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Der Fukushima-Dreck gehört nicht mehr uns!

Der Fukushima Eigentümer garniert den Schaden mit Beleidigung – Behauptet, der Fallout gehöre ihnen nicht

Im unmoralischen Milieu der Unternehmensbilanzen kann man Tokyo Electric Power Co. nicht einmal vorwerfen, es auf diese Weise zu versuchen.

TEPCO ist Besitzer des 6. Reaktoren Komplexes, der aufgrund des Erdbeben am 11. März 2011 havarierte und vom nachfolgenden Tsunami zerstört wurde. TEPCO muss mit 350 Milliarden Dollar Schadensersatz und Kosten für Aufräumarbeiten rechnen, aber auch mit möglicher Strafverfolgung wegen Zurückhalten kritischer Informationen, die unter Umständen das Freisetzen von Strahlung in einem gewissen Umfang verhindert hätten und wegen dem Betrieb der riesigen Anlage, nachdem sie vor der Unzulänglichkeit ihrer Katastrophen-Vorkehrungen gewarnt worden waren.

Als nun das Unternehmen am 31. Oktober vor dem Bezirksgericht in Tokyo vom Sunfield Golf Club verklagt wurde, der die Dekontaminierung der Golfanlage verlangte, versuchten die Anwälte von TEPCO etwas Neuartiges. Sie behaupteten, das Unternehmen würde nicht länger haften, weil es die aus seinen zerstörten Reaktoren ausgestoßenen radioaktiven Gifte nicht mehr länger „besitzen“ würde.

„Radioaktive Materialien aus dem Fukushima Reaktorblock 1, die verteilt wurden und niedergegangen sind, gehören den jeweiligen Landbesitzern, nicht TEPCO“, sagte das Unternehmen. Dies machte das Gericht, die Kläger und die Presse baff. Ein Anwalt des Golf Clubs sagte, „Uns bleibt die Spucke weg…

Das Gericht wies TEPCOs Auffassung zurück, sein Krebs verursachender Schadstoffniederschlag würde den Gebieten gehören, die kontaminiert wurden. Aber man habe ihnen das Zeug zurück zu geben. So ein dreister Unsinn kommt kaum ein zweites Mal auf der Welt vor.

Selbst Union Carbide, dessen giftige Gase 1984 in indischen Bhopal 15.000 Menschen umgebracht haben, hat es nicht so probiert. Dow Chemical, 2001 Käufer von Union Carbide, wehrt sich immer noch gegen Indiens Schadensersatzforderungen von 1,7 Milliarden Dollar. Vielleicht sollte Dow TEPCOs Nummer probieren: „Das Gas gehört nun denen, die es eingeatmet haben – was man hat, besitzt man meistens auch.“

Mittlerweile erwartet Kleinkinder in Japan ein Leben mit Behinderung und Krankheit, weil radioaktives Cäsium-137 und Cäsium-134 kürzlich in Milchpulver für Kindernahrung gefunden wurden. Am 6. Dezember 2011 gab es eine Ankündigung der Meiji Holdings Company, Inc. nach welcher sie 400.000 Döschen ihres „Meiji Step“ Milchpulvers für Kinder über neun Monaten zurückrufen würden. Das Pulver wurde im April abgepackt – als die großen radioaktiven Freisetzungen von Fukushima ihren Höhepunkt erreichten – es wurde im Mai ausgeliefert und hat das Verfallsdatum Oktober 2012.

Der Cäsium-Gehalt pro Portion dieses Milchpulvers lag ungefähr 8 Prozent über der von der Regierung zugelassenen Kontamination. Doch wer weiß schon, wie viel dieser Fertignahrung einzelne Säuglinge vor dem Rückruf verzehrt haben. Es ist bestens bekannt, dass Föten, Säuglinge, Kleinkinder und Frauen von Strahlendosen geschädigt werden, die weit unterhalb der zugelassenen Belastung liegen. Die meisten Grenzwerte wurden anhand der Strahlenwirkung auf einen „Referenz-Menschen“ festgelegt, man ging von einem 20 bis 30-jährigen Weißen, nicht aber von Kindern und Frauen aus, die am gefährdetsten sind.

Selbst winzige innerliche radioaktive Kontamination kann die DNA beschädigen, Krebs verursachen und das Immunsystem schwächen. Die vom Fukushimas Kernschmelzen in Umlauf gebrachte radioaktive Kontamination wurde in Gemüse, Milch, Fischereiprodukten, Wasser, Getreide, Viehfutter und Rind nachgewiesen. Grüner Tee, der 400 Kilometer von Fukushima entfernt wuchs, war kontaminiert. Bei Reis, der im Herbst 2011 in der Präfektur Fukushima geerntet wurde, stellte man im November 2011 eine Cäsium-Belastung fest, die 25 Prozent über dem erlaubten Grenzwert lag. Die Auslieferung von Reis aus diesen landwirtschaftlichen Betrieben wurde verboten, doch erst, nachdem viele Tonnen davon bereits verkauft worden waren. Es ist davon auszugehen, dass diese Strahlung nun jedem einzelnen Verbraucher gehört, das ergibt sich aus den einfallsreichen Behauptungen der Unternehmens-Anwälte von TEPCO.

Autor: John LaForge, 16 Januar 2012 für Truthout

Übersetzung: BrunO für CSN – Chemical Sensitivity Network

Der Original-Artikel „Fukushima’s Owner Adds Insult to Injury – Claims Radioactive Fallout Isn’t Theirs“ wurde unter der Creative Commons Lizenz: by-nc veröffentlicht. Für diese Übersetzung gilt CC: by-nc-sa.

