndrome) oder ME (Myalgic Encephalomyelitis). Krankheitsbilder wie das Golfkriegssyndrom (Gulf War Ilness, GWI) oder MCS (Multiple Chemical Sensitivity) gelten als verwandt.

Das NCF hat keine Großsponsoren in der Wirtschaft und wird rein ehrenamtlich betrieben. Das Geld der Foundation kommt aus privaten Spenden. Auf der Website wird zu kleinen Spenden von 10 bis 20 Dollar im Jahr aufgerufen. Alles nicht dringend zur Erhaltung der Foundation benötigte Geld kommt direkt der Forschung zugute. Durch dieses Spendengeld wurden schon mehrere Studien finanziert, zum Beispiel zu Infektionen als möglichem CFS-Auslöser.

Die Website der Foundation: The National CFIDS Foundation

Gedenkliste für verstorbene CFS-Patienten

Auf der Seite der „National CFIDS Foundation“ (NCF) gibt es eine Gedenkliste für verstorbene CFS-Patienten. Todesursachen unterschiedlich, Fehlbehandlung spielte fast immer eine große Rolle. Die Seite berichtet von jungen Menschen, teilweise Jugendlichen, die heute noch leben könnten, wären sie nicht mit psychiatrischen Diagnosen in Kliniken eingewiesen worden und durch unverträgliche Medikamente schwer krank geworden.

Lesen kann man die Liste mit beschriebenen Fällen unter: Fallbeispiele

Emily, 20 Jahre alt, CFS, Psychiatrieopfer, verstorben 2006

Im Februar 2006 starb eine junge Frau Emily Louise Chapman, erst 20 Jahre alt. Sie war 13, als ihre CFS-Erkrankung begann. Ohnehin schwerst krank, musste sie 15 Monate lang ohne jeden Behandlungserfolg in Kliniken leiden, wurde massiv fehlbehandelt. Danach durfte sie eine Zeit lang nach Hause. Sie weigerte sich, wieder in eine Klinik zu gehen. Ihre Eltern mussten darum kämpfen, dass ihre Tochter nicht gegen ihren Willen aus der Familie gerissen und in ein Krankenhaus gebracht wurde.

Nach sieben schweren Jahren kam sie wieder ins Krankenhaus. 8 Wochen musste sie dort unter Fehlbehandlung in jeder Hinsicht leiden, und sie, ohne jede Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage, nahm sich schließlich dort das Leben. Emily könnte noch leben. Sie war eine intelligente junge Frau, die selbst von zu Hause von ihrem Bett aus noch Kontakt mit einem Netzwerk von Brieffreunden hielt, war auf dem neuesten Stand von Umwelt, Politik und Sozialem und wurde Mitglied der New Writers Group Inc.

Sophia Criona – „Then it will all have been worth it…“

Emelys Fall ist kein Einzelfall. So starb zum Beispiel die junge Britin Sophia Criona, 32 Jahre alt, 2005, durch Fehlbehandlung und medizinische Vernachlässigung. Sie erkrankte mit 26 Jahren nach einer „Grippe“, von der sie sich nicht mehr erholte, an CFS und wurde innerhalb von drei Monaten bettlägerig. Sie war extrem licht- und berührungsempfindlich. Doch verantwortliche Ärzte behaupteten, dass sowohl Sophia als auch ihre Mutter nur Krankheit vortäuschen würden. Sophia kam in eine psychiatrische Klinik, in die „Geschlossene“.

Sophie hatte das Glück, noch einmal entlassen zu werden und ihr Zuhause noch mal zu sehen, aber die Schäden nach dieser Fehlbehandlung waren so groß, dass sie in Folge starb. In diesem Fall gab es eine Autopsie, die angeblich nichts zur Todenursache zeigte, aber eindeutige entzündliche Veränderungen wurden gefunden.

Sophias letzte Worte, nachdem ihre Mutter ihr gesagt hatte, dass sie mit Sophias Geschichte an die Öffentlichkeit gehen würde, waren „Then it will all have been worth it…“ („Dann war es das Alles wert…“). Ihre Mutter ging auch nach Sophias Tod an die Öffentlichkeit, an den Britischen TV-Sender Meridian Television.

Tracy – Bestraft für Krankheit

Ein anderer tragischer Fall, der von Tracy Lynn Harmon, die 2004 im Alter von 36 Jahren verstarb, fand in North Carolina statt. Auch sie starb durch Fehlbehandlung. In ihrem dritten Schuljahr wurde sie als psychisch krank eingestuft und ihr wurden unnötigerweise Psychopharmaka verabreicht. Als Jugendliche wurde schließlich die Diagnose CFS und Fibromyalgie gestellt. Wegen ihrer langen Fehlzeiten wurde sie mit 16 von der Schule entlassen. Die Psychiater gaben ihr Medikamente, von denen sie Halluzinationen bekam, und behaupteten, ihre Mutter sei das Problem („Münchhausensyndrom“).

In ihrer Zeit in der Anstalt wurde Tracy bestraft, wenn sie morgens zu müde zum frühen Aufstehen war. Trotz dieser Behandlung überzeugten die Ärzte sie, dass sie ohne die Medikamente sterben würde. Deshalb nahm Tracy die Mittel auch zu Hause weiter, bis sie schließlich starb.

