Psychostudien unter der Lupe

Psychostudien unter der Lupe

Die früher genannten Studienergebnisse bei Vergleichen von Psychotherapie mit Placebobehandlungen und Unbehandelten sollen im Folgenden noch etwas genauer betrachtet werden.

Das Beispiel

Als Ausgangs- und Orientierungspunkt soll dabei ein Ergebnis der schon erwähnten NIMH-Studie [1] dienen. Dort ging es um die Behandlung von Depressionen mit verschiedenen Methoden.

Die Hamiltonskala

Zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung und des Behandlungserfolgs werden den Patienten zu Begin und am Ende der Behandlung einige vorgegebene Fragen gestellt und die Antworten dann von den Befragern nach einem Punkteschema bewertet. Dabei wurde eine Version der weit verbreiteten sog. Hamilton-Skala (HRSD) benutzt. Aus den Punkteergebnissen wurde dann jeweils ein Skalenwert ermittelt, der die Schwere der Depression des betreffenden Patienten repräsentieren soll. Höhere Werte stehen dabei für eine schwerere Depression, d.h. niedrigere Werte sind „besser“. Ein Resultat von 15 bis 18 wird als milde bis mittelschwere Depression gewertet. Schwer depressive Patienten erreichen üblicherweise einen Wert von 25 oder mehr.

Die Ergebnisse

Dabei ergaben sich folgende Ergebnisse:

tabelle-1

* Imipramin ist ein trizyklisches Antidepressivum

Die angegebenen Werte sind jeweils die Mittelwerte der einzelnen Gruppen.

Durch die Behandlung mit Psychotherapie verbessern sich die Teilnehmer durchschnittlich um einen Wert I. Erfolgt diese Verbesserung wiederum mit einer gewissen zufälligen Variabilität, wird die Streuung der Ergebnisse dabei größer, d.h. die Standardabweichung wird größer (vgl. obige Tabelle).

Die Standardabweichung „s“ ist ein Maß für die Schwankungsbreite der Ergebnisse in den einzelnen Gruppen. Bei dem Ergebnis m ± s liegen 68,3% der Einzelergebnisse zwischen (m – s) und (m + s). Dabei ist „m“ der Mittelwert. Je kleiner s ist, desto dichter liegen die Einzelergebnisse beisammen.

Die nachfolgende Graphik zeigt die Studienergebnisse (die ersten vier Zeilen der Tabelle) als normalverteilte Wahrscheinlichkeitsdichten. Je höher die Kurve, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in der Gruppe den zugehörigen HRSD-Punktewert hat. Farben wie in der Tabelle.

Tabelle 2

Die Effektstärke

Um die Ergebnisse verschiedener Studien vergleichen zu können, verwendet man häufig die sogenannte Effektstärke (meist mit „d“ oder „ES“ abgekürzt) , die je nach beabsichtigter Genauigkeit oder Perspektive auf verschiedene Weise berechnet werden kann.

Im einfachsten Fall nimmt man d = (m1-m2)/s2 (Glass’s Delta). Dabei ist m1 der von der betrachteten Versuchsgruppe erreichte Mittelwert nach der Behandlung, m2 der von der Kontrollgruppe (hier die Placebogruppe: m2=8,8) erreichte Mittelwert und s2 die Standardabweichung von der Kontrollgruppe (hier s2=5,7).

Im vorliegenden Fall erhält man formal eine negative Effektstärke, wenn die Therapiegruppen besser als die Vergleichsgruppen sind, weil weniger HRSD-Punkte „besser“ sind. Konventionell zählt man die Effektstärke aber in Richtung der „Verbesserung“ positiv. In diesem Fall würde man also d statt d berichten.

Klinische Relevanz der Effektstärke

Nach der Konsensempfehlung des (englischen) Nationalen Instituts für klinische Exzellenz (National Institute for Clinical Excellence (NICE)) sind für einen klinisch relevanten Effekt mindestens 3 Punkte auf der Hamilton-Skala oder alternativ eine Effektstärke von d = 0,5 erforderlich [2].