Foto: Beau B CC: by, bearbeitet

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Fukushima: Freisetzung von radioaktivem Xenon und Cäsium

Studie schätzt Freisetzung von radioaktivem Xenon-133 und Cäsium-137 im Fukushima ab

Das Open Access Journal „Atmospheric Chemistry and Physics“ veröffentlichte Oktober 2011 eine Studie welche versucht, die beim SuperGAU in Fukushima freigesetzte Menge an Radioaktivität für zwei Radionuklide rechnerisch zu bestimmen. Sie wurde als Diskussionspapier veröffentlicht, harrt also noch einer Prüfung (review) durch andere Wissenschaftler (peers), die nicht an ihr beteiligt waren.

Wir veröffentlichen das übersetzte Abstract dieser Studie und haben es zur besseren Lesbarkeit umformatiert. Das Diskussionspapier kann frei (open access) von Atmospheric Chemistry and Physics herunter geladen werden.

Freisetzung von Xenon-133 und Cäsium-137 aus der atomaren Energieerzeugungsanlage Fukushima Dai-ichi: Bestimmung von Quellterm [Menge und Art], atmosphärische Verteilung und Ablagerung

von A. Stohl et al.

Am 11. März 2011 ereignete sich etwa 130 Kilometer vor der pazifischen Küste von Japans Hauptinsel Honshu ein Erdbeben, dem ein heftiger Tsunami folgte. Der dadurch verursachte Stromausfall in der Atomkraftanlage Fukushima Dai-ichi (FD-NPP) führte zu einer Katastrophe, welche die Freisetzung von großen Mengen Radioaktivität in die Atmosphäre zur Folge hatte. In dieser Studie bestimmen wir die Emission von zwei Isotopen, dem Edelgas Xenon-133 (133Xe) und dem aerosolgebundenen Cäsium-137 (137Cs), die sehr verschiedene Charakteristiken bei der Freisetzung, aber auch in ihrem Verhalten in der Atmosphäre, aufweisen.

Um die Emissionen von Radionukliden als eine Funktion von Wert und Zeit bis zum 20. April zu bestimmen, stellten wir eine erste Schätzung an, die auf Brennstoff-Inventarien und dokumentierten Unfall-Ereignissen vor Ort beruhte. Diese erste Abschätzung wurde danach durch inversive Modellierung [Rückschlüsse aus bekannten korrelierenden Daten] verbessert, welche diese erste Schätzung mit den Ergebnissen eines atmosphärischen Transport-Modells, FLEXPART und den Messdaten mehrerer Dutzend Stationen in Japan, Nordamerika und anderen Regionen kombinierte. Wir verwendeten sowohl gemessene atmosphärische Aktivitäts-Konzentrationen, als auch für 137Cs Messungen des gesamten Fallouts.

Was 133Xe angeht, stellen wir eine gesamte Freisetzung von 16,7 (Ungenauigkeitsbereich 13,4–20,0) EBq [Exa/Trillion = 10^18 Becquerel] fest, was historisch gesehen die größte Freisetzung von radioaktivem Edelgas bedeutet, die nicht in Zusammenhang mit Atombombentests steht. Es spricht sehr vieles dafür, dass die erste große Freisetzung von 133Xe sehr früh stattfand, möglicherweise unmittelbar nach dem Erdbeben und der Notabschaltung am 11. März um 06:00 Uhr UTC [Weltzeit]. Das gesamte Edelgas-Inventar der Reaktoreinheiten 1-3 wurde zwischen dem 11. und 15. März 2011 in die Atmosphäre frei gesetzt.

Für 137Cs ergaben die Ergebnisse der Modellierung eine Gesamtemission von 35,5 (23,3–50,1) PBq [Peta/Billiarde = 10^15 Becquerel] oder etwa 42% der geschätzten Freisetzung von Chernobyl. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die 137Cs-Emissionen am 14.-15. März ihren Höchstwert hatten, dass sie aber insgesamt von 12. bis zum 19 März hoch waren, bis sie plötzlich um Größenordnungen abnahmen, genau als man damit anfing, das Lagerbecken für Brennelemente von Einheit 4 mit Wasser zu besprengen. Dies zeigt, dass die Emissionen nicht nur aus den beschädigten Reaktorkernen, sondern auch aus dem Lagerbecken von Einheit 4 kamen und bestätigt, dass das Besprengen eine wirksame Gegenmaßnahme war.

Wir untersuchen auch die wichtigsten Verteilungs- und Niederschlagsmuster der radioaktiven Wolke, sowohl regional für Japan, aber auch für die gesamte nördliche Hemisphäre. Während es auf dem ersten Blick günstig aussah, dass die meiste Zeit westliche Winde vorherrschten, als sich der Unfall ereignete, ergibt sich aus unserer detaillierten Analyse ein anderes Bild. Genau während und nach der Periode der stärksten 137Cs Emissionen am 14. und 15. März und auch wie nach einer anderen Periode mit starken Emission am 19. März, advehierte die radioaktive Wolke zur östlichen Honshu Insel, wo der Fallout eine große Fraktion von 137Cs auf der Oberfläche des Landes ablegte.

Die Wolke verteilte sich auch sehr schnell über der gesamten nördlichen Hemisphäre, wo sie als erstes am 15. März Nordamerika und am 22. März Europa erreichte. Allgemein passten simulierte und beobachtete Konzentrationen von 133Xe und 137Cs sowohl in Japan als auch an entfernten Orten gut zusammen. Insgesamt schätzen wir, dass 6,4 TBq [Tera/Billion = 10^12 Becquerel] 137Cs oder 19% des gesamten Fallouts bis zum 20. April über dem japanischen Festland nieder gingen, währen der Rest größtenteils über dem nordpazifischen Ozean herunter kam. Lediglich 0,7 TBq oder 2% des gesamten Fallouts gingen über anderem Festland als Japan nieder. 1)

Was bedeutet diese Studie?

Als erstes sollte man nicht viel auf die veröffentlichten Zahlen dieser Studie geben, solange sie noch nicht peer reviewed ist. Ein wenig erstaunt hat mich, dass im Zeitalter von Internet und sozialen Medien die Autoren das Projekt Safecast nicht kennen, dem man z.B. auf Twitter bequem folgen kann und das nicht mal das einzige seiner Art ist.