Chemotherapiepatienten, Medikamententester…

In der langen Gedenkliste, aus der hier drei Fälle junger Frauen ausgewählt wurden, findet sich durchaus eine „CFS-Risikogruppe“, wenn man darauf achtet, was diese Patienten früher in ihrem Leben getan oder erlitten haben. Sportler, Chemotherapiepatienten, aber auch Medikamententester finden sich auf dieser Liste. Gleich zwei Tester, ein Mann und eine junge Frau, die das Mittel Ampligen von HEM Pharmaceuticals getestet hatten, starben an den Folgen von CFS.

Medikamententester sind Menschen, die dringend Geld benötigen und verkaufen daher ihre Gesundheit an Pharmafirmen, die ihre nächsten Kassenschlager mit Studien für unschädlich erklären.

Warum begehen Kranke Selbstmord?

Die hohe Zahl von Selbstmorden ist nicht nur auf die Schmerzen durch die Krankheit zurückzuführen. So wurde zum Beispiel Stephem S. Czerkas durch Armut und dazu noch Rechtsstreite in den Tod getrieben. Armut ist ein Stichwort. Was macht ein CFS-Patient, der keine Rente oder ausreichendes Sozialgeld, sowie wenn nötig eine Pflegeperson, zugestanden bekommt? Und mit z.B. Depressionen diagnostiziert wird? Ein CFS-Patient kann sich nicht ohne Geld auf der Straße durchschlagen. Der muss sich dann in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, als profitables „Rohmaterial“ der Pharmaindustrie und der Kliniken, und sich dort „behandeln“ lassen. Und was, wenn das Geld noch da ist? Dann kann man den Patienten immer noch mit einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie bringen. Das klappt nicht nur mit Minderjährigen. Wen wundert es, wenn Menschen sich umbringen, die außer Leid und Entwürdigung in ihrem Leben nichts mehr zu erwarten haben?

Klartext reden – Auf YouTube

Der YouTube-User „luminescentfeeling“ spricht zum Thema CFS klare Worte. Er bezieht sich auf England, aber die gezielte Psychiatrisierung von CFS-Patienten wie vieler anderer Kranker ist sicher kein spezifisch britisches Problem. Die Videos von luminescentfeeling gehören zu den ergiebigsten Infoquellen zu CFS auf YouTube. Sie zeigen echte Forschung zu CFS, ebenso wie Informationen zur Psychiatrisierung.

In seinem Profil vergleicht luminescentfeeling die Psychiater, die gezielt und wissentlich CFS-Patienten psychiatrisieren, als Diebe, die für Profit über Leichen gehen. Er bezeichnet England bzw. dessen Medizinlandschaft, als „kleptocracy“, d.h. eine Herrschaft von Dieben.

Kein Land in Sicht

Gibt es jemals Hoffnung für die Opfer unseres Wirtschaftssystems?

Beim Schreiben dieses Blogs war es schwer, mich zu entscheiden, welche Beispiele aus der Gedenkliste ich auswählen sollte. Jeder Mensch sollte in Erinnerung bleiben. Ich habe mich bei den ausführlich beschriebenen Beispielen bewusst auf besonders junge Personen festgelegt. Bedenken wir, wie viele Jahre diese Menschen noch hätten leben können, wenn nicht ein rücksichtsloses Wirtschaftssystem mit Kranken Profit machen würden. Stattdessen mussten sie jung und qualvoll sterben.

Es sind sicher viele Millionen Menschen, die in diesem System „unter die Räder kommen“, die nichts tun können als verzweifelt auf Veränderung zu hoffen, und die eine solche nicht mehr erleben werden, sollte es sie jemals geben, weil sie, sozusagen als Opfer der Wirtschaft, in jungen Jahren sterben. Was macht es für einen Unterschied, ob ein Mensch an CFS in der Psychiatrie stirbt, durch Umweltgifte an Krebs oder in einem armen Land verhungert?

Wir können nur hoffen, dass Sophia Criona irgendwann, und so bald wie möglich, Recht behält, mit dem Satz „Then it will all have been worth it…“

Autor: Amalie, CSN – Chemical Sensitivity Network, 22. Juli 2009

Weitere interessante Blogs von Amalie:

Psychotherapie – Die Rolle von Erwartungen

Psychotherapie = Placebo

Häufig genügt es, Hoffnung zu wecken, um Verbesserungen zu bewirken. Luborsky [1] fand in mehreren Studien, dass „die beste Basis für die Voraussage späterer Verbesserungen – die in den ersten Sitzungen geäußerte [Erwartung] schneller positiver Ergebnisse ist“. ([2], S. 107)

Lazarus [3] behandelte Patienten, die eine Hypnose wollten, statt dessen mit einer Standardentspannungstechnik. Die Patienten zeigten eine größere subjektive und objektive Verbesserung, wenn er wo immer möglich statt der Worts „Entspannung“ den Begriff „Hypnose“ gebrauchte.

Die Einstellungen und Erwartungen von Therapeut und Patient können großen Einfluss haben. Um diesen Effekt zu nutzen und Erwartungen zu koordinieren, kann man die Therapie mit einem „role-induction interview“ (ein Gespräch, in dem die gegenseitigen Erwartungen besprochen werden) beginnen. In mehreren Studien verbesserte dies das Ergebnis. In einer Studie über die Behandlung benachteiligter Menschen, die in Regel weniger mit der Kultur der Psychotherapie vertraut sind, verbesserten sich zwei Drittel, wenn Therapeut und Patient eine solche Vorbereitung erfahren hatten. Wenn nur der Patient oder der Therapeut entsprechend vorbereitet wurde, sank die Quote auf die Hälfte und bei Fehlen der Maßnahme auf ein Drittel. Bei McHugh gehört ein solches Gespräch zur handwerklichen Standardvorgehensweise. ([2], S. 45, [4])

Wer ist für Placebos empfänglich?

Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Empfänglichkeit für Placebobehandlungen stark von Aspekten der unmittelbaren Situation abhängt, und weniger von dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. im Sinne der Big Five). In einer Studie von Frank ([2], S.144) wurde ein Teil der psychoneurotischen Patienten mit Placebos behandelt. Im Mittel ergab sich eine deutliche Verbesserung. Bei einigen hatte sich drei Jahre später ein Rückfall eingestellt, worauf hin die Behandlung wiederholt wurde. Die mittlere Verbesserung war wieder so groß wie beim ersten Mal, es gab jedoch keinen nennenswerten Zusammenhang zwischen der aktuellen Empfänglichkeit der Patienten für die Placebobehandlung (d.h. dem Ausmaß der erreichten Verbesserung) und der von vor drei Jahren.

Es gibt aber wohl einen Zusammenhang mit dem, was in der Literatur „locus of control“ (Kontrollüberzeugung) genannt wird. Menschen, die meinen, ihr Schicksal hänge vorwiegend von ihnen selbst ab, sprechen deutlich schlechter auf Placebobehandlungen an, als Menschen, die sich eher von durch von ihnen nicht kontrollierbare äußere Einflüsse bestimmt fühlen. ([2], S. 170)

Die Studie des National Institute of Mental Health (NIMH)

(„Nationales Institut für geistige Gesundheit“, öffentl. US-Einrichtung)

Eine weitere Möglichkeit, ein Analogon für eine Placebogruppe zu konstruieren, verfolgte die bekannteste, ambitionierteste und wichtigste Studie zur Effektivität von Psychotherapie, eine NIMH-Studie über die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsansätze bei Depressionen [5]. Der Hauptzweck bestand in einem Vergleich von interpersonaler Therapie und kognitiver Verhaltenstherapie. Als Vergleichsgruppen dienten eine Gruppe, die mit trizyklischen Antidepressiva behandelt wurde und eine weitere, die stattdessen ein Placebo bekam. 239 Patienten wurden nach einem Zufallsverfahren auf diese vier Gruppen aufgeteilt. 28 Therapeuten nahmen teil. Nach einer 16-wöchigen Behandlungszeit hatte sich der Zustand der Teilnehmer aller Gruppen nach allen der angelegten Kriterien verbessert. Dabei verbesserte sich die Medikamentengruppe am schnellsten. Bei Nachuntersuchungen nach 6, 12 und 18 Monaten wurden kaum Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt: „Obwohl es eine signifikante Verbesserung zwischen der Zeit vor und nach der Behandlung gab, fanden sich überraschend geringe Unterschiede zwischen den Behandlungsregimen bei Beendigung.“

Das Fehlen von Unterschieden lag dabei weniger an einem schlechten Abschneiden der Therapiegruppen, als an dem guten Ergebnis der Placebogruppe. Die Mitglieder der Placebogruppe hatten im Übrigen die niedrigste Rückfallquote.

Es gab jedoch deutliche Unterschiede in der Wirksamkeit in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung. Bei schwer Erkrankten war die medikamentöse Behandlung klar besser und das Placebo klar schlechter. Die Psychotherapien lagen etwa in der Mitte dazwischen. Weniger schwer Erkrankte sprachen auf alle Behandlungen gleich gut an, inklusive Placebos. Die relative Vorteilhaftigkeit medikamentöser Behandlung bei schweren Depressionen fand sich auch in vielen anderen Studien.

Die gefundenen Unterschiede gehen vermutlich auf die höhere Anfangswirksamkeit der Psychotherapien und insbesondere des Antidepressivums zurück. Bei den Patienten, die die Behandlung beendet hatten, waren die Unterschiede der Placebogruppe zu den anderen Gruppen praktisch vernachlässigbar. Je mehr Frühabbrecher einbezogen wurden, desto schlechter war die Placebogruppe im Vergleich.

Die Erfolgsquote nach der Behandlung lag bei den Therapiegruppen zwischen 51 und 70%. Die Quote war dabei von dem verwandten Kriterium für „Erfolg“ abhängig. Bei der Placebogruppe lag sie etwas niedriger, bei 29 bzw. 51%. Die erreichten Durchschnittswerte für den Zustand der Patienten nach der Behandlung unterschieden sich in der Placebogruppe jedoch praktisch nicht von den Therapiegruppen.([5],S. 201 ff., [6])

Weitere Metastudien

Lambert und Bergins Zusammenfassung verschiedener Metastudien [7] ergab ebenfalls keinen nennenswerten Vorteil von Psychotherapie gegenüber Placebos bei nicht zu schweren Fällen: dem typischen Psychotherapiepatienten geht es in 79% der Fälle besser als jemandem ohne Behandlung, bei Placebobehandelten lag die Quote bei 66%.[5]

Die „optimistische“ Sicht

Verfechter der These, Psychotherapien seien besser als Placebos, interpretieren derartige Ergebnisse jedoch „optimistischer“. Ihrer Ansicht nach zeigen sie, dass echte Therapien deutlich besser wirksam sind als Placebobehandlungen oder allgemeine unterstützende Maßnahmen. (Einige Details zu diesen Interpretationsfragen lest ihr im nächsten Beitrag.) So kommt Lambert auch zu dem Schluss, dass Psychotherapie bei 75% der Fälle hilfreich ist. 75% „gesunden“ sogar wieder, dies aber erst nach 55 Sitzungen. Nach 20 Sitzungen kam er auf eine Wirksamkeit von 50% (Wir erinnern uns: bei der NIMH Studie von oben erreichte die Placebogruppe je nach Kriterium für „Gesundung“ eine Wirksamkeit von 29 bzw. 51% nach durchschnittlich 16,2 Sitzungen und unterschied sich im Mittelwert der Verbesserung nicht von „echten“Therapien.).

