Niedrige Dosis, große Wirkung: Wissenschaftler verlangen ‚fundamentale Veränderungen‘ für die Prüfung und Regulierung hormonähnlicher Chemikalien
Dies ist das wichtigste Ergebnis eines Forschungsberichtes (PDF), der nach drei Jahren Arbeit am Mittwoch [14.03.2012] von einem Team aus zwölf Wissenschaftlern veröffentlicht wurde, das sich mit den Hormonhaushalt verändernden Chemikalien befasste.
Dutzende von Substanzen die Östrogen, Testosteron und andere Hormone vortäuschen oder blockieren können, sind in Umwelt, Nahrung und Alltagsprodukten zu finden. Dazu gehören Kunststoffe, Pestizide und Kosmetika. Eine der größten und langlebigsten Debatten über diese Chemikalien dreht sich darum, ob die niedrigen Dosen, denen die meisten Menschen ausgesetzt sind, Schaden anrichten.
In einer neuen Untersuchung kamen Forscher zu dem Schluss, nachdem sie unter der Leitung von Laura Vandenberg von der Tufts University hunderte von Studien evaluiert hatten, dass gesundheitliche Auswirkungen „bemerkenswert weit verbreitet sind“, wenn Menschen oder Tiere mit niedrigdosigen, das Hormonsystem störende Substanzen belastet werden. Als Beispiele liefern sie Belege zu mehreren kontroversen Chemikalien wie Bisphenol A, das in Polycarbonat-Kunststoffen, in konservierten Lebensmitteln und in Kassenbons vorkommt und das Pestizid Atrazin, das in großen Menge hauptsächlich auf Mais angewendet wird.
Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass die Indizien der Forschung „eindeutig darauf hindeuten, dass man niedrige Dosen nicht ignorieren kann“. Sie zitierten Nachweise für einen weiten Bereich an Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen – vom Fötus bis zum Erwachsenen – welche z.B. mit Unfruchtbarkeit, Herzkreislauf-Erkrankungen, Adipositas, Krebs und anderen Erkrankungen in Zusammenhang stehen.
„Ob niedrige Dosen von Substanzen, die den Hormonhaushalt stören, auch Humanerkrankungen beeinflussen, ist längst keine Mutmaßung mehr, da epidemiologische Studien belegen, dass zwischen Umweltbelastungen auf der einen und humanen Erkrankungen und Behinderungen auf der anderen Seite ein Zusammenhang besteht“, schrieben sie.
Zusätzlich befassten sich die Wissenschaftler mit der Frage, ob das Jahrzehnte alte Verfahren zur Prüfung der meisten Chemikalien – Nagetiere hohen Dosen auszusetzen und dann auf die tatsächliche Belastung des Menschen herunter zu extrapolieren – dem Schutz des Menschen angemessen ist.
Sie folgerten, dass dies nicht der Fall ist und drängen deshalb auf Reformen. Manche hormonähnliche Chemikalien haben bei niedrigen Dosen gesundheitliche Folgen, die bei hohen Dosen nicht auftreten.
„Den derzeitigen Prüfungs-Paradigmen fehlen wichtige, sensitive Endpunkte“ für die menschliche Gesundheit, sagten sie. „Die Wirkung niedriger Dosen kann nicht anhand der Wirkungen vorhergesagt werden, die man bei hohen Dosen beobachtet. Deshalb sind fundamentale Veränderungen bei den chemischen Untersuchungen und Sicherheitsprüfung notwendig, um die Gesundheit des Menschen zu schützen.
Der Bericht wurde am Mittwoch [14.03.2012] vom Wissenschaftsjournal Endocrine Reviews online veröffentlicht. Zu den Autoren gehören Wissenschaftler wie Frederick vom Saal von der University of Missouri, der niedrige Bisphenol A Dosen mit einer Vielfalt von Wirkungen in Verbindung gebracht hat, Theo Colborn, der als erster gilt, welcher in den späten 1980er Jahren von Chemikalien gesprochen hat, die den Hormonhaushalt stören und Tyrone Hayes von der University of California in Berkeley, der die Wirkung von Atrazin auf Frösche dokumentiert hat.
Hauptautor ist Pete Myers, der Gründer von Environmental Health News und leitender Wissenschaftler von Environmental Health Sciences.
Linda Birnbaum, Chefin des National Institute of Environmental Health Sciences [staatliches Institut für Umweltgesundheits-Wissenschaft (NIEHS)] vertrat die Ansicht, der neue Bericht wäre wertvoll, „da er eine sehr große Menge an Informationen“ über in den Hormonhaushalt eingreifende Substanzen erschließt. Ihre Behörde ist die wichtigste, welche gesundheitliche Auswirkungen von Umweltschadstoffen untersucht.