Auf Seite 41 des Papieres beklagen Sie:

„Obgleich wir Messdaten aus einer Vielzahl von Quellen gesammelt haben, ist fast keine von ihnen öffentlich zugänglich und es gibt wahrscheinlich mehr brauchbare Datensätze, die uns nicht zugänglich waren. Institutionen, die relevante Messdaten produziert haben, sollten diese frei zugänglich machen. Es sollte eine zentrale Datenablage eingerichtet werden, wo diese Daten vorgehalten, überprüft, in ein gängiges Datenformat konvertiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Dies würde beachtliche Verbesserungen der zukünftigen Quellterme erlauben.“

Safecast wurde als crowd sourced (massengestützte) Initiative gegründet, um nicht auf die nur spärlich geflossen Informationen von TEPCO und den japanischen Behörden angewiesen zu sein. Selbst wenn die Wissenschaftler dieser Mob-Initiative misstrauen, die derzeit auf über eine Million „Mess-Stationen“ zurückgreifen kann und zu diesen Zweck Strahlenmessgeräte unters Volk gebracht hat, hätten die doch deren Daten auf Plausibilität prüfen können, sofern die angewendete Methodik wirklich was taugt. (2)

Dass nur zwei Radionukleide untersucht worden sind, verleiht dieser Studie keine große Aussagekraft und die insgesamt freigesetzte Radioaktivitätsmenge und über das Ausmaß des Schadens. Sie kann aber als Modell oder Impuls für andere ausführlichere Studien dienen. Vielleicht wurde gezeigt, daß solche Studien machbar und dass Computermodelle brauchbar sind.

Bei den untersuchten Radionukliden handelt es sich nicht einmal um die langlebigsten. Xenon-133, das vom Körper kaum aufgenommen wird, hat eine Halbwertszeit von 5,25 Tagen und für Cäsium-137 beträgt diese immerhin über 30 Jahre, was aber abgesehen von der biologischen Schädlichkeit noch das kleinere Übel wäre, wenn man z.B. an Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von über 24 Tausend Jahren und an dessen Giftigkeit denkt.

Die allein durch diese beiden Nuklide frei gesetzte Strahlungsmenge ist jedoch erschreckend, wobei sich mir bei Cäsium-137 ein Verständnisproblem auftut. Es wurden insgesamt s.o. 35,5 PBq freigesetzt. Doch am Ende des Abstracts (und auch in den Conclusions, S. 41) wird gesagt, daß über Japan bis zum 20. April 19% bzw. 6,4 TBq und über anderen Gebieten 2% bzw. 0.7 TBq niedergingen. Rechne ich diese 21% bzw. 7.1 TBq auf 100% hoch, sind dies ca. 33,8 TBq oder nicht ganz 10% der insgesamt freigesetzten Menge von 35,5 PBq.

Heißt dies, dass 90% des Cäsium-137 über dem nordpazifischen  Ozean verteilt wurde? – Dann hätte man besser die Meeresbelastung durch diesen Unfall untersuchen sollen. Durch das zur Kühlung eingesetzte Meerwasser ist in den ersten Tagen sicher einiges in die Ozean entsorgt worden. War diese „Notkühlung“ womöglich nicht nur ein Notbehelf, sondern bewusstes Kalkül bei der Planung der Anlage?

Besonders danken muss man den Autoren für die Darstellung des Unglücksverlaufs anhand ihrer Erkenntnisse (Anhang S. 42 ff).

Diese Passage haben wir wieder übersetzt:

A1 Block 1

Am 11. März, um 14:00 Uhr UTC (kaum 8 Stunden nach dem Stromausfall in der Anlage) wurde in der Turbinenhalle erhöhte Strahlung beobachtet, was darauf hindeutet, dass zumindest Edelgase anfingen, in die Umwelt zu entweichen. Gleichzeitig baute sich im Reaktorgebäude Druck auf und die Druckausgleichsventile sollen am 12. März zwischen 00:15 und 01:17 Uhr geöffnet gewesen sein, wahrscheinlich um große Mengen abzulassen. Nach den Berichten war die Entgasungsaktion am 12. März um 05:30 Uhr abgeschlossen. Wir nehmen an, dass bis dahin ein großer Teil der Freisetzungen stattgefunden hat. Um 06:36 ereignete sich in Block 1 die Wasserstoffexplosion (welche die erste war), offenbar weil während der Entgasung Wasserstoff in zahlreiche Gebäudeteile eindrang oder aufgrund von Lecks. Der Druck im Reaktorgebäude sank um 09:00 Uhr ab, deshalb wir vermuten, dass die Freisetzung zu dieser Zeit größtenteils vorüber war. Es ist davon auszugehen, dass die Emissionen in geringerem Umfang aufgrund zahlreicher Lecks weiter gehen werden und ab einem gewissen Zeitpunkt dürften sie wahrscheinlich auch von den abgebrannten Brennstäben herrühren, die nach der Explosion direkt der Umwelt ausgesetzt waren. Am 14. März wurde von einem zweiten Maximum des Drucks berichtet, was möglicherweise auf einen zweiten, niedrigeren Höchstwert der Emissionen hindeutet.