Die von Lambert beobachtete höhere Wirksamkeit bei langer Behandlungsdauer könnte auch auf einen Regressionseffekt zurückzuführen sein (s. Teil 2). Denn die durchschnittliche Dauer derartiger Krankheitsepisoden (Depressionen und Angsterkrankungen) beträgt nach Schätzungen aufgrund epidemiologischer Daten [8] [9] etwa zwischen ein und zwei Jahren. Wenn man bedenkt, dass die Betroffenen erst nach einer gewissen Zeit um professionelle Hilfe nachsuchen und diese meist erst nach einer gewissen Wartezeit auch erhalten, spricht hier viel für einen signifikanten Regressionseffekt. Das erklärt auch zumindest teilweise die immer wieder gefundene höhere Wirksamkeit von Langzeittherapien gegenüber kürzer dauernden Interventionen (jüngst z.B. wieder in).

Die offizielle Sicht der von den US NIMH geförderten Initiative Therapyadvisor für evidenzbasierte Therapien ist:. Darstellung Demnach liegt die Wirksamkeit von Therapien bei 75%, von Placebos bei 40% und ganz ohne Behandlung ist man bei ca. 18% Verbesserung (über die empirischen Grundlagen dieser Statistik findet man dort leider keine nachvollziehbaren Hinweise).

Die Qualifikation der Therapeuten spielt kaum eine Rolle…

Darüber hinaus spielt auch die Erfahrung und Ausbildung des Therapeuten praktisch keine Rolle: professionelles Training hat nur einen geringen Einfluss auf die Behandlungsergebnisse.

Smith, Glass und Miller [11] fanden in ihrer Übersichtsuntersuchung, dass Therapeuten mit Ph.D. oder M.D. bzw. ohne weiterführende Titel vergleichbare Ergebnisse produzierten. Eine andere umfassende Studie [12] fand ebenfalls keine derartigen Zusammenhänge. Professionell ausgebildete Therapeuten und Paraprofessionelle bzw. Laientherapeuten erzielten vergleichbare Erfolge. Weitere Studien von Hattie et.al. [13] sowie die Metaanalyse von Reinecker et.al. [14] erhärten das Ergebnis.

Es gibt jedoch Therapeuten, die systematisch erfolgreicher sind als andere, d.h. „bessere“ und „schlechtere“. Dies hat jedoch wenig mit der Ausbildung zu tun.

…aber das Vertrauen

Abschließend sei noch eine Studie zitiert, die erkennen lässt, wie die Reaktion auf ein Placebo von dem Vertrauen in den behandelnden Arzt abhängt ([2], S. 145,[10]). Dabei gab man einem Teil der Patienten („Psychoneurotiker“) Pillen-Placebos als Behandlung und sagte ihnen ausdrücklich, worum es sich dabei handelte. Die genauen Instruktionen lauteten: „Vielen Leuten mit ihrer Erkrankung wurde mit etwas geholfen, was man manchmal Zuckerpillen nennt, und wir glauben, dass auch Ihnen eine sogenannte Zuckerpille helfen könnte. Wissen Sie, was eine Zuckerpille ist? Eine Zuckerpille ist eine Pille, in der überhaupt kein Medikament drin ist. Ich denke, diese Pille wird Ihnen helfen, wie sie schon so vielen anderen geholfen hat. Wollen Sie diese Pille ausprobieren?“

Den Patienten wurde gesagt, sie sollten die Pille dreimal täglich über eine Woche nehmen. Danach würde dann eine endgültige Empfehlung für eine Behandlung gegeben. Von den vierzehn Patienten, die wiederkamen (der fünfzehnte wurde von dem Spott seines Ehepartners über die inaktive Pille davon abgebracht) berichteten alle über Verbesserungen.

Das mag zum Teil auf das Versprechen einer speziellen Behandlung nach einer Woche zurückzuführen sein. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die, die sich sicher waren, ein Placebo bzw. ein Medikament zu nehmen, über eine größere Verbesserung berichteten, als die, die Zweifel hatten. Die, die sich in der einen oder anderen Richtung sicher waren, knüpften ihre Sicherheit an ihre Überzeugung, dass der Arzt ihnen damit helfen wollte. Ähnliche Ergebnisse existieren auch für klassisch medizinische und chirurgische Behandlungen.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 21. Juli 2009

Teil I, II, III und IV sowie weitere Artikel zum Thema:

Literatur:

[1] Luborski, L. (1976). Helping Alliances in Psychotherapy in: Claghorn J. L., Successful Psychotherapy, S. 92-118. Brunner/Mazel.

[2] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins Univesity Press.

[3] Lazarus, A.A. (1973). „Hypnosis“ as a Factor in Behavior Therapy, Int. J. Exp. Hypn. 21:25-31.

