Radioaktivität: Die Macht der Fahrlässigkeit

Ganze Wohnviertel radioaktiv verstrahlt

Es war September 1987, als der wahrgewordene Alptraum die brasilianische Stadt Goiânia heimsuchte. Bis heute wird versucht, dieses Schicksal, das dort mehreren Menschen das Leben kostete und hunderten weiteren Menschen ein unendlich großes Leid verschaffte, möglichst zu verschweigen. Es ereignete sich im Armenviertel der Stadt und kaum jemand hat hier in Europa wirklich je etwas davon erfahren. Die Auswirkungen dieses Unglücks sind bis heute aktuell und brisant.

Diebstahl für das blanke Überleben

Zwei jungen Männer, Wagner Mota und Roberto Santos Alves, grade einmal 19 und etwas über 20 Jahre jung, waren wie so oft auf einem Streifzug durch das nächtliche Viertel unterwegs. Auf der Suche nach Gegenständen, die sie zu Geld machen könnten. Sie hatten sich auf das Sammeln von Altmetall und Papierresten spezialisiert, um dies bei einem Schrotthändler gegen Geld einzutauschen. Manche mögen diese beiden jungen Männer als Diebe bezeichnen, doch das macht ihr Schicksal nicht einfacher. Sie waren verzweifelt und zu Hause warteten ihre Familien auf ein Stück Lebenskraft. Die Nahrungsmittel und das Trinkwasser waren knapp und fast unerschwinglich.

Strahlender Sondermüll

Es war ein wunderschöner Abend des 13. September 1987, als die Beiden in das verlassene Goiânische Institut für Radiotherapie eindrangen. Dieses Institut war eine verlassene Privatklinik in der Stadt, dort entwendeten sie mit einer Schubkarre ein seit zwei Jahren ausgedientes Strahlentherapiegerät, weil sie das Metall für wertvoll hielten und nicht wussten, was es für ein Gerät war. Beide hatten so ein Gerät niemals zuvor gesehen, denn eigentlich müssen diese Geräte als Sondermüll entsorgt werden und kaum ein Armer bekommt so etwas jemals zu Gesicht, da sich diese Menschen kostenaufwendige Therapien nicht leisten können. Die Entsorgung dieses Gerätes hätte eigentlich durch die 4 ärztlichen Leiter der Privatklinik stattfinden müssen, diese hatten das Gerät jedoch sich selbst überlassen, vermutlich aufgrund der hohen Entsorgungskosten. Wagner und Roberto schoben das Gerät mit Hilfe ihrer Schubkarre in Robertos Hinterhof und fingen an, es nach und nach auseinander zu bauen.

Leuchtendes Pulver

Es gelang ihnen nicht, das Gerät vollständig ganz klein zu hauen und in Einzelstücke auseinander zu nehmen. Nach fast zwei Wochen, nachdem sie das Gerät entdeckten und mitnahmen, versagten ihre Kräfte immer mehr und sie wurden krank. Sie verkauften das Gerät am 25. September kurzerhand komplett, an den Schrotthändler Desair Ferreira, um daraus wie üblich Profit zu schlagen. Der Schrotthändler fing an das Gerät eigenhändig mit seinem eigenem Werkszeug weiter auseinander zu bauen. Er entdeckte in dem Gerät einen Bleibehälter, diesen schlug er mit einem Meißel auf und entdeckte darin ein Pulver, das in der Dämmerung wunderschön leuchtete. So etwas Schönes hatte er vorher noch nie gesehen, er rief seine Frau, seine Nachbarn und alle herbei. Von diesem herrlich leuchtenden Pulver waren alle sehr begeistert, wie Kinder die ganz besondere Süßigkeiten entdeckten, wollten nun alle etwas von dem leuchtendem Pulver haben, das aussah wie Salz und fast wie von selbst auf der Haut kleben blieb.

Spaß, so kostbar wie ein Diamant

Sie rieben sich damit ein, malten sich Herzchen auf die Backen, Sterne auf die Stirn, sie zeichneten Zeichen auf die Wände, sie tanzten, lachten, waren fröhlich wie schon so lange nicht mehr in ihrem armen trostlosem Leben, das vom schweren Alltag der brasilianischen Slums gezeichnet war. Endlich hatten sie etwas, was niemand zuvor jemals gesehen hatte, etwas das ihnen vielleicht ein bisschen Glück bringt, etwas wie ein kostbarer Diamant. Das musste gefeiert werden. Es wurde aus den letzten Habgütern ein Abendessen organisiert, dieser Abend sollte der schönste Abend ihres Lebens werden.