A2 Block 2

Block 2 ist von neuerer Bauart als Block 1 und konnte den Stromausfall ein wenig länger überstehen. Die erste Entgasung fand laut Berichten für diesen Block am 13. März um 02:00 Uhr UTC mit ungewissem Erfolg statt, und die erste bestätigte Zeit, zu der die Ausgleichsventile geöffnet wurden, ist 09:00 Uhr UTC am 14. März. Strahlungsmessungen in Nass- und Trockenbrunnen (Reaktorsegmente unter dem Druckkessel, innerhalb des Reaktorgebäudes) schossen eine Stunde später in die Höhe, was wohl eine Kernschmelze bedeutet, und auch MELCOR-Berechnungen [Computersimulation für Unfälle von Atomkraftwerken] ergeben für diesen Zeitpunkt das Schmelzen der Brennstäbe und auch die Freisetzung von Edelgasen spricht dafür. Demnach denken wir, dass zu dieser Zeit die Edelgase mehr oder weniger vollständig abgelassen worden waren. Um 15:00 Uhr UTC wurde eine weitere Entgasung des Trockenbereiches durchgeführt und eine Wasserstoffexplosion hat wahrscheinlich den wasserführenden Bereich um 21:14 Uhr beschädigt. Man kann von großen Freisetzungen ausgehen. Am 15. März um 21:00 Uhr UTC, herrschte in Trocken- und Nassbrunnen Außendruck, was auf das Fehlen jeglicher wirksamer Barrieren hinweist. Zu dieser Zeit dürfte die gesamte Freisetzung stattgefunden haben, doch ähnlich wie bei Block 1 kann die Freisetzung mit niedrigeren Werten weiter gehen. Zwischen dem 26. März und dem 19. April wurde von einem sekundären Temperaturanstieg im RPV [reactor pressure vessel/Reaktor-Druckbehälter] berichtet, der möglicherweise mit etwas erhöhten Freisetzungen verbunden war.

A3 Block 3

Die erste Entgasungsaktion im Nassbrunnen von Block 3 wurde entsprechend den Berichten am 11. März um 23:41 Uhr UTC durchgeführt. Dabei wurden sicher Edelgase abgelassen. Etwa 24 Stunden später, nachdem von einer Erhöhung des Drucks in der Kondensationskammer [ringförmiger Wasserbehälter unter dem Druckkessel] berichtet wurde, gab es laut Bericht eine zweite Entgasung von ca. 20 Minuten. Schließlich wurde am 13. März um 20:20 berichtet, dass die Ausgleichsventile offen wären und MELCOR [s.o.] ergab ungefähr für diese Zeit das Versagen des Reaktordruckbehälters. Sechs Stunden später, am 14. März um 02:00 Uhr UTC, ereignete sich eine sehr heftige Wasserstoffexplosion, welche den oberen Teil des Reaktorgebäudes schwer beschädigte und Trümmer verstreute. Der Report gibt das Ende der Entgasung mit 03:00 Uhr UTC an. Damit fand sicher eine große Freisetzung ihren Abschluss. Jedoch werden bis zum 20. März zahlreiche Öffnungs- und Schließarbeiten der Ventile berichtet, was sporadische Erhöhungen über den verringerten Freisetzwerten verursacht haben könnte, die ähnlich wie bei Block 1 verlaufen sollten. Schließlich wurde zwischen dem 1. und 24. April eine weitere Zunahme der Druckkessel-Temperaturen berichtet.

A4 Block 4

Wenige Informationen wurden über das Lagerbecken für abgebrannte Brennstäbe von Block 4 veröffentlicht (das aufgrund seines großen Inventars das gefährlichste war). Dessen Wassertemperatur wurde am 13. März um 19:00 Uhr UTC mit 84° C angegeben. Bei solchen Temperaturen ist eine gewisse Freisetzung von Radionukliden bereits wahrscheinlich. Am 14. März kam es um 21:00 Uhr UTC in Block 4 zu einer größren Wasserstoffexplosion. Diese könnte oder könnte auch nicht von den abgebrannten Brennstäben verursacht worden sein. Laut Berichten wurde am 19. März um 23:21 Uhr UTC damit begonnen, über dem Becken Wasser zu versprühen. Ohne weitere Informationen zu besitzen können wir für die Freisetzung lediglich einen Anteil der gleichen Größenordnung wie für die Reaktorkerne annehmen, weniger als 1% des Cäsium-Inventars, von dem man annimmt, dass es hauptsächlich zwischen der Wasserstoffexplosion und dem Besprengen mit Wasser freigesetzt worden ist.

Nach den Wasserstoffexplosionen war ich nicht der einzige, der sich fragte, ob die Lagerbecken für abgebrannte Brennstäbe in den oberen Stockwerken der Reaktorgebäude und die Druckbehälter selber, diese intakt überstanden haben. Solche Fragen wurden zu diesem Zeitpunkt in den Leistungsschutz-bewehrten Profimedien nicht gestellt und wir alle hofften, dass eine oder mehrere Kernschmelzen, die nach den obigen Schilderungen längst stattgefunden hatten und von denen die Behörden und Betreiber wissen mussten, noch zu verhindern sind. Bezeichnend ist auch, dass es zu Block 4 mit dem größten Gefahrenpotential die wenigsten Informationen gibt.

Wie perfekt TEPCO und die japanischen Behörden alles verschleiert und verharmlost haben und wie die Medien, die aus Chernobyl wohl etwas gelernt hatten, mitgespielt haben, weiß man nun also, selbst wenn die Studie von den Peers verworfen werden sollte.

Betont werden muss auch, dass es nicht der Tsunami war, sondern dass bereits das vorausgegangene Erdbeben zu Kernschmelzen geführt hat, weil der Strom für die Kühlung ausfiel. Und sind teilweise baugleiche AKWs bei uns erdbebensicher? (3)

Der Größenwahn nicht des Menschen an sich, sondern jener, die ohne Rücksicht auf Mensch und Natur ihre Geschäfte machen, glaubt, absolut alles managen zu können und jedes Risiko eingehen zu dürfen. Inzwischen gibt es darauf eine Antwort: #OWS!

Autor: BrunO für CSN – Chemical Sensitivity Network, 26.10.2011

Ressourcen:

  1. Stohl, A., Seibert, P., Wotawa, G., Arnold, D., Burkhart, J. F., Eckhardt, S., Tapia, C., Vargas, A., and Yasunari, T. J.: Xenon-133 and caesium-137 releases into the atmosphere from the Fukushima Dai-ichi nuclear power plant: determination of the source term, atmospheric dispersion, and deposition, Atmos. Chem. Phys. Discuss., 11, 28319-28394, doi:10.5194/acpd-11-28319-2011, 2011. Freigegeben unter CC: by
  2. Crowdsourcing Japan’s radiation levels
  3. Fukushima-Reaktoren in unserer Nachbarschaft: Baugleiche AKWs laufen weiter

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Wie die Atombombe die Wissenschaft entstellt hat

Die Atomwolke über Hiroshima, 2 Minuten nach der Explosion, 8 Uhr 17 morgens.