[4] Jacobs et. al. (1972). Preparation for treatment of the disadvantaged patient: Effects on disposition and outcome, Amer. J. Orthopsychiatry 42:666-74.

[5] Horwitz, Allen V. (2002), Creating Mental Illness, University of Chicago Press.

[6] Elkin et. al. (1989). NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: General Effectiveness of Treatment, Archives of General Psychiatry 46:971-82.

[7] Lambert & Bergin (1994). The Effectiveness of Psychotherapy, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4th ed., ed. Bergin & Garfield, 143-190, John Wiley & Sons.

[8] Shepherd & Gruenberg (1957). The Age of Neuroses, Millbank Memorial Fund Quarterly 35: 258-65.

[9] Ingram & Smith, Mood Disorders, in: Maddux & Winstead (ed.) (2008). Psychopathology, Routledge/Taylor &Francis.

[10] Park & Covi (1965). Non-blind Placebo Trial: An Exploration of Neurotic Patients – Responses to Placebo when its inert Content is Disclosed, Archives of General Psychiatry 12:336-45.

[11] Smith, Glass, Miller (1980). The Benefits of Psychotherapy, Jons Hopkins University Press.

[12] Berman, Norton (1985). Does Professional Training Make a Therapist More Effective?, Psychological Bulletin 98:401-7.

[13] Hattie, J. A., et al. (1984): Comparative effectiveness of professional and paraprofessional helpers. Psychological Bulletin, Vol. 95, 534-541.

[14] Hans Reinecker in: Jürgen Margraf, Silvia Schneider (Hg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie: 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen, Springer, 2008, S. 95.

Psychopharmaka: Wirksam? Unwirksam? Schädlich? Placebo?

Psychopharmaka, generelle Hilfe in Frage gestelltNeben der Psychotherapie ist auch die medikamentöse Therapie bei psychischen Problemen, oder was man dafür hält, heute weit verbreitet. Von deren Verfechtern erfährt der Kranke nichts über sein verdrängtes Sexualleben sondern wird über die Defizite seiner Hirnchemie aufgeklärt. Auch hier kommt ihm der kulturell gelernte Glaube an die Effektivität von Medikamenten und die Macht und Autorität der Wissenschaft zu Gute. Um derartige Effekte zu berücksichtigen, wird die Wirksamkeit in doppelt blinden Placebo Vergleichsstudien ermittelt, was bei Psychotherapien leider nicht geht. (Auf Probleme im Zusammenhang mit Nebenwirkungen soll in diesem Beitrag nicht eingegangen werden.)

Psychosen

Medikamente zur Behandlung für Psychosen (Neuroleptika) schneiden dabei für die spezifische Behandlung ebenderselben recht gut ab und sind heute ein wichtiges Instrument bei der Behandlung derartiger Erkrankungen. Bei diesen Erkrankungen nimmt man an, dass biologische Fehlfunktionen vorliegen. Es geht dabei im Wesentlichen um das, was man heute als Schizophrenie und als bipolare Störung bezeichnet. Das betrifft jedoch nur eine Minderheit der Personen, die man heute als „psychisch krank“ einstuft.

„Neurosen“

Medikamente für andere Erkrankungen als Psychosen werden i.a. als Antidepressiva bezeichnet und haben sich nach gängiger Meinung als mäßig wirksam erwiesen. Bei Depressionen etwa bei zwei Dritteln der Betroffenen.

Die Studienpraxis

In der Vergangenheit wurden jedoch von den Studien, die Bestandteil des Zulassungsverfahrens bei der amerikanischen FDA waren, meist nur solche veröffentlicht, die positive Ergebnisse für die Wirksamkeit der Psychopharmaka fanden. In einer Metaanalyse von 2008 [1] waren von 74 Studien 38 positiv und 36 negativ bzw. nicht positiv. Von den positiven waren alle bis auf eine veröffentlicht worden, von den negativen dagegen nur drei, 11 weitere wurden so präsentiert, dass der Eindruck eines positiven Ergebnisses erweckt wurde, während die restlichen 22 nie publiziert wurden.

Aufgrund der publizierten Literatur musste so der Eindruck entstehen, dass 94% der Studien positive Ergebnisse brachten, während es in Wirklichkeit nur 51% waren. Die „publizierte Wirkung“ war größer als die tatsächliche. An der herkömmlichen Meinung hinsichtlich der Erfolgsrate einer solchen Behandlung muss also gezweifelt werden.

In einer ebenfalls auf FDA-Daten gestützten Metastudie über Antidepressiva der neuesten Generation (SSRIs) [2] erreichten die Psychopharmaka nur bei extrem depressiven Patienten einen klinisch bedeutsamen Vorteil gegenüber Placebos. Dies jedoch nicht im Sinne einer besseren Wirkung der Medikamente, sondern wegen eines Rückgangs der Placebowirkung.

Die Auswahl der Probanden

In einer neuen umfassenden Studie [3] wird über verzerrende Effekte durch die Auswahl der Probanden bei für die Zulassung durch die FDA eingereichten Studien berichtet. Dort betrug die Remissionsrate bei Depressionen in der für die Studien ausgewählten Gruppe 34,4% gegenüber nur 24,7% bei Depressionspatienten, die man nicht für geeignet hielt. Der Anteil der Patienten, die auf die getesteten Medikamente ansprachen, lag in der Studiengruppe bei 51,6%, in der „nicht geeigneten“ dagegen nur bei 39,1%. Auch hier liegt eine Quelle von Verzerrungen vor, die zu einer systematischen Überbewertung der Wirksamkeit dieser Medikamente führt.