Rätselhafte Erkrankung im Slum

Plötzlich wurden alle Menschen krank. Maria Gabriela Ferreira, die Frau des Schrotthändlers, bemerkte, dass diese Erkrankung aller Freunde gleichzeitig auftrat. Sie führte es zuerst auf ein gemeinsames Getränk des Abends zurück. Alle litten unter Erbrechen, Durchfall, Fieber, Hautausschläge und vieles mehr. Man dachte an eine Lebensmittelvergiftung, oder an eine neuartige Tropenkrankheit, an Allergien, an alles Mögliche, nur nicht an das Eine, das Undenkbare. Die konsultierten Ärzte tappten im Dunkeln, sie waren völlig ratlos, fanden keine Viren und keine Bakterien, keine Anzeichen einer Immunreaktion. Diese plötzliche Erkrankung war ein großes Rätsel.

Das schöne Pulver in Verdacht

Am 28. September verdächtigte die Frau des Schrotthändlers, Maria Gabriela Ferreira, das schöne Pulver als Krankheitsursache. Sie brachte den Bleibehälter, worin sich das Pulver befand, in ein Krankenhaus. Der diensthabende Arzt vermutete sofort korrekterweise, dass es sich bei dem Pulver um radioaktives Cäsium-137 handeln könnte. Er brachte den Behälter außerhalb des Krankenhauses in den Garten. Maria hatte den Behälter zum Glück während des Transportes in das Krankenhaus nicht geöffnet, sie transportierte den Behälter in einer Plastiktüte im Bus und hatte ihn auch im Krankenhaus nicht geöffnet, was vielen Menschen das Leben rettete. Aus dem Behälter waren bis dahin ca. 90% der Radioaktivität entwichen. Laut offiziellen Angaben war die Strahlung im Bus nicht gesundheitsgefährdend.

Ganze Viertel verstrahlt

Einen Tag später, am 29. September 1987, wurde durch den Spezialisten Walter Mendes mittels eines Szintillationszählers die Verstrahlung der Familie Ferreiras und deren Wohnumgebung festgestellt. Das gesamte Viertel war betroffen. Die Radioaktivität war über mehrere Wohnbezirke verschleppt worden, ganze Straßenzüge und Plätze waren kontaminiert. Zuerst hieß es, die Strahlenwerte seien nicht gravierend. Die Regierung wurde beschuldigt, der Zivilbevölkerung alarmierende Daten vorzuenthalten, um den Unfall zu vertuschen. Vor allem auch zu vertuschen, dass die Klinik das Gerät nicht sorgfaltsmäßig entsorgte.

Tote und schwer Verletzte – alles unter Kontrolle

Die fast 2.000 Menschen der unmittelbaren Umgebung wurden in das naheliegende Olympiastadion gebracht und dort versorgt. In der Zwischenzeit erlitten zahlreiche Personen zum Teil so hohe Strahlendosen, dass vier Personen in unmittelbarer Zeit starben und 28 Personen strahlungsbedingte Hautverbrennungen erlitten. Die am schwersten verstrahlten Opfer, darunter auch Kinder, wurden in einem der Krankenhäuser der Stadt in einem leer geräumten Flügel separiert abgeliefert, sie blieben dort zunächst ganz auf sich allein gestellt. Ärzte und Pfleger wagten sich nicht zu ihnen, wegen der hohen Strahlung, die von diesen kontraminierten Patienten ausgingen. Die Behörden, die viel zu lange versucht hatten den Vorfall möglichst vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, versuchten sich in Beschwichtigung. Man habe die Lage unter Kontrolle, alles sei in Ordnung, es gebe keinerlei Strahlungsgefahr.

