Elektromagnetische Hypersensitivität und Multiple Chemical Sensitivity: Zwei Seiten derselben Medaille?

In mehreren Ländern sind EHS, MCS und Fibromyalgie mittlerweile als funktionale Behinderungen anerkannt

Etliche Fachleute aus verschiedenen europäischen Ländern stimmen zu, dass es sich bei elektromagnetischer Hypersensitivität um eine reale, körperliche Erkrankung handelt, und für einige scheinen diese Beschwerden direkt etwas mit Multiple Chemical Sensitivity (MCS) zu tun zu haben. Dies ist das Resultat des Kongresses „Mobilfunk, Wi-Fi, Wi-Max: Gibt es Gesundheitsrisiken?“, der am 14. Juni 2011 im Palazzo Marini, der Abgeordnetenkammer in Rom, abgehalten wurde. Diese Veranstaltung, die von A.M.I.C.A., der Vereinigung für umweltbedingte und chronisch toxische Verletzungen organisiert wurde, sollte über die Gesundheitsgefahren einen Überblick verschaffen, welche mit dem Gebrauch kabelloser Geräte verbunden sind.

Onkologe Prof. Dominique Belpomme, Professor am Universitätsklinik-Zentrum „Necker-Enfants Malades“ (Kinderklinik), Präsident von ARTAC (Anti-Krebstherapie-Forschung) präsentierte in seinem Vortrag „Diagnostische und therapeutische Protokolle zur Unverträglichkeit elektromagnetischer Felder“ die Ergebnisse einer klinischen Untersuchung von mehr als 450 Patienten, welche von 2008 bis 2011 in diese einbezogen wurden. Er und sein Team benutzten eine neue Technik für die Diagnostik von Menschen, die über gesundheitliche Reaktionen auf elektromagnetische Felder berichten, eine Erkrankung, die er vorzugsweise als „Intoleranz Elektromagnetischer Felder“ oder „EFI Syndrom“ und weniger als „Elektromagnetische Hypersensitivität“ definiert.

Bei der neuen Technik handelt es sich um den „Gepulsten Echo-Doppler“, eine gepulste Doppler-Echokardiographie des Gehirnes, welche den Echodoppler mit einer Computerauswertung kombiniert, um die Hirndurchblutung zu bestimmen. Anders als andere Methoden ist diese nicht gefährlich und es kommt dabei keine ionisierende Strahlung (Radioaktivität) zum Einsatz. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Menschen mit Elektromagnetische Felder Intoleranz das Gehirn schlechter durchblutet ist als bei der Kontrollgruppe, insbesondere der linke Teil des limbischen Bereiches des Gehirnes. Dies ist ein ganz besonderer Bereich, denn es ist der „archaische“ Teil des Gehirnes, der viele Körperfunktionen kontrolliert.

„Diese Ergebnisse sind sehr bedeutend“, sagte Belpomme auf dem Kongress, „denn zum ersten Mal können wir mit objektiven Tests Elektromagnetische Felder Intoleranz als körperliche Erkrankung belegen.“

Sein Team hat weitere Testmethoden angewendet, wie etwa die Konzentration von Histamin, Protein S100B und Hitzeschock-Proteine Hsp70 und Hsp27 im Blut. Bei rund 70 Prozent der untersuchten Patientengruppe lag ein ernsthafter Vitamin D Mangel vor, bei etwa 1 bis 2 Prozent der Patienten waren die Proteine Hsp27 und Hsp70 erhöht, während mehr als 40% der Stichprobe einen erhöhten Histaminspiegel hatten, ein Sachverhalt, der sich vollständig mit der Interpretation dieses Syndroms als körperliche Erkrankung deckt.

Bei ungefähr 10 Prozent der Patienten war Protein S100B erhöht, ein Marker für die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke (BHS). Bei einem Drittel der Stichprobe wurde eine Reduktion von Melatonin im Urin festgestellt und dies kann bei diesen Patienten eine Erklärung für Symptome wie Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Depressionen sein.