Birnbaum erklärte, sie stimmt dem Hauptergebnis zu: „Alle Chemikalien, die den Hormonhaushalt stören können, sollten in ultra-niedrigen Dosen getestet werden, die der tatsächlichen Exposition des Menschen entsprechen“, sagte sie.
In vielen Fällen stellen die Produzenten der chemischen Industrie immer noch „alte Fragen“, wenn sie die Sicherheit von Chemikalien testen, obwohl „sich die Wissenschaft weiterentwickelt hat“, meinte sie. „Einige der Test-Paradigmen sind nicht dem Stand der Wissenschaft gefolgt“, schrieb Birnbaum am Mittwoch in einem Leitartikel, in dem es um neuen Bericht ging.
Für die meisten Toxikologen, sagte Birnbaum, bedeutet der Bericht trotzdem keine große Änderung ihrer Tätigkeit. Das NIEHS führt bereits Untersuchungen von Chemikalien im Niedrigdosisbereich durch, wozu die Untersuchung von Wirkungen über mehrere Generationen gehört, wie etwa Erkrankungen im Erwachsenenalter, die durch fötale Expositionen ausgelöst wurden.
„Manche reden die Toxikologen immer nur schlecht. Doch man kann nicht alle über einen Kamm scheren“, sagte Birnbaum.
Die Wissenschaftler jedoch, die den Bericht verfassten erklärten, dass Forschung mit niedrigen Dosen „von vielen nicht beachtet oder für bedeutungslos gehalten wurde“. Offenbar zielen sie mit ihren Ergebnissen auf das National Toxicology Program und die U.S. Food and Drug Administration. Die FDA hat 2008 Studien zu niedrigen Dosen ignoriert, als sie zu dem Schluss kam, Bisphenol A (BPA) in Alltagsprodukten wäre sicher. Zwei Jahre später änderte die Behörde ihre Ansicht und gab bekannt, dass sie sich nun Studien genauer ansehen würde, die Auswirkungen niedriger Dosen aufzeigen. Das National Toxicology Program stellte 2008 fest, dass BPA „ein gewisses Risiko“ für die Gesundheit des Menschen darstellen würde, wies aber andere Risiken zurück, weil sich die Studien widersprächen.
Mehrere Autoren des Berichtes wurden von ein paar anderen Wissenschaftlern und Industrievertretern kritisiert, weil sie zu ausgesprochenen Befürwortern von Prüfungen, Regulierungen und dem Ersatz von das Hormonsystem störenden Substanzen geworden wären. Die Wissenschaftler erklärten jedoch, sie sähen sich zu ihren Äußerungen gezwungen, da die regulierenden Behörden zu langsam handeln und sie sich über die Gesundheit der Menschen, insbesondere der Kinder, und der Tierwelt Sorgen machen.
Industrievertreter erklärten, nur weil Menschen Spuren von Chemikalien ausgesetzt wären, die in der Lage sind, den Hormonhaushalt zu beeinflussen, bedeutet das lange noch nicht, dass es irgendwelche schädlichen Wirkungen gäbe. Sie sagen, dass die Studien oft widersprüchlich und nicht beweiskräftig wären.
In einer Stellungnahme verkündete am Mittwoch der American Chemistry Council, der die Chemie-Konzerne vertritt, dass die Industrie „substantielle Ressourcen bereitgestellt habe, um die Forschung zum besseren Verständnis jeder potentiellen Wirkungen von chemischen Substanzen auf das Hormonsystem voran zu treiben. Während wir noch nicht die Möglichkeit hatten, das Papier in seiner Gänze zu prüfen, gelangte Michael Kamrin Professor Emeritus der Michigan State University zu der Feststellung, dass die Wirkung ’niedriger Dosen‘ nicht bewiesen wurde und deshalb nicht auf die wirklichen Lebensbedingungen und die humane Exposition angewendet werden sollten“.
„Aus dem was vorliegt muss geschlossen werden, dass diese „niedrig dosigen“ Wirkungen erst noch bewiesen werden müssen [und] dass die Studien, welche sie angeblich belegen, nicht wissenschaftlich korrekt auf Menschen übertragen werden können“, schrieb Kamrin, ein Toxikologe 2007 im International Journal of Toxicology.
Doch vom Saal und andere Forscher haben geäußert, dass Untersuchungen, die keine niedrigdosigen Wirkungen solcher Chemikalien wie BPA feststellen, oft industriefinanziert sind, und oft haben sie die falschen Tiere mit den falschen Dosen getestet oder sie haben die Tiere nicht zum Zeitpunkt der größten Gefährdung während des fötalen Wachstums einer Exposition ausgesetzt.
Endokrinologen haben schon lange gewusst, dass unendlich kleine Mengen von Östrogen, Testosteron, Schilddrüsenhormonen und anderen natürlichen Hormonen heftige gesundheitliche Folgen, insbesondere für Föten, haben können. Sie sind nicht davon überrascht, dass menschengemachte Substanzen mit hormonellen Eigenschaften ebenfalls große Auswirkungen haben könnten.