Bei entsprechend hoher Standardabweichung können die absoluten Unterschiede trotz nicht vorhandener klinischer Relevanz nach dem Kriterium d < 0,5 recht hoch sein. Umgekehrt können die entsprechenden absoluten Unterschiede bei sehr kleiner Standardabweichung trotz klinischer Relevanz gemäß d % 0,5 sehr klein sein. Daher die zusätzliche Forderung, dass der Effekt mindestens 3 Punkte auf der Hamilton-Skala ausmachen muß.

Ein Wert auf der Hamilton-Skala von 6 oder besser wird in Studien oft als Grenzwert genommen, ab dem ein Patient als „geheilt“ gilt.

Die Behandlung ist nicht wirklich besser als das Placebo

Befürworter der Psychotherapie, insbesondere solche, die selber Psychotherapie machen, führen als Beleg für die Effizienz von Psychotherapie gegenüber Placebobehandlungen oder Nichtbehandlung häufig die Ergebnisse der Metastudie von Lambert und Bergin [3] an, in der 15 Metastudien ausgewertet wurden. Dort kam man auf Werte für die Effektstärke von:

„Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“: d = 0,82

„Psychotherapie“ gegenüber „Placebo“: d = 0,48

„Placebo“ gegenüber „keine Behandlung“: d = 0,42

(D.h. für den Fall „Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“: der Unterschied zwischen den Durchschnittsergebnissen für die „Psychotherapie“-Gruppe und die „keine Behandlung“-Gruppe beträgt das 0,82-fache der Standardabweichung der „keine Behandlung“-Gruppe, das sind 0,82×5,7 = 4,7 HRSD-Punkte.)

Der Unterschied zwischen Psychotherapie und Placebo beträgt also nach Effektstärken 0,48 (zweite Zeile).

Nach der oben angegebenen Formel für die Effektstärke d = (m1-m2)/s2 folgt aus dem ersten und dritten Wert jedoch eine Differenz zwischen den Ergebnissen von Psychotherapie und Placebo von nur 0,40 Standardabweichungen der „keine Behandlung“-Gruppe. Der Unterschied rührt möglicherweise daher, dass die Standartabweichung für „keine Behandlung“ größer war als die für „Placebo“. Eine andere bzw. zusätzliche Möglichkeit besteht darin, dass eine leicht abweichende Formel zur Berechnung der Effektstärke verwendet wurde.

Wie auch immer man jedoch rechnet: Die Placebogruppe ist zwar etwas schlechter als die Therapiegruppen, der Unterschied in den erreichten Mittelwerten ist nach dem NICE-Standard jedoch klinisch nicht relevant.

…und der Vorsprung schwindet

Dabei ist weiter zu bedenken, dass wichtige unspezifische Faktoren wie die Überzeugtheit des Therapeuten hinsichtlich seiner Behandlung bei Placebobedingungen nicht vorhanden sind und auch weitere unspezifische Kontextfaktoren fehlen können.([4], S. 46)

„Weinberger [6] ging so weit zu sagen, dass der Unterschied in den verschiedenen Behandlungsformen darin liegt, welche generellen Faktoren [= unspezifische Faktoren] benutzt und welche generellen Faktoren vernachlässigt werden.“([4], S. 82)

Einige Studien haben versucht, den Überzeugungs- bzw. Loyalitätseffekt abzuschätzen. Dabei fand man, wenn der Therapeut von seiner Behandlung überzeugt ist, eine Effektstärke von 0,95. Ist der Therapeut nicht überzeugt, wie bei einer Placebobehandlung anzunehmen, lag die Effektstärke nur bei 0,66.

Bei Gültigkeit der obigen Formel für die Effektstärke, liegt der Unterschied aufgrund des Überzeugungseffekts in den Ergebnissen für das jeweilige Meßinstrument bei 0,29 Standardabweichungen. Die entsprechende Differenz in der oben genannten Studie von Lambert und Bergin lag bei 0,48. D.h. allein dieser Faktor reduziert den Unterschied zwischen Therapie und Placebo auf 0,19 Standardabweichungen (das entspräche in obigem Beispiel ca. 1,1 Punkte auf der Hamilton-Skala) und führt so praktisch zu einem Ausgleich.