Diese Veränderungen ähneln denen, die man bei Patienten mit Multiple Chemical Sensitivity (MCS) (PDF) findet sehr, besonders hinsichtlich der Reduktion der Hirndurchblutung, der neurogenen Entzündungen, der Zunahme des oxidativen Stresses und der Schwächung der Abwehrkräfte. Die Tatsache, dass elektromagnetische Felder (EMF) eine Öffnung der Blut-Hirn-Schranke zur Folge haben, könnte mit dem Schutz des Hirnes vor toxischen Chemikalien ungünstig zusammenwirken. Es ist in der Tat nicht ungewöhnlich, dass Patienten mit dem EFI Syndrom MCS-Symptome haben, während Erkrankte mit MCS auch auf EMF reagieren.

Die Erhöhung des oxidativen Stresses bei elektrosensitiven Patienten wurde auch von Dr. Valeria Pacifico festgestellt, die in Rom über „Metabolische Biomarker für unausgeglichene Oxidationsreduktion und der Anfälligkeit gegenüber nicht ionisierender Strahlung“ referierte. Sie arbeitet im Team von Dr. Chiara De Luca im Versuchslabor BILARA am dermatologischen Institut von Immaculata in Rom, das zahlreiche Arbeiten über die Rolle des oxidativen Stresses bei Umwelt-Sensitivitäten veröffentlicht hat. (1, 2)

„Um eine Diagnose für dieses Syndrom zu stellen, müssen wir zuerst den Patienten zuhören und überprüfen, ob die Symptome besser werden oder verschwinden, wenn sie sich von EMF-Quellen fern halten“, erklärte Prof. Belpomme. Um nachzuweisen, ob die elektromagnetischen Felder die wirkliche Ursache für die bei diesen Patienten festgestellten Veränderungen sind, mussten die Patienten die Untersuchungen drei Monate vor und drei Monate nach einem Zeitraum wiederholen, in welchem sie EMF mieden. Die Ergebnisse zeigten, dass sich nach der Zeit der Vermeidung die Werte dem Normalen annäherten.

Aufgrund der starken Korrelation zwischen EMF Exposition und Alzheimer Erkrankung, welche sechs epidemiologische Studien belegten, geht Belpomme davon aus, dass jeder elektrosensitive Patient mit Gedächtnisstörungen auch auf Alzheimer untersucht werden sollte. Er weist darauf hin, dass es sich bei Alzheimer um den Verlust des Langzeitgedächtnisses handelt, während das EFI Syndrom oft zum Verlust des Kurzzeitgedächtnisses führt, doch dieses Symptom könnte als Vorläufer der Alzheimer Erkrankung angesehen werden.

Prof. Olle Johansson, assoziierter Professor der experimentellen dermatologischen Einheit der Abteilung für Neurowissenschaften am Karolinska Institut und Professor am königlichen Institut für Technologie in Stockholm referierte in Rom über „Das Vorsorgeprinzip: Von der Bioinitiative zum Seletun Konsens„. Er widmete seinen Vortrag den Menschen die von EHS und MCS betroffen sind, weil „diese ein sehr schweres Leben haben“.

Er ist einer der engagiertesten Wissenschaftler, welche sich für neue Biologie gestützte Sicherheitsrichtlinien für EMF einsetzen. 2006 war er anlässlich der ICEMS-Resolution in Benevento, danach 2007 in London für eine neue Resolution und er gehörte auch zu jener Gruppe unabhängiger Wissenschaftler, die 2007 den berühmten Bioinitiative Report veröffentlichte, dessen politische Agenda starke ökologische Bedenken enthielt. Aufgrund dieses Berichtes unterzeichnete das Europäische Parlament am 4. September 2008 tatsächlich eine Resolution, um zu bekunden, dass die aktuellen Sicherheitsbeschränkungen für EMF überholt sind und um die europäischen Regierungen vor der Zunahme neuer Umwelterkrankungen wie EHS, MCS und dem dentalen Amalgam Quecksilber Syndrom zu warnen.