Die Vereinigten Staaten hüllten sich sofort in den Mantel der westlichen Zivilisation, nachdem sie am 6. und 9. August 1945 über Japan Atomwaffen explodieren ließen. Diese Waffen haben Wissenschaftler hergestellt. Dadurch haben Wissenschaftler Wissenschaft gefährlich gemacht, sich selbst, Amerika und die Welt für immer verändert.

1963 brachte David Lilienthal, Vorsitzender der US-Atomenergiekommission, die Vorläufer des Department of Energy war, wegen der Bombe große Bedenken gegenüber Wissenschaft und Wissenschaft- lern zum Ausdruck. Er sagte, die Bombe hat den Wissenschaftlern an den Universitäten sehr viel Geld beschert, sie von Forschung und Lehre abgelenkt und zu exklusiven Experten für Kriegswaffen gemacht. Diese neue Funktion hat „den Geist des unabhängigen Forschens“ aufgeweicht und Wissenschaftler zu „unkritischen Verfechtern und sogar zu Lobbyisten für zahlreiche große ‚programmatische‘ technische Unternehmen gemacht“. Dies war insbesondere am Verhalten jener Atomwissenschaftler zu erkennen, welche die Bombe ins Leben riefen.

Nach Lilienthal nahm der Atomwissenschaftler „manche Eigenschaften seiner welterschütternden Kreation“ selber an. „In der Öffentlichkeit umgab ihn etwas unwirkliches, etwas Übermenschliches und etwas Frucht einflößendes.“

Lilienthal sagte, dass die immensen Programme, welche die Wissenschaft in sich aufgesogen haben, die Unabhängigkeit der Wissenschaftler korridieren, indem sie sowohl beeinflussen, wie sie sich selber sehen, aber auch, wie dies wissenschaftliche Laien tun. Er beschreibt den neuen, „unfehlbaren“ Wissenschaftler nach der Bombe als „Organisationsmenschen“ und Wissenschaft als „an der Börse höchst gefragter Wachstumswert“. (1)

Über 30 Jahre später bestätigte Sir Joseph Rotblat, ein Friedensnobelpreisträger von 1995, das Unbehagen – und zwar die Furcht – die Lilienthal bezüglich der von der Bombe gemachten Wissenschaftler zum Ausdruck gebracht hatte. Er sagte, dass die Bomben nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch die Kreativität der Wissenschaft korrumpiert haben, indem sie ihre Anwendung „zu etwas, das der Menschheit schadet“ gemacht haben. Rotblat wirft Wissenschaftlern vor, die Hauptkraft im Atomwaffenwettlauf geworden zu sein, was „eine völlige Perversion der erhabenen Ideale der Wissenschaft“ ist.

Rotblat erklärte nicht, was diese Ideale sein könnten, doch er brachte die Sorge zum Ausdruck, dass der wissenschaftliche Fortschritt oder die uneingeschränkte wissenschaftliche Forschung zur völligen Zerstörung führen könnte, einschließlich des Endes von Leben auf der Erde. Um so ein Desaster zu verhindern empfahl er, der Forschung für Physik und Biologie Beschränkungen aufzuerlegen. Zusätzlich, sagte er, sollten Wissenschaftler eine Art hippokratischen Eid ablegen, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zum Schaden der Menschheit einzusetzen. (2)

Wissenschaft ist potentiell tödlich, da sie in vielerlei Hinsicht nicht dem Wohl der Bürger dient. Stattdessen ist sie ein Tochterunternehmen des Krieges; sie hält ein Gesundheitssystem am Funktionieren, bei dem es um den Vertrieb von Heilmitteln und nicht um Heilung geht; sie versorgt eine industrialisierte Landwirtschaft, die von Breitband-Toxinen (Bioziden) abhängig ist, die Menschen, Tiere, Lebensmittel und Trinkwasser des Landes vergiften. Zahlreiche andere schädliche Industrien könnten ohne Wissenschaft nicht existieren.

1974 bezweifelte Elting E. Morison, ein Professor am Massachusetts Institute of Technology, ob die moderne Wissenschaft und Technik den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Er war sich weitgehend sicher „dass der unaufhörliche Strom neuer Artefakte“ mit der Natur des Menschen nicht vereinbar ist. Deshalb sagte er: „Es gibt anscheinend das zunehmende Auseinanderklaffen zwischen unserem sich ausweitenden Wissen, was wir mit den Materialien und Energien der uns umgebenden Welt machen können und unserem älteren, jedoch weniger sicherem Verständnis von dem, was wir zu tun haben und wir selber zu sein. Und aus diesem Missverhältnis – auf der einen Seite das Leistungsvermögen unserer Maschinerien und auf der anderen unsere Konfusion über das, was wir wirklich brauchen – werden wir höchstwahrscheinlich als Verlierer hervorgehen – zerschlissen, zerstört, völlig verbogen, in per Computer-Design entworfene Räume eingepfercht, zu Tode gelangweilt.“ (3)

Dieses gefährliche und tragische Dilemma ergänzt und ergibt sich aus den verdrehten Werten, welche die Bombe Wissenschaft und Technik eingeimpft hat. Atomkraftwerke, die zivilen Partner der Bombe, veranschaulichen eine menschliche Zwangslage des 21. Jahrhunderts. Nehmen wir beispielsweise das nukleare Elektrizitätswerk Edison in San Onofre, Südkalifornien.