Unspezifische Effekte

Andere empirische Ergebnisse lassen vermuten, dass ein großer Teil des (ja auch bei den aktiven Medikamenten wirksamen) Placeboeffekts in Studien über Antidepressiva schlicht von der Anzahl der Patientenkontakte während der Studien abhängt. Wenn die Patienten öfter zu den Ärzten einbestellt werden, ist der Erfolg größer, unabhängig davon, ob sie ein Placebo oder ein Medikament erhalten haben. Es fand sich eine Verbesserung um 0,6 bis 0,9 Punkte auf der Hamilton Skala zur Messung der Depressionsintensität für jeden zusätzlichen Besuch während der Studien.[5]

Die Biologie

Unser wachsendes biologisches Verständnis zeigt, dass Depression eine extrem komplexe Verhaltensvariante ist, die von einer großen Anzahl von biologischen Mechanismen, Umwelteinflüssen und genetischen Dispositionen reguliert wird, von denen jeder nur einen kleinen Beitrag zum Krankheitsbild leistet. Von Medikamenten, die vermutlich nur einen einzigen Mechanismus beeinflussen (z.B. die SSRIs das Serotonin), kann man daher auch nur einen kleinen Einfluss auf die Gesamtheit der Biologie der Depression erwarten. Es sind von daher im Mittel von vornherein auch nur kleine Effekte zu erwarten. [5]

Unspezifische Wirkung

Antidepressiva zeigen vergleichbare Wirkungen bei Kranken wie auch bei gesunden Menschen und tun dies generell unabhängig von der vorliegenden Erkrankung. Sie wirken also nicht krankheitsspezifisch, was den (und in der Literatur auch strittigen) Krankheitsstatus der damit behandelten Zustände in Frage stellt. Es wurde daher auch schon vorgeschlagen, derartige Substanzen statt als Antidepressiva als generelle „psychische Energetisierer“ zu bezeichnen.[4]

Fragwürdige Praxis

All dies lässt die generalisierte Anwendung von Antidepressiva fragwürdig erscheinen. Auch werden sie zu einem großen Teil Menschen verschrieben, die nicht den Populationen angehören, an denen klinische Studien vorgenommen wurden. Hier fehlt jede empirische Grundlage für die Wirksamkeit. Die Behandlungsdauer liegt häufig über der in klinischen Studien untersuchten. Nebenwirkungen werden meist nur am Rande erwähnt und nicht systematisch untersucht.[5]

Der Nutzen

Aufgrund des oben Gesagten sind Antidepressiva wahrscheinlich nur bei ausgewählten Patienten mit schwerer Depression angezeigt. Vermutlich vorzugsweise nur bei solchen, die schwere Symptome haben und sonst auf nichts anderes angesprochen haben. Für die meisten Patienten mit gewissen depressiven Symptomen, die gegenwärtig Antidepressiva nehmen, wären Antidepressiva nicht die bevorzugte Option gewesen. Placebos wären praktisch genau so gut, wenn nicht besser, und wären toxisch unbedenklich und kostenlos.[5]

Die Moral von der Geschichte?

Loannidis wirft die Frage auf, ob es wirklich unmoralisch wäre, den Mythos dieser Pillen zu zerstören, angesichts der Tatsache, dass der größte Teil der Wirkung von Antidepressiva nur den Placeboeffekt widerspiegelt und die meisten Patienten nur so viel profitieren, wie der Placeboeffekt erlaubt. Man könnte sagen, dass eine Bevölkerung, die darüber informiert ist, dass Antidepressiva nicht wirklich wirksam sind, uns der Vorteile beraubt, die wir durch den Placeboeffekt bekommen, wenn wir diese Medikamente verabreichen. Ist es jedoch nicht andererseits unmoralisch, die Patienten zu belügen, und ihnen vorzuspiegeln, eine Behandlung sei wirksam, wenn sie es in Wahrheit nicht ist? Darüber hinaus: Wenn wir den Placeboeffekt benutzen wollen, wodurch ist es dann gerechtfertigt, dass das die Gesellschaft insgesamt mehr kostet als fast jede andere (wirklich wirksame) pharmakologische Behandlung für irgendeine andere Krankheit? Es ist schon etwas verrückt, für unsere Gesellschaft zu akzeptieren, dass jemand ein Vermögen mit dem offiziellen Verkauf von Placebos macht. [5]

Die Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapien (über Placeboeffekte hinaus) sind jedoch nicht besser. [5]

Was man darüber weiß, erfahren wir in Teil Vier.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 11. Juli 2009

Teil I und II, sowie weitere Artikel zum Thema:

Literatur:

[1] Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, Rosenthal R: Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008, 358(3):252-60.

[2] Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, Moore TJ, Johnson BT: Initial severity and antidepressant benefits: a metaanalysis of data submitted to the Food and Drug Administration.PLoS Med 2008, 5(2):e45.

[3] Wisniewski S, et. al. „Can phase III trial results of antidepressant medications be generalized to clinical practice? A STAR*D report“, Am J Psychiatry 2009; 166: 599-607. http://www.medpagetoday.com/Geriatrics/Depression/14209

[4] Horwitz, Allen V. (2002), Creating Mental Illness, University of Chicago Press.