In einer anderen Studie von Bergmann et. al. (1985) ([4], S. 59) kam man gar auf einen Überzeugtheitseffekt von 0,65. Ein Effekt in dieser Größe würde den Unterschied zwischen Therapie und Placebo sogar mehr als ausgleichen.

(Weiter unten wird an einer Stelle der Mittelwert von (0,29+0,65)/2 = 0,47 verwendet.)

Weitere Therapeuteneffekte

Auch sind die Erfolgsraten verschiedener Therapeuten systematisch unterschiedlich hoch. Die davon in Studien ausgehenden Effekte führen in Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Therapiemethoden oft zu einer Übertreibung von Unterschieden. Korrigiert man diese Effekte, so verschwinden allfällige Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Therapieformen. Schätzungen kommen auf durch unterschiedlich erfolgreiche Therapeuten bedingte Unterschiede in Ergebnissen von Studien zum Vergleich von Therapiemethoden auf Effektstärken bis zu 0,6 ([4], S. 77) (vermutlich „gute“ gegenüber „schlechte“ Therapeuten). Diese Effektstärke überwiegt wiederum die gefundenen Unterschiede zwischen „echten“ Therapien und „Placebos“. D.h. im Einzelfall kann es wichtiger sein, einen „guten“ Therapeuten zu haben, als eine „echte“ Therapie zu bekommen.

Blatt et.al. kamen in einer Analyse der NIMH-Studie zu dem Ergebnis: „Die Analyse der Daten läßt auf einen existierenden signifikanten Unterschied innerhalb der therapeutischen Wirksamkeit unter Therapeuten schließen, sogar unter den best trainiertesten und erfahrensten Therapeuten in dieser Studie… [Die Unterschiede bestehen] nicht in Abhängigkeit von der allgemeinen klinischen Erfahrung der Therapeuten oder der Erfahrung in der Behandlung von depressiven Menschen. Jedoch werden die Unterschiede in der therapeutischen Wirksamkeit mit der grundsätzlichen klinischen Ausrichtung assoziiert… Die effektivsten Therapeuten hatten in Bezug auf den klinischen Prozeß eher eine psychologische denn eine biologische Orientierung…“ ([4], S. 78)

Luborsky et. al. fanden [5]: „Trotz dieser Schritte, die die Fähigkeiten [der Therapeuten] maximieren sollten und die Unterschiede minimieren, reichte der Range [die Variationsbreite] der prozentualen Verbesserung der Klienten bei den 22 Therapeuten in den sieben Studien von geringfügig negativer Veränderung bis zu 80% Verbesserung.“ ([4], S. 79)

„Die Person des Therapeuten ist offenbar der kritische Faktor, wenn es um den Erfolg einer Therapie geht.“([4], S. 82)

Wie wirksam ist Psychotherapie?

Zur Beurteilung der absoluten Wirksamkeit von Psychotherapien hilft die Effektstärke jedoch nicht weiter. Dazu muß man die absoluten Verbesserungen betrachten.

Aus obiger Tabelle geht hervor, dass die beste Psychotherapie eine mittlere Verbesserung von 12,2 Punkten auf der Hamiltonskala brachte, bei einem Ausgangswert von 19,2. Das ist eine sehr deutliche Verbesserung.

Psychotherapie ist also durchaus wirksam. Die Placebobehandlung erbrachte jedoch eine fast genau so große Verbesserung um 10,3 Punkte bei einem Ausgangswert von 19,1. Der Unterschied von 1,9 Punkten ist klinisch nicht relevant.

Eine Behandlung ohne spezifische Inhalte, die nach gängigen theoretischen Vorstellungen unwirksam sein sollte, bringt also ein fast genauso gutes Ergebnis.

Die Differenz ist praktisch vollständig durch Überzeugtheitseffekte der Therapeuten sowie ggf. weitere Kontexteffekte erklärbar.