Ace Hoffman, ein Software-Programmierer und einer, der seit vielen Jahrzehnten über Atomkraft schreibt, ist davon überzeugt, dass die Anlage in San Onofre unsicher ist und sofort geschlossen werden sollte. Am 10 Januar 2010 erklärte er warum:

Atomkraft ist nicht billig, ist nicht Co2-frei und ist nicht sicher. Das Problem mit dem Abfall ist unlösbar. Eine Kernschmelze, die ein Gebiet der Größe von Pennsylvania verseuchen könnte, kann jederzeit in jedem Atomkraftwerk passieren. Riesige Geldbeträge werden heimlich ausgegeben, damit Atomkraftwerke weiter betrieben werden dürfen. Riesige Mengen Wasser und andere Ressourcen werden täglich verschwendet und riesige Mengen Kohle und Öl werden verbraucht, um den Brennstoff, der in Atomkraftwerken verwendet wird, zu fördern und aufzubereiten. Sehen Sie sich die Kosten der Sanierung unserer Produktionsstätten für Atomwaffen an, wie etwa Hanford in Washington, um eine Vorstellung zu bekommen, wie hoch die wirklichen Kosten des Rückbaus von Atomkraftwerken sein werden (die sogar MEHR Atommüll als unsere militärischen Programme produzieren). Während den vergangenen vierzig Jahren hat San Onofre tausende Tonnen tödlichen radioaktiven Müll produziert. Es handelt sich um Gifte, deren Gefahren nicht verschwinden, egal ob man sie backt, verbrennt, kühlt, zusammenpresst, expandiert, mischt, schockt, schüttelt, verflüssigt, vergast oder verfestigt. Gifte, die jeden Behälter, in die man sie steckt, physikalisch zerstören… Es gibt keinen Grund, San Onofre noch länger in Betrieb zu halten und viele gute Gründe, es für immer zu schließen – dazu gehören die NEUEN über 200 Kilo (500 Pound) an hochaktivem Atommüll, die es jeden Tag produziert, an dem es weiter in Betrieb bleibt. (4)

Regierung und nukleare Industrie ignorieren diese berechtigten Bedenken und halten an den fragilen nuklearen Fabriken fest. Möglicherweise sind sie in dieser tödlichen Politik gefangen, damit sie die Kontrolle über Atomwaffen aufrecht erhalten können.

Barack Obamas Präsidentschaftswahlkampf war von einem gesunden Misstrauen gegenüber der Atomkraft geprägt. Nun, in seiner Rede zur Lage der Nation am 27. Januar 2010, versprach er Staatszuschüsse für den Bau „einer neuen Generation sicherer, sauberer Atomkraftwerke“.

Die Verkehrung von Werten, was Obama betrifft, und die Tragödie und die Fehler, die sich unweigerlich aus dem Atomkurs des Landes ergeben, haben ihren Ursprung in einem Geflecht mächtiger ökonomischer und militärischer Interessen, die sich alle um die Auffassung und Manipulation der Wissenschaft drehen, die mit der Bombe verheiratet wurde. Man stellt fest – und Lilienthal hat dies sehr deutlich ausgesprochen – dass die Wissenschaft in Amerika, besonders wenn es um Atomwaffen und Energie geht, groß und gefährlich ist.

Die nukleare Katastrophe in Japan im März 2011 bekräftigt das Eindruck, dass dieses militärische Spiel nun weit genug gegangen ist, Atombomben mit dem Lippenstift der Atomkraftwerke unter dem Anstrich der friedlichen Nutzung der Kernkraft zu verstecken. Die Zeit ist reif, diese tödliche nukleare Gefahr abzuschaffen.

Der Weltrat für erneuerbare Energien (World Council for Renewable Energy) drängte die Welt am 13. März 2011, „das sich auf die Atomkraft verlassen und den Handel mit dieser unglaublich gefährlichen Technologie zu beenden… Es ist ‚Fünf nach Zwölf‘ wenn wir den giftigen, todbringenden nicht erneuerbaren Ressourcen, die den Ruin für die Menschheit bedeuten, den Rücken kehren wollen.“ (5)

In der Tat wäre das Beenden der Atomenergieerzeugung der erste Schritt der Befreiung von der Bombe. Sonnenenergie ist sowohl machbar als auch unerschöpflich. Deutschland hat sich auf diesen Weg begeben.

Genau so wichtig ist, die Abwesenheit der nuklearen Bedrohung würde die Wissenschaft befreien, zu ihren Wurzeln zurück zu kehren, d.h. das Universum erforschen und das Wohl der Menschen verbessern. Schließlich würde sich die Wissenschaft selbst von der Bombe scheiden.

Autor: Evaggelos Vallianatos für Truthout, 7. August 2011

Übersetzung: BrunO für CSN-Chemical Sensitivity Network

Der Orignialartikel „Science Distorted by the Bomb“ steht unter einer Creative Commons Lizenz: by-nc.

Für diese Übersetzung gilt das entsprechende deutsche Lizenzmodell.

Artikel-Foto: UN-Photo/Mitsuo Matsushige CC: by-nc-nd

Ph.D. Evaggelos Vallianatos ist gebürtiger Grieche, studierte und lebt in den USA, wo er Bücher über griechische Geschichte schreibt. Neben anderen Ämtern, u.a. als Berater der Vereinigten Nationen für nachhaltige Entwicklung, arbeitete er bis 2004 für die EPA. Neben griechischer Geschichte gelten seine Interessen globaler Umwelt- und Agrarpolitik.

Referenzen:

  1. David Lilienthal, „Change, Hope, and the Bomb“ (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1963) 61-72, 76.
  2. Joseph Rotblat, „Science and Humanity in the Twenty-First Century“ Nobelprize.org.
  3. Elting E. Morison, „From Know-How to Nowhere: The Development of American Technology“ (New York: New American Library, 1977) 137.
  4. Personal communication from Dr. Janette Sherman, January 11, 2010. Ace Hoffman is the author of „The Code Killers.“ See www.acehoffman.org.
  5. Peter Droege, University of Liechtenstein, www.wcre.org.

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Radioaktivität: Die Macht der Fahrlässigkeit

Ganze Wohnviertel radioaktiv verstrahlt

Es war September 1987, als der wahrgewordene Alptraum die brasilianische Stadt Goiânia heimsuchte. Bis heute wird versucht, dieses Schicksal, das dort mehreren Menschen das Leben kostete und hunderten weiteren Menschen ein unendlich großes Leid verschaffte, möglichst zu verschweigen. Es ereignete sich im Armenviertel der Stadt und kaum jemand hat hier in Europa wirklich je etwas davon erfahren. Die Auswirkungen dieses Unglücks sind bis heute aktuell und brisant.

Diebstahl für das blanke Überleben

Zwei jungen Männer, Wagner Mota und Roberto Santos Alves, grade einmal 19 und etwas über 20 Jahre jung, waren wie so oft auf einem Streifzug durch das nächtliche Viertel unterwegs. Auf der Suche nach Gegenständen, die sie zu Geld machen könnten. Sie hatten sich auf das Sammeln von Altmetall und Papierresten spezialisiert, um dies bei einem Schrotthändler gegen Geld einzutauschen. Manche mögen diese beiden jungen Männer als Diebe bezeichnen, doch das macht ihr Schicksal nicht einfacher. Sie waren verzweifelt und zu Hause warteten ihre Familien auf ein Stück Lebenskraft. Die Nahrungsmittel und das Trinkwasser waren knapp und fast unerschwinglich.

Strahlender Sondermüll

Es war ein wunderschöner Abend des 13. September 1987, als die Beiden in das verlassene Goiânische Institut für Radiotherapie eindrangen. Dieses Institut war eine verlassene Privatklinik in der Stadt, dort entwendeten sie mit einer Schubkarre ein seit zwei Jahren ausgedientes Strahlentherapiegerät, weil sie das Metall für wertvoll hielten und nicht wussten, was es für ein Gerät war. Beide hatten so ein Gerät niemals zuvor gesehen, denn eigentlich müssen diese Geräte als Sondermüll entsorgt werden und kaum ein Armer bekommt so etwas jemals zu Gesicht, da sich diese Menschen kostenaufwendige Therapien nicht leisten können. Die Entsorgung dieses Gerätes hätte eigentlich durch die 4 ärztlichen Leiter der Privatklinik stattfinden müssen, diese hatten das Gerät jedoch sich selbst überlassen, vermutlich aufgrund der hohen Entsorgungskosten. Wagner und Roberto schoben das Gerät mit Hilfe ihrer Schubkarre in Robertos Hinterhof und fingen an, es nach und nach auseinander zu bauen.

Leuchtendes Pulver

Es gelang ihnen nicht, das Gerät vollständig ganz klein zu hauen und in Einzelstücke auseinander zu nehmen. Nach fast zwei Wochen, nachdem sie das Gerät entdeckten und mitnahmen, versagten ihre Kräfte immer mehr und sie wurden krank. Sie verkauften das Gerät am 25. September kurzerhand komplett, an den Schrotthändler Desair Ferreira, um daraus wie üblich Profit zu schlagen. Der Schrotthändler fing an das Gerät eigenhändig mit seinem eigenem Werkszeug weiter auseinander zu bauen. Er entdeckte in dem Gerät einen Bleibehälter, diesen schlug er mit einem Meißel auf und entdeckte darin ein Pulver, das in der Dämmerung wunderschön leuchtete. So etwas Schönes hatte er vorher noch nie gesehen, er rief seine Frau, seine Nachbarn und alle herbei. Von diesem herrlich leuchtenden Pulver waren alle sehr begeistert, wie Kinder die ganz besondere Süßigkeiten entdeckten, wollten nun alle etwas von dem leuchtendem Pulver haben, das aussah wie Salz und fast wie von selbst auf der Haut kleben blieb.

Spaß, so kostbar wie ein Diamant

Sie rieben sich damit ein, malten sich Herzchen auf die Backen, Sterne auf die Stirn, sie zeichneten Zeichen auf die Wände, sie tanzten, lachten, waren fröhlich wie schon so lange nicht mehr in ihrem armen trostlosem Leben, das vom schweren Alltag der brasilianischen Slums gezeichnet war. Endlich hatten sie etwas, was niemand zuvor jemals gesehen hatte, etwas das ihnen vielleicht ein bisschen Glück bringt, etwas wie ein kostbarer Diamant. Das musste gefeiert werden. Es wurde aus den letzten Habgütern ein Abendessen organisiert, dieser Abend sollte der schönste Abend ihres Lebens werden.

Rätselhafte Erkrankung im Slum

Plötzlich wurden alle Menschen krank. Maria Gabriela Ferreira, die Frau des Schrotthändlers, bemerkte, dass diese Erkrankung aller Freunde gleichzeitig auftrat. Sie führte es zuerst auf ein gemeinsames Getränk des Abends zurück. Alle litten unter Erbrechen, Durchfall, Fieber, Hautausschläge und vieles mehr. Man dachte an eine Lebensmittelvergiftung, oder an eine neuartige Tropenkrankheit, an Allergien, an alles Mögliche, nur nicht an das Eine, das Undenkbare. Die konsultierten Ärzte tappten im Dunkeln, sie waren völlig ratlos, fanden keine Viren und keine Bakterien, keine Anzeichen einer Immunreaktion. Diese plötzliche Erkrankung war ein großes Rätsel.

Das schöne Pulver in Verdacht

Am 28. September verdächtigte die Frau des Schrotthändlers, Maria Gabriela Ferreira, das schöne Pulver als Krankheitsursache. Sie brachte den Bleibehälter, worin sich das Pulver befand, in ein Krankenhaus. Der diensthabende Arzt vermutete sofort korrekterweise, dass es sich bei dem Pulver um radioaktives Cäsium-137 handeln könnte. Er brachte den Behälter außerhalb des Krankenhauses in den Garten. Maria hatte den Behälter zum Glück während des Transportes in das Krankenhaus nicht geöffnet, sie transportierte den Behälter in einer Plastiktüte im Bus und hatte ihn auch im Krankenhaus nicht geöffnet, was vielen Menschen das Leben rettete. Aus dem Behälter waren bis dahin ca. 90% der Radioaktivität entwichen. Laut offiziellen Angaben war die Strahlung im Bus nicht gesundheitsgefährdend.