[5] John PA Ioannidis (2008). Effectiveness of antidepressants: an evidence myth constructed from a thousand randomized trials?, Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 2008, 3:14.

Psychiatrisierung – Ein Irrweg bei Multiple Chemical Sensitivity

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Die Einstufung von MCS als psychiatrische Erkrankung ist hierzulande leider immer noch recht verbreitet.

Der Psychologe Robyn Dawes weist darauf hin ([1], S.124), dass ein Patient, der einmal als psychiatrischer Fall eingestuft wurde, häufig fürderhin mit seinen Symptomen und Problemen nicht mehr ernst genommen wird. Wenn Allgemeinärzte die Symptome ihrer als nicht psychisch gestört eingestuften Patienten nicht ernst nehmen, riskieren sie ihre Lizenz oder zumindest, ihre Patienten zu verlieren. Es ist jedoch völlig akzeptabel für einen Psychiater o.ä., die Probleme eines Patienten zu ignorieren, wenn diese erst einmal als psychogen klassifiziert worden sind.

Durch die Einstufung als psychiatrische Erkrankung müssen die Betroffenen mit ihren Anliegen nicht mehr ernst genommen werden. Da die Ursachen des Elends der Betroffenen nicht anerkannt (und häufig nicht einmal erkannt) werden, gibt es in der Regel keine adäquate Hilfestellung. Behörden und Mitmenschen erhalten quasi die Lizenz, ihre Probleme zu ignorieren.

Das Experiment

Die Effektivität einer derartigen Kategorisierung wurde z.B. von David Rosenhan schon in den Jahren 1968 bis 1972 eindrücklich demonstriert [2]. Im Rahmen eines Experiments ließen sich mehrere „normale“ Personen in eine psychiatrische Klinik einweisen, verhielten sich dann aber weiterhin völlig normal. In keinem Fall wurden sie von den dortigen Experten als „Normale“ identifiziert und bis zu ihrer Entlassung wie „Geisteskranke“ behandelt (vgl. „Das Experiment — Acht flogen über das Kuckucksnest“, NZZ 09/2002..


Rosenhans Pseudopatienten wurden dabei in den von ihnen geäußerten kleinen und großen Anliegen wegen ihrer vermeintlichen Krankheit wie Unpersonen behandelt. Dieser Prozess ähnelt stark der Art, wie Kulte ihre Mitglieder für die Ideen ihrer Gruppe empfänglicher machen, indem sie systematisch ihre Individualität und Fähigkeit zu unabhängigem Denken unterminieren. ([3], S. 282)

Die Wirklichkeit

Bei MCS-Betroffenen können schon einige Stichworte über ihre Krankheit genügen, um im Vorbeigehen mit einer psychiatrischen Diagnose belegt zu werden. Wichtige Befunde werden oft bei Begutachtungen ignoriert. Als MCS-Kranke/r hat man häufig das Gefühl, in einem derartigen Experiment gefangen zu sein. Und leider scheint der Experimentator, der einen wieder rausholt, wenn es denn gefährlich wird, verloren gegangen zu sein.

Seit Milgrams einschlägigen Experimenten (Milgram-Experiment) ist bekannt, wie der Durchschnittsmensch auf von autoritativen Experten ermutigte Aufforderungen, die Hilferufe seiner Mitmenschen zu ignorieren und sie weiter zu quälen, reagiert: ignorieren und weitermachen.

Dies hat gravierende Konsequenzen für die Betroffenen MCS-Kranken

Wer nicht die finanziellen Mittel hat, sich eine an seine Bedürfnisse angepasste „saubere“ Umgebung zu schaffen, ist zu dauerndem Siechtum und einer schleichenden Verschlimmerung seines Zustands verurteilt, da ihm angemessene Hilfe verweigert wird.

Was es heißt, eine chronische Krankheit zu haben

Chronische Krankheiten sind für die Betroffenen mit massiv negativen Bedeutungen verbunden, die wiederum die physischen Manifestationen der Krankheit verschlimmern können. Der Zustand der Demoralisierung ist durch Verunsicherung, Verwirrung und dem subjektiv empfundenem Verlust der Kontrolle über die Unwägbarkeiten der Umwelt gekennzeichnet. Er ist verbunden mit dem Gefühl von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und geringem Selbstwertgefühl. Solche Krankheiten führen für die Betroffenen zum Verlust normaler sozialer und ökonomischer Rollen und berauben sie so ihrer gewohnten Quellen von Lebenszufriedenheit und Kompetenzerfahrungen. Wenn die Betroffenen und ihre Familien ihr tägliches Leben um die Krankheit und ihre Behandlung herum organisieren, besteht für sie die Gefahr, soziale Kontakte zu verlieren, die für die Aufrechterhaltung ihrer Moral und ihres Lebensmuts wichtig sind. Im Angesicht der Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Krankheit verliert so mancher die Hoffnung, sich je wieder gut zu fühlen und zu funktionieren. Die Demoralisierung wird noch verstärkt, wenn wichtige Bezugspersonen die Situation nicht verstehen und auf die eigenen Ängste und ihre Verunsicherung mit Entzug der emotionalen und materiellen Unterstützung reagieren. ([3], S. 118 ff.)

Wenn falsche Ursachen suggeriert werden

Wenn dann die empfohlene „Therapienicht hilft und man zu der Überzeugung kommt, dass einem keine potentiell erfolgreichen Handlungsweisen offen stehen, dass man nichts „richtig“ machen kann, dann können Depression, Hoffnungslosigkeit und negatives Denken die Folge sein ([4], S. 267).