Verstrahlte Menschen und Tiere, kontaminierte Häuser und Plätze

Insgesamt wurden in den darauffolgenden Wochen 112.800 Personen untersucht, 249 wurden als kontraminiert ermittelt. Von den Häusern der Umgebung wurden 85 Häuser als kontaminiert ermittelt, davon waren 41 Häuser massiv kontaminiert und wurden letztendlich komplett abgerissen. Die Tiere der Familien mussten getötet werden, der Boden von Gärten und öffentlichen Parkanlagen abgetragen, Grundstücke zubetoniert. Das Leben war noch schlechter geworden, als es in diesem Alptraum sowieso schon war. Vierzehn stark verstrahlte Patienten wurden schließlich nach Rio de Janeiro ins dortige Marinehospital geflogen, wo ein internationales Spezialisten-Team, das auf Strahlenschäden durch Kriegsverletzungen spezialisiert ist, auf sie wartete. Vier Patienten kehrten schon kurze Zeit später in schweren Bleisärgen zurück, sie waren an den Folgen der Kontamination verstorben. Darunter auch die kleine Tochter der Familie des Schrotthändlers, Leide Ferreira. Sie verstarb am 23. Oktober, nur wenige Wochen nach dem Unglück. Leide war das allererste Todesopfer dieser schweren Tragödie. Sie wurde nur 6 Jahre alt.

Qualvoller Strahlentod

Wenige Stunden nach ihr verstarben ihre Mutter, Maria Gabriela Ferreira (38), die Frau des Schrotthändlers. Sie starb ebenso qualvoll an inneren Blutungen und multiplem Organversagen, wie ihre kleine Tochter Leide. Kurz darauf starben auch die zwei jungen Gesellen des Schrotthändlers, Admilson und Israel, die beiden wurden nur 18 und 22 Jahre alt. Ihr Tod war ebenfalls aufgrund der Strahlenkrankheit furchtbar qualvoll.

Ausschreitungen auf Beerdigungen

Die Beerdigungen verliefen ebenso schrecklich, so als wenn das alles was geschehen war, nicht schon genug des Alptraumes war. Mitten in der Trauer kam es auf dem Friedhof zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen tausende Menschen aus Wut, Verunsicherung und Angst vor weiterer Verseuchung, gegen die Beerdigung und die Familie demonstrierten. Sie warfen Steine, schlugen mit Knüppel auf die Särge und den Trauerzug. Die Spezialsärge bestanden jedoch aus einem Bleimantel, so dass keine Radioaktivität ausweichen konnte, sie wogen bis zu 700 kg und mussten mit Hilfe eines Krans in die vorbereiteten Betongruben versenkt werden und vollständig einbetoniert werden.

Fahrlässigkeit verursachte jahrzehntelange, andauernde Folgen

Noch heute leiden die Menschen, die in diesem Gebiet wohnen, unter den gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung, nur weil ein unverantwortlich arbeitendes medizinisches Personal aus der Privatklinik sich nicht um die Entsorgung des hochgefährlichen Strahlentherapiegerätes kümmerte und dies der unwissenden Zivilbevölkerung zum Verhängnis wurde.

Nichts kann dieses Schicksal rechtfertigen. Auch nicht das Argument, dass das Gerät von zwei jungen Männern aus ihrer Armut heraus, aus einem leer stehenden Abrissgebäude gestohlen wurde. Ein solches Gerät gehört, genau wie andere Gefahrgüter, sachgemäß entsorgt. Die vier Ärzte, die verantwortlich für das Gerät waren, wurden von der Stadt verklagt.

Autor: Chris B. für CSN – Chemical Sensitivity Network, 5. August 2011

Informationsquellen, Dokumentationen: „Cesio 137“ – „Goiânia 1987“

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2 Kommentare zu “Radioaktivität: Die Macht der Fahrlässigkeit”

  1. PappaJo 6. August 2011 um 06:58

    Der Skandal ist mir irgendwie nicht in Erinnerung, kein Stück. Schon komisch, wenn sowas bei den ärmsten Leuten passiert interessiert das die Presse wohl nicht. OK, eine Meldung an einem Tag und aus den Augen aus dem Sinn. Bei anderen unsinnigen Ablenkungsmanövern berichten die wochenlang von.

  2. Politischandersdenkender 19. April 2015 um 11:28

    Darüber könnte ZDF History vielleicht eine Dokumentation machen.

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