Ganze Viertel verstrahlt

Einen Tag später, am 29. September 1987, wurde durch den Spezialisten Walter Mendes mittels eines Szintillationszählers die Verstrahlung der Familie Ferreiras und deren Wohnumgebung festgestellt. Das gesamte Viertel war betroffen. Die Radioaktivität war über mehrere Wohnbezirke verschleppt worden, ganze Straßenzüge und Plätze waren kontaminiert. Zuerst hieß es, die Strahlenwerte seien nicht gravierend. Die Regierung wurde beschuldigt, der Zivilbevölkerung alarmierende Daten vorzuenthalten, um den Unfall zu vertuschen. Vor allem auch zu vertuschen, dass die Klinik das Gerät nicht sorgfaltsmäßig entsorgte.

Tote und schwer Verletzte – alles unter Kontrolle

Die fast 2.000 Menschen der unmittelbaren Umgebung wurden in das naheliegende Olympiastadion gebracht und dort versorgt. In der Zwischenzeit erlitten zahlreiche Personen zum Teil so hohe Strahlendosen, dass vier Personen in unmittelbarer Zeit starben und 28 Personen strahlungsbedingte Hautverbrennungen erlitten. Die am schwersten verstrahlten Opfer, darunter auch Kinder, wurden in einem der Krankenhäuser der Stadt in einem leer geräumten Flügel separiert abgeliefert, sie blieben dort zunächst ganz auf sich allein gestellt. Ärzte und Pfleger wagten sich nicht zu ihnen, wegen der hohen Strahlung, die von diesen kontraminierten Patienten ausgingen. Die Behörden, die viel zu lange versucht hatten den Vorfall möglichst vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, versuchten sich in Beschwichtigung. Man habe die Lage unter Kontrolle, alles sei in Ordnung, es gebe keinerlei Strahlungsgefahr.

Verstrahlte Menschen und Tiere, kontaminierte Häuser und Plätze

Insgesamt wurden in den darauffolgenden Wochen 112.800 Personen untersucht, 249 wurden als kontraminiert ermittelt. Von den Häusern der Umgebung wurden 85 Häuser als kontaminiert ermittelt, davon waren 41 Häuser massiv kontaminiert und wurden letztendlich komplett abgerissen. Die Tiere der Familien mussten getötet werden, der Boden von Gärten und öffentlichen Parkanlagen abgetragen, Grundstücke zubetoniert. Das Leben war noch schlechter geworden, als es in diesem Alptraum sowieso schon war. Vierzehn stark verstrahlte Patienten wurden schließlich nach Rio de Janeiro ins dortige Marinehospital geflogen, wo ein internationales Spezialisten-Team, das auf Strahlenschäden durch Kriegsverletzungen spezialisiert ist, auf sie wartete. Vier Patienten kehrten schon kurze Zeit später in schweren Bleisärgen zurück, sie waren an den Folgen der Kontamination verstorben. Darunter auch die kleine Tochter der Familie des Schrotthändlers, Leide Ferreira. Sie verstarb am 23. Oktober, nur wenige Wochen nach dem Unglück. Leide war das allererste Todesopfer dieser schweren Tragödie. Sie wurde nur 6 Jahre alt.

Qualvoller Strahlentod

Wenige Stunden nach ihr verstarben ihre Mutter, Maria Gabriela Ferreira (38), die Frau des Schrotthändlers. Sie starb ebenso qualvoll an inneren Blutungen und multiplem Organversagen, wie ihre kleine Tochter Leide. Kurz darauf starben auch die zwei jungen Gesellen des Schrotthändlers, Admilson und Israel, die beiden wurden nur 18 und 22 Jahre alt. Ihr Tod war ebenfalls aufgrund der Strahlenkrankheit furchtbar qualvoll.

Ausschreitungen auf Beerdigungen

Die Beerdigungen verliefen ebenso schrecklich, so als wenn das alles was geschehen war, nicht schon genug des Alptraumes war. Mitten in der Trauer kam es auf dem Friedhof zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen tausende Menschen aus Wut, Verunsicherung und Angst vor weiterer Verseuchung, gegen die Beerdigung und die Familie demonstrierten. Sie warfen Steine, schlugen mit Knüppel auf die Särge und den Trauerzug. Die Spezialsärge bestanden jedoch aus einem Bleimantel, so dass keine Radioaktivität ausweichen konnte, sie wogen bis zu 700 kg und mussten mit Hilfe eines Krans in die vorbereiteten Betongruben versenkt werden und vollständig einbetoniert werden.

Fahrlässigkeit verursachte jahrzehntelange, andauernde Folgen

Noch heute leiden die Menschen, die in diesem Gebiet wohnen, unter den gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung, nur weil ein unverantwortlich arbeitendes medizinisches Personal aus der Privatklinik sich nicht um die Entsorgung des hochgefährlichen Strahlentherapiegerätes kümmerte und dies der unwissenden Zivilbevölkerung zum Verhängnis wurde.

Nichts kann dieses Schicksal rechtfertigen. Auch nicht das Argument, dass das Gerät von zwei jungen Männern aus ihrer Armut heraus, aus einem leer stehenden Abrissgebäude gestohlen wurde. Ein solches Gerät gehört, genau wie andere Gefahrgüter, sachgemäß entsorgt. Die vier Ärzte, die verantwortlich für das Gerät waren, wurden von der Stadt verklagt.

Autor: Chris B. für CSN – Chemical Sensitivity Network, 5. August 2011

Informationsquellen, Dokumentationen: „Cesio 137“ – „Goiânia 1987“

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