Weil einem keine Chance gegeben wird, den bekannten Auslösern zu entkommen, und weil man in einem Psychotherapiezirkus gefangen ist, der einem nicht hilft und in dem einem in kafkaesker Weiser erzählt wird, man könne ja auch anders, wenn man nur wolle. Jedoch ohne dass einem jemand sagen könnte, was man denn nun anders machen soll, damit es besser wird. Oder wie man herausfinden könnte, wo denn nun der angebliche Fehler liegt. Es gab Zeiten, da vermutete man in derartigen double-bind Situationen den Auslöser für Schizophrenie (Doppelbindungstheorie)

Dem Patienten einzureden, er müsse die Verantwortung für Probleme übernehmen, die sich mit keiner noch so großen Anstrengung lösen lassen, ist kontraproduktiv und kann desaströse Folgen haben. Zu dem gesundheitlichen Schaden gesellt sich dann noch die iatrogene seelische Not.

Ein Schicksal

Ein dreiundsechzigjähriger MCS-kranker Mann beschrieb seine Lage so:

„Meine Träume wurden zerstört. Das Leben ist nur noch eine Frage des Überlebens, als wäre ich in einem Gefangenenlager. Meine Selbstachtung ist beschädigt dank der Feindseligkeit und dem Spott von Arbeitskollegen und dem Management. Jahre mit schlechter Gesundheit und zunehmend hartnäckige Hindernisse haben mich traurig und bitter gemacht – die Zukunft ist düster. So wie sich meine Gesundheit verschlechtert und mein Geld weniger wird, fürchte ich, mir wird am Ende nur eine Option bleiben.“ ([5], S. 43)

Ignoranz regiert…

Dabei weiß man es längst besser. Keiner kann heute mehr sagen, es wäre unbekannt, wie effektive Hilfe für MCS-Kranke aussehen sollte.

Die beste Erhebung zu dem Thema „Was hilft wie gut“ beruht auf einer umfangreichen Befragung Betroffener und stammt von Pamela Reed Gibson [6].

Danach ist der Goldstandard für die Behandlung von MCS die Vermeidung von symptomauslösenden Substanzen. 94,5% der Befragten fanden die Vermeidung von Auslösern sehr oder etwas hilfreich.

Psychotherapie als Mittel um MCS zu „heilen“ fanden dagegen nur 20,2% sehr oder etwas hilfreich, 14,6% dagegen schädlich oder sehr schädlich.

…und entscheidet über Menschenleben

Durch „Gutachten“ vermeintlicher Experten und unter dem Vorwand psychiatrischer „Diagnosenwird diese effektive Hilfe verweigert und die Betroffenen werden ihrem Schicksal überlassen oder gar zu kontraproduktiven „Therapien“ gezwungen. Dies fällt umso leichter, als die Kranken oft zu geschwächt sind, um sich wirkungsvoll zur Wehr zu setzen. Es ist oft schon eine Herausforderung an die physische und psychische Stabilität, im Kampf mit Behörden und Rententrägern das bloße materielle Überleben zu sichern. Einige verzweifeln und nehmen sich das Leben.

Auf diese unrühmliche Weise spielt die Psychiatrie leider eine wichtige Rolle im Leben vieler MCS-Kranker.

Auch in der breiten Öffentlichkeit spielen die Psychowissenschaften heute eine wichtige Rolle. Von den Medien werden Psychologen und Psychoanalytiker gern als Sachverständige zu Themen aller Art herangezogen. Sie sind wichtige Gutachter in Strafprozessen und entscheiden wer unzurechnungsfähig oder unmündig ist oder in eine geschlossene Anstalt gehört. Zuweilen auch wer eine Rente oder andere Unterstützung bekommt oder nicht.

Der Mythos wird gepflegt

Und wer kennt nicht den Fernsehdoktor, der schnell die wahren Hintergründe für die vorgeschobenen körperlichen Symptome seiner Patienten erkennt und aufgrund seiner überragenden empathischen Fähigkeiten in kurzer Frist das psychologische Drama gut enden und den eingebildeten Kranken gesunden lässt? Oder den Fernsehpsychologen, der flugs die Menschen durchschaut, ihre wahren unbewussten Motive erkennt und zielgerichtet zu manipulieren weiß? Auch die neuere Generation von Star Treck war nach Ansicht der Produzenten offenbar ohne Psycho-Beraterin nicht mehr glaubwürdig.

Deshalb soll in einigen weiteren Beiträgen das Thema näher beleuchtet werden. Immer getreu dem Freudschen Prinzip, dass nur die Wahrheit heilt.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 3. Juli 2009

Literatur:

[1] Dawes, R.M. (1994). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: The Free Press. Paperback, September 1996.

[2] David Rosenhan, On Being Sane in Insane Places, 179 Science 250 (1973).

[3] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins Univesity Press.

[4] Mischel, Walter, Yuishi Shoda, Ronald E. Smith (2003). Introduction to Personality: Toward an Integration, John Wiley & Sons.

[5] Pamela Reed Gibson (2006), Multiple Chemical Sensitivity: A Survival Guide, Earthrive Books.

[6] Gibson, P. R., Elms, A. N. M., & Ruding, L. A. (2003). Perceived treatment efficacy for conventional and alternative therapies reported by persons with multiple chemical sensitivity. Environmental Health Perspectives, 111, 1498-1504.