Ein hypothetischer Fall

Nun folgt noch ein hypothetischer Vergleich mit dem Fall, dass die NIMH-Studie noch eine weitere der „keine Behandlung“-Bedingung entsprechende Kontrollgruppe gehabt hätte, die statistisch ein im Sinne der Metastudie von Lambert und Bergin repräsentatives Verhalten zeigt.

Aus Lambert und Bergins Ergebnis einer Effektstärke von 0.82 von „Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“ ergäbe sich rein rechnerisch nach obiger Formel für die Effektstärke als Ergebnis für den Fall „keine Behandlung“ gegenüber der besten Psychotherapie (Interpersonale Therapie) der Studie immer noch eine Verbesserung um 7,3 Punkte von 18,9 auf 11,6 Punkte (dabei wurde s = 5,7 angenommen).

Die nachfolgende Graphik zeigt das Ergebnis zusammen mit den Studienergebnissen für die Interpersonale Therapie:

Tabelle 3

Es gibt also auch eine nennenswerte Spontanremission.

Sie macht in diesem hypothetischen Fall bei der besten Psychotherapie im Mittel etwa 63% der absoluten Verbesserung auf der Hamilton-Skala aus. Zudem überschreitet die beste Therapie im Vergleich zu dem hypothetischen Fall „keine Behandlung“ die Schwelle von 3 Punkten auf der Hamilton-Skala für klinische Relevanz nur um 1,7 Punkte (dies wie gesagt bei einer Standardabweichung von 5,7).

Das lässt die folgende Interpretation zu:

Fast zwei Drittel der Wirkung von Psychotherapie beruht auf Regressionseffekten bzw. Spontanremission (vgl. Teil 2).

Unter Regressionseffekten und Spontanremission sollen dabei alle Effekte zusammengefasst werden, die nicht aus einer Behandlung oder einer Scheinbehandlung stammen.

Alles in allem ist die Wirksamkeit von Psychotherapie also selbst im Vergleich zu dem „keine Behandlung“-Fall alles andere als beeindruckend. Die Schwelle zur klinischen Relevanz wird im hypothetischen Beispiel gerade so eben überschritten.

Im nächsten Beitrag soll die Interpretation der Effektstärken genauer betrachtet werden.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 28. Juli 2009

Teil I – IV

Teil I: Psychische Beeinträchtigung als Folge von Chemikalien-Sensitivität

Teil II: Die „Lösungen“ der Mainstream Medizin, auch bei MCS Psychotherapie und Psychopharmaka

Teil III: Psychopharmaka: Wirksam? Unwirksam? Schädlich? Placebo?

Teil IV: Psychotherapie – Das größte Placebo des 20. Jahrhunderts?

Weitere Artikel zum Thema

Literatur:

[1] Elkin et. al. (1989). NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: General Effectiveness of Treatment, Archives of General Psychiatry 46:971-82.

[2] National Institute for Clinical Excellence: Depression: management of depression in primary and secondary care. Clinical

practice guideline No 23. London: NICE; 2004.

[3] Lambert & Bergin (1994). The Effectiveness of Psychotherapy, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4th ed., ed. Bergin & Garfield, 143-190, John Wiley & Sons.

[4] Reiband, Nadine (2006). Klient, Therapeut und das unbekannte Dritte, Carl-Auer Verlag.

[5] Luborsky et. al. (1997). The Psychotherapist Matters: Comparison of Outcomes across twenty-two Therapists and seven Patient’s Samples, Clinical Psychology: Science and Practice, 42, 602-11.

[6] Weinberger (1995). Common Factors aren’t so common: The common Factors Dilemma. Clinical Psychology: Science and Practice, 42, 45-69.

Ein Kommentar zu “Psychostudien unter der Lupe”

  1. Alex 28. Juli 2009 um 22:58

    Hallo Karlheinz,
    Deine Serie its ein Must Read für jeden der MCS hat. Wer sich den Inhalt verinnertlicht hat, mit dem kann man kein krummes Psychospiel mehr spielen.

    Das Thema Psychotherapie sollten auch Krankenkassen beleuchten, sie könnten Millionen sparen in null komma nichts.

    Gruß, Alex

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