„Es gibt für Chemikalien, die wie Hormone agieren, wirklich keine sichere Dosis, da das Hormonsystem so eingerichtet ist, mit ganz niedrigen Konzentrationen zu arbeiten“, erklärt Vanderberg gegenüber Environmental Health News, eine Post-Doktorandin am Levin Lab Center für regenerative Biologie und Entwicklungbiologie an der Tufts University.
Doch viele Toxikologen stimmen der gängigen Meinung zu, „die Dosis mache das Gift“. In anderen Worten, es ist eine bestimmte Dosis erforderlich, damit etwas giftig ist. Sie sind es auch gewöhnt, einen Effekt zu sehen, den man „monoton“ nennt, dies bedeutet, dass die Reaktion eines Tieres oder eines Menschen mit der Dosis zu oder ab nimmt.
Die Forscher sagen in der neuen Untersuchung, dass nichts davon auf hormonähnliche Chemikalien zutrifft.
„Die Anerkennung dieser Phänomene sollte zu einem Paradigmenwechsel für toxikologische Studien führen und wird wahrscheinlich auch die wissenschaftlichen Methoden der Regulierungsbehörden dauerhaft beeinflussen“, schreiben sie.
In dem Bericht machen sich die Wissenschaftler Sorgen, dass die Regierung „sichere“ Expositionswerte für „eine erhebliche Anzahl von Substanzen die das Hormonsystem stören“ festgelegt hat, die niemals in niedrigen Dosen getestet wurden. Sie legten dringend nahe „die üblichen Sicherheitstests in großem Umfang auszuweiten“.
„Wir empfehlen, in den Untersuchungen die niedrigsten Dosis niedriger als die Belastung anzusetzen, denen Menschen ausgesetzt sind, sofern eine solche Dosis bekannt ist“, schrieben sie.
Vandenberg sagte, bei einer hohen Dosis einer hormonwirksamen Substanz kann gar keine Wirkung oder eine völlig andere auftreten, während eine niedrige Dosis Erkrankungen auslösen kann.
Das Brustkrebs-Medikament Tamoxifen „liefert ein hervorragendes Beispiel dafür, dass Tests mit hohen Dosen ungeeignet sind, die Wirkung niedriger Dosen vorherzusagen“, so heißt es in dem Bericht. In niedrigen Dosen regt es das Wachstum von Brustkrebs an. In höheren Dosen hemmt es dieses.
„Stellen Sie sich vor, man würde 100 repräsentative Personen aus der amerikanische Bevölkerung heraus greifen und nach den Expositionswerten eines EDC [endocrine-disrupting compound – hormonell wirksamer Stoff] in einer Linie so aufstellen, dass die Person ganz links den niedrigsten Belastungswert hätte und die ganz rechts den höchsten. Für viele toxische Chemikalien würden die Personen mit den höchsten Belastungswerten am rechten Ende der Linie das höchste Vorkommen von Erkrankungen aufweisen. Doch für manche EDCs legen Studien nahe, dass die Personen in der Mitte der Linie dem größten Risiko ausgesetzt sind“, sagte Vandenberg.
Sie verglich Hormone, welche an Rezeptoren im Körper andocken und Funktionen wie Wachstum des Gehirnes oder der Reproduktivorgane auslösen, mit Schlüsseln in einem Schloss.
„Je mehr Schlüssel in den Schlössern sind, desto mehr Wirkungen sind zu beobachten. Doch ab einem gewissen Punkt sind die Schlösser überfordert und reagieren nicht mehr auf die Schlüssel. Deshalb ergeben im Niedrigdosisbereich viele Schlüssel eine höhere Wirkung, während im Hochdosisbereich viele Schlüssel mit einer geringeren Wirkung verbunden sind“, sagte sie.
Vandenberg sagte voraus, der Bericht „wird unter Akademikern, Wissenschaftlern in Behörden und Industrie Diskussionen darüber auslösen, wie man die Risikoabschätzung für EDCs verbessern kann“.
„Die Frage lautet nicht mehr, ob diese Phänomene existieren, sondern wie wir weiterkommen und mit ihnen umgehen.“
Autor: Marla Cone, 15. März 2012 für Environmental Health News
Übersetzung: BrunO für CSN – Chemical Sensitivity Network
Der Original-Artikel „Low doses, big effects: Scientists seek ‚fundamental changes‘ in testing, regulation of hormone-like chemicals“ wurde unter der Creative Commons Linzenz: By veröffentlicht. Für diese Übersetzung gilt CC: BY-NC-SA
Artikelfoto: Copyright Big Fat Rat, CC: BY-NC-ND
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