Vor nicht allzu langer Zeit gehörte Prof. Johansson zu der Gruppe von Wissenschaftlern, die jenen Seletun Consensus vorbereiteten, der Februar 2011 in den Rezensionen von Environmental Health (3) veröffentlicht wurde. Er stellt fest, dass die derzeitigen Standards die Weltbevölkerung nicht vor elektromagnetischen Feldern schützen und dass alle EMF jetzt reduziert werden sollten, anstatt auf einen definitiven Beweis für die Gefahr zu warten. Er erklärt ebenfalls, dass Menschen, die EHS Symptome berichten, als von einer funktionellen Behinderung Betroffene angesehen werden sollten.

In Schweden sind z.B. EHS, MCS und Fibromyalgie längst als funktionelle Behinderungen klassifiziert. Dies bedeutet, dass von diesen Erkrankungen betroffene Menschen nicht als Patienten angesehen werden, sondern dass es die Umwelt ist, die sie behindert macht und dass folglich die Umwelt verändert werden muss. Eine derartige Klassifikation stellt die volle Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dar, welche am 30. März 2007 von Regierungsvertretern unterzeichnet wurde. Diese Konvention sollte genügen, um alle Regierungen zu drängen, die richtigen Lösungen für Barrierefreiheit und die besten Sozialregelungen für Menschen mit umweltbedingten Sensitivitäten zu finden und die Diskriminierung zu beenden.

Autor: Francesca Romana Orlando, Journalistin und Vize-Präsidentin von A.M.I.C.A.

Übersetzung: BrunO für CSN – Chemical Sensitivity Network

Literatur:

  1. De Luca C. et al., Biological definition of multiple chemical sensitivity from redox state and cytokine profiling and not from polymorphisms of xenobiotic-metabolizing enzymes, Toxicology and Applied Pharmacology, YTAAP-11818; No. of pages: 8; 4C.
  2. De Luca C. et al., The Search for Reliable Biomarkers of Disease in Multiple Chemical Sensitivity and Other Environmental Intolerances, Int. J. Environ. Res. Public Health 2011, 8, 2770-2797; doi:10.3390/ijerph8072770
  3. Fragopoulou A ed al., Scientific panel on electromagnetic field health risks: consensus points, recommendations, and rationales, Rev Environ Health. 2010 Oct-Dec; 25(4):307-17.

Weitere CSN Artikel zum Thema:

2 Kommentare zu “Elektromagnetische Hypersensitivität und Multiple Chemical Sensitivity: Zwei Seiten derselben Medaille?”

  1. Silvia 11. September 2011 um 19:17

    So pauschal und weitreichend würde ich nicht gehen PappaJo.

    Meinetwegen kann jemand Geld verdienen so viel er will, wenn es auf ehrliche Weise geschieht und wenn er etwas Sinnvolles damit anfängt. Es gibt Unternehmer, die mit einer Idee zu viel Geld kamen und dann Summen in Projekte fließen ließen, die der Allgemeinheit dienen oder Kranken helfen.

  2. PappaJo 12. September 2011 um 23:14

    Hallo Silvia,
    mag ja sein aber ich denke das die meisten das sehr ego sehen und wenn überhaupt nur einen Bruchteil irgendwo spenden. Wäre natürlich an der Zeit das sich die edlen und üppigen Spender outen und der Allgemeinheit zeigen, was so und wie und wo gespendet wird. Wäre doch keine Schande und könnte Nachahmer finden. Das alles heimlich abzuwickeln ist nicht wirklich geschickt, denn so kommt dann diese Meinung zustande die ich anfangs gepostet hatte.

    Es bringt aber keinen weiter wenn Mobilfunkkonzerne mit einer Technik, die immer weniger vertragen, Milliarden verdienen. Auch wenn gespendet wird ist das keine Entschuldigung. Von viel Geld kann ich mir auch keine „nicht Mobilfunk Sensibilität“ kaufen.

Kommentar abgeben: