Chemikalien-Sensitivität (MCS) – „Es ist alles nur in Deinem Kopf“ – „It’s all in your head“
„It’s all in your head“, „Es ist alles in deinem Kopf“, heißt es von mancher Seite beim Thema MCS. Nimmt man diese Aussage physiologisch wörtlich, so stellt sich als nächstes die Frage: Wie ist „es“ da wohl hineingekommen?
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, dem Suchenden einen Weg zu weisen. Dabei schließen wir gedanklich an die alte toxikologische Wahrheit „die Dosis macht das Gift“ an, indem wir uns auf wissenschaftliche Aussagen über therapeutisch wirksame Substanzen beziehen:
So überlistet man die Blut-Hirn-Schranke
Therapeutische Substanzen können auf eine einfache und nicht invasive Weise intranasal verabreicht werden. Auf diese Weise können diese Substanzen unter Umgehung der Blut-Hirn-Schranke (BHS) schnell in das Gehirn und das Rückenmark gelangen. Diese Methode funktioniert, aufgrund der Verbindung, die die in die Wahrnehmung von Gerüchen und Chemikalien involvierten olfaktorischen und trigeminalen Nerven zwischen dem Gehirn und der Außenwelt bereitstellen.
Dabei müssen die Substanzen nicht extra für die intranasale Applikation modifiziert werden oder an eine Trägersubstanz gekoppelt werden. Eine große Bandbreite von Substanzen, sowohl kleine als auch Makromoleküle, können so schnell ins Zentralnervensystem (ZNS) gelangen.
Die olfaktorischen und trigeminalen Wege ins Gehirn
Es ist seit langem bekannt, dass pathogene Mikroorganismen und giftige Metalle entlang neuraler Transportwege von der Nasenschleimhaut zum ZNS transportiert werden können. Es wurde jedoch erst kürzlich erkannt, dass auf demselben Wege auch therapeutische Substanzen ins ZNS transportiert werden können. Der olfaktorische neurale Transportweg bietet sowohl intraneuronale als auch extraneuronale Wege ins Gehirn.
Der intraneuronale Weg beinhaltet axonalen Transport (d.h. Transport innerhalb der Nervenfasern) und auf ihm dauert es Stunden oder Tage bis die Substanzen verschiedene Hirnregionen erreichen.
Der extraneuronale Transport erfolgt vermutlich über den allgemeinen Flüssigkeitstransport durch perineurale (um den Nerv herum) Kanäle, die die Substanzen direkt ins Parenchymgewebe (die spezifischen Zellen eines Organs, im Gegensatz zum interstitiellen oder Gerüstgewebe) des Gehirns, die zerebrospinale Flüssigkeit (Liquor) oder beidem bringen. Auf diese Weise kann der Transport innerhalb von Minuten erfolgen.
Dies ist nicht überraschend, da die zerebrospinale Flüssigkeit normalerweise entlang des olfaktorischen Axonbündels abfließt, indem es die cribriforme Platte (Siebplatte) des Schädels durchquert und dann die olfaktorische Schleimhaut in der Decke der Nasenhöhle erreicht.
Hier wird die zerebrospinale Flüssigkeit dann in das nasale Lymphsystem übergeleitet. Thorne et al. (R.G. Thorne & W.H. Frey, II in Clinical Pharmacokinetics. 2001; 40(12):907-946) haben erste Hinweise dafür präsentiert, dass der trigeminale neurale Transportweg ebenfalls in den schnellen Transport therapeutischer Proteine in das Gehirn und das Rückenmark involviert sein könnte. Die trigeminalen Nerven versorgen Bereiche der Nasenhöhle, die neben dem Geruchssinn für den größten Teil der Chemorezeption verschiedener Stimuli verantwortlich sind, darunter scharfe Gewürze (Capsaicin), Formaldehyd und andere Chemikalien.
Dieser Transportweg hat aber auch seine Grenzen, darunter die Höhe der Substanzkonzentrationen, die in verschiedenen Regionen des Gehirns und des Rückenmarks erreicht werden können. Diese Beschränkungen sind von der jeweiligen Substanz abhängig. Es ist zu erwarten, dass der Transport mit zunehmendem Molekulargewicht abnimmt. Außerdem können manche Substanzen teilweise in der Nasenschleimhaut abgebaut werden.
Auf diese intranasale Weise wurden bisher u.a. folgende therapeutische Substanzen verabreicht: Neurotrophine (körpereigene Signalstoffe) (NGF, IGF-1), Neuropeptide (Hypokretin-1 und Exendin), Zytokine (Interferon beta-1b und Erythropoietin), Polynukleotide (DANN-Plasmide und Gene) sowie kleinere Moleküle (Chemotherapeutika und Carbamazepin).
Wie gesagt, „It’s all in your head“ Und nun verstehen wir ein bisschen besser, wie „es“ rein kommt in den Kopf.
Autor: Karlheinz für CSN – Chemical Sensitivity Network, 22. Mai 2009
Literatur:
Frey WH 2nd: Bypassing the blood-brain barrier to delivery, therapeutic agents to the brain and spinal cord. Drug Delivery Technol 2002, 5:46-49.
Leah R Hanson1 and William H Frey, II, Intranasal delivery bypasses the blood-brain barrier to target therapeutic agents to the central nervous system and treat neurodegenerative disease, BMC Neurosci. 2008; 9 (Suppl 3): S5.
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Karlheinz,
das ist leider sehr schwere Kost für mein Gehirn. Aber trotzdem sehr
interessant, obwohl ich vieles nicht verstanden habe. Mich interessiert es
sehr was die Nase und natürlich das Gehirn so macht, ich denke da
gibt es noch viel zu forschen und zu entdecken.
Gruß Energiefox
Lieber Karlheinz,
vielen herzlichen Dank auch für diesen Artikel- der Denkansatz gibt Perspektiven!
Gibt es in Deutschland eine Forschungsstelle, einen Arzt, die auf dieser Basis arbeiten inklusive den genannten Substanzen?
Geben tut es schon Mediziner. Hier zum Beispiel:
An der Ruhr-Universität Bochum. Den Inhaber des Lehrstuhls für Zellphysiologie Prof. Dr. Dr. Dr. habil. Hanns Hatt .
http://www.cphys.rub.de/
http://www.uv.ruhr-uni-bochum.de/pvz-planung/i3v/00032900/01475422.htm
Aber der gute Mann ist wohl mehr an Maiglöcken und Veilchen interessiert.
vgl. auch noch mal ein paar Erläuterungen unter
http://www.csn-deutschland.de/forum/showthread.php?id=10161
We prometed about Ziem/Pall Protocol (Key Pharmacy, Seattle) since 2007.
http://www.riconoscimentomcs.135.it (see Protocolli Terapeutici under AREA MEDICI section).
Hallo, Karl- Heinz, hallo Ihr alle!
Mit allergrößtem Interesse habe ich diesen Beitrag gelesen.
Seit Jahren habe ich folgende Erklärung zur Entstehung von MCS (diese Erklärung ist entstanden nach jahrelangem Suchen nach einer solchen):
Die Riechnerven werden verletzt, entweder durch länger dauernde Beeinflussung durch niedriger dosierte Chemikalien aus der Gruppe der halogenierten Kohlenwasserstoffe (diese sind alle lipophil, hängen sich also gerne an Nerven und sind neurotoxisch) oder auch durch einmalige Exposition (wie bei mir ein Brandgeschehen mit schwarzem Rauch aus einem Aufzugschacht).
Lange schon wird diskutiert, dass die Neurotransmitterherstellung und Funktion durch neurotoxische Stoffe gestört wird (werden kann)
In den Nerven gibt es immer exitatorische und inhibitorische Transmitter, also feuernde und hemmende Botenstoffe. Normalerweise werden die so hergestellt, dass ein Gleichgewicht herrscht bzw. dass immer gerade der Neurotransmitter hergestellt wird, der gebraucht wird.
Was, wenn durch die chemische Verletzung der Riechnerven der inhibitorische Transmitter (Gammaaminobuttersäure, GABA) nicht oder nur ungenügend hergestellt wird , sodass die Neuronen viel zu oft und viel zu früh feuern (dadurch die Geruchsempfindlichkeit).
Die Axone (das sind sozusagen die Straßen, auf denen gefeuert wird) sind zum Stofftransport hervorragend geeignet.
Was, wenn auf den Axonen durch das immer wieder viel zu frühe und viel zu heftige Feuern die neurotoxischen Substanzen auf direktem Weg ins Gehirn gelangen (die Riechnerven landen direkt im Zwischenhirn) und dort Schaden anrichten (wohlgemerkt in der wichtigsten Steuerzentrale, die wir haben!). Dass dies möglich ist, wurde mir von einem biochemisch versierten Laborarzt bestätigt.
Leider hatte die ganze Sache (bis jetzt) einen Haken:
Es gibt von MCS Betroffene, die nichts (gar nichts oder wenig) riechen, deshalb sagt Pall ja, dass die Sache mit der Verletzung des olfaktorischen Systems nicht die Ursache von MCS ist.
Aber: möglicher Weise werden die Riechnerven selbst in der Weise verletzt, dass sie zu viel (oder gar nichts) riechen, dass aber gleichzeitig das von Dir beschriebene trigeminale Chemorezeptorsystem verletzt ist und feuert und feuert (eben weil der hemmende Transmitter nicht produziert wird) und die toxischen Chemikalien ins Zwischenhirn gelangen lässt, auch der Trigeminus ist ein Hirnnerv, wo allerdings der genau landet, muss ich mal nachsehen. Möglicherweise mischen sich auch beide Schädigungen und deren Auswirkungen.
Das würde den Widerspruch auflösen. Ich habe immer gegrübelt, dass das olfaktorische System so kompliziert gebaut sein müsse, dass sozusagen in einer Etage das Riechen selbst gestört ist, in einer anderen Etage aber der Chemikalientransport vonstatten geht, weil die Chemorezeptoren verletzt sind.
Ich zitiere: „Die peripheren Rezeptorneuronen und ihre zugehörigen Nervenendungen werden typischerweise erst durch relativ hohe Konzentrationen irritierender Chemikalien aktiviert…“
Das muss ja auch so sein, sonst würde ja jeder sehr schnell krank, wenn er in einem Schusterladen o.ä. steht, da hat der Körper eine sehr sinnvolle Schranke aufgebaut (die „Nasen- Hirn- Schranke? Ich möchte diese von der Blut- Hirnschranke abgegrenzt wissen).
Ich möchte MCS raus haben aus dem Konglomerat der „chronischen Multisystemerkrankungen“. MCS ist eine eigene, genau beschreibbare Krankheit, resultierend aus einer chemischen Verletzung des olfaktorischen Systems. Abgesehen davon ist es natürlich auch möglich, dass man auf vielfältige Weise krank wird, wenn man die neurotoxischen Substanzen einatmet, weil die Gifte schließlich auch über die Schleimhäute vom Körper aufgenommen werden (siehe Blasenkrebs bei Lösungsmittelexposition, welch letztere ja auch häufig zu MCS führt).
Über Rückmeldung zu meinem Beitrag würde ich mich freuen, ich würde vor allem gern mit Dir, Karl Heinz, reden. Mir schwebt im Kopf herum, dass man unsere „Ausgrabungen“ im Herbst auf der Umwelttagung in Hamburg vorstellen könnte.
SO ist nämlich MCS auch Laien relativ leicht zu erklären, man müsste nur aus dem „inhibitorischen Transmitter“ den hemmenden Botenstoff machen. Ich erkläre mein Elend jedenfalls schon jetzt denen, die es wissen wollen, so.
Und man könnte nach Stoffen suchen, die helfen, die normale Funktion der Nerven wiederherzustellen.
So, das war’s, was mir auf der Seele lag.
Ich habe MCS seit acht Jahren, lese schon lange im Forum und im Blog, habe auch einige Beiträge geschrieben und bin jetzt wieder angemeldet.
Viele Grüße
Krissie
Zwischen dem trigeminalen System und dem olfaktorischen gibt es offenbar verschiedene Wechselwirkungen, über die vieles vermutlich noch nicht bekannt ist. Die Idee, dass eine Fehlregulation oder Fehlfunktion der Chemorezeption eine Rolle spielen könnte ist nicht neu, ein weiterer Blogbeitrag zu dem Thema kommt noch. Aber die Idee ist ja nicht gerade neu. Insofern habe ich auch so meine Zweifel, ob das was für einen Vortrag wäre. Höchstens als Übersicht für Leute, die noch nichts davon gehört haben, also vermutlich vorwiegend Laien. Aber die könnten es ja dann auch gleich z.B. im Blog nachlesen. Vielleicht gibts auch noch andere deutsche Darstellungen. Auf engl. gibts da mehr Quellen.
Im Detail über Mechanismen zu spekulieren ist zwar ganz interessant, aber für unsereins wohl eher ein privater Zeitvertreib, da die Dinge außerordentlich kompliziert und auch noch wenig verstanden sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass man falsch liegt ist recht hoch. Also sollte man solche Spekulationen nicht zu ernst nehmen. Hinsichtlich der genauen Mechanismen werden wir wohl noch etwas Geduld haben müssen.
Dennoch: zur Geruchsempfindlichkeit: die tritt bei mir immer nach längerer und insbesondere wiederholter Exposition auf und klingt dann wieder ab. Wie gesagt, reduziert ja die trigeminale Chemorezeption die Geruchsempfindlichkeit. Da der Geruchssinn ähnlich wie das Sehen die Empfindlichkeit auf einen subjektiv gleichen Sollwert justiert (glaub ich zumindest), obwohl die objektive Reizstärke und Zusammensetzung schwankt, kann das evtl. dazu führen, dass die Empfindlichkeit durch gegenläufige Aktivität des olfaktorischen Systems auf mittlere Sicht wieder ausgeglichen wird (d.h. die olfakorische Seite müßte dann die Empfindlichkeit hochregeln um den dämpfenden Impuls vom Trigeminus zu kompensieren). Wenn der trigeminale Reiz länger andauert (Dauerexposition), kann das (der Ausgleich) evtl. auf der Ebene der Genexpression stattfinden („long term potentiation“). Wenn die Exposition dann wieder wegfällt, verschwindet der dämpfende trigeminale Reiz sofort, während die kompensierende Aktivität des olfaktorischen Systems erst allmählich runtergefahren wird, da die Genexpression ein trägerer Mechanismus ist. Im Ergebnis wäre die Geruchswahrnehmung dann vorübergehend gesteigert.
Mein Favorit für einen zweiten Mechanismus (außer der Chemorezeption) ist ebenfalls eine Störung der Kommunikation/Regulation zwischen modulierenden Zentren des Nervensystems. Bei Drogen tritt sowas vermutlich beim Entzug auf und man bekommt massive Symptome, weil sich der Körper an eine konstante Überlagerung der normalen Aktivität angepasst hatte, die nun weggefallen ist. Ein Effekt unterschiedlicher Zeitkonstanten der Anpassungsvorgänge.
Claudia Miller sieht hier jedenfalls eine Parallele und meint, dass bei MCS sowas eine Rolle spielt, nur spiegelverkehrt zur Sucht, was sie dann analog zu „Addiction“ (Sucht) „Abdiction“ genannt hat. Insofern auch nicht ganz neu.
Es wäre auch denkbar, dass das Gehirn bei einer größeren oder lang andauernden Exposition eine bestimmte Adaptation (an ein verschobenes Neurotransmittergefüge oder einfach nur zum Ausgleich spezifischer Eingriffe in die Modulation bestimmter autonomer Funktionen) gelernt hat, bei gleichzeitigem Vorliegen eines trigeminalen Reizes wird dieser dann vielleicht zu einem konditionierten Reiz. Wenn dann wider ein trigeminaler Chemoreiz auftritt wird dann vielleicht dieses Adaptationsprogramm aktiviert (was dann sehr schnell gehen kann), obwohl gar nichts oder was anderes (das aber auch auf die Chemorezeptoren wirkt) ins Gehirn gelangt ist. Und schon hat man wieder massive autonome Regulationsstörungen. Und das putzigerweise, obwohl wirklich keine Fremdsubstanz ins Gehirn gelangt ist, zumindest nicht die, die ursprünglich die Veränderungen veranlaßt hat.
Bei psychosomatischen Erkrankungen geht man auch davon aus, dass denselben evtl. eine dann psychogene Modulation regulierender Zentren des Nervensystems
zu Grunde liegen könnte. Von der Schmerzregulation und Placebos kennt man das ja, da werden Schaltstellen im Rückenmark psychogen mit Hilfe körpereigener Opioide runterreguliert, so dass man den Schmerz nicht mehr so wahrnimmt. Insofern „entschuldigt“ das vielleicht ein bischen die Psychotheorien. Nur übersieht man dann dabei, dass derartige Veränderungen auch durch chemische Fremdstoffe hervorgerufen werden können. Obwohl man das in der Pharmazie ja dauerend ausnutzt. Und wenn die Fehlregulation dann erstmal dauerhaft durch neue neuronale Verbindungen oder veränderte Genexpression etabliert ist, ist sie halt dauerhaft. Auch solche Effekte kennt man, z.B. als Nebenwirkung bei Neuroleptika (http://de.wikipedia.org/wiki/Tardive_Dyskinesie) wo sie teilweise auch erst nach Absetzen des Medikaments überhaup zum Vorschein kommt.
In der Anfangszeit haben bei mir mal Benzodiadepine bei bestimmter Hirnsymptomatik gut geholfen. Sind glaub ich GABA-Agonisten.
Davon abgesehen, tritt bei mir der unangenehmste Teil der Symptome i.d.R. nach einer Exposition auf. Während der selben hält sich die Symptomatik im wes. in Grenzen, da funktioniert die Adaptation einigermaßen. Hinterher aber die Readaption erst mit Verzögerung, was dann die stärkeren Symptome erklären würde (s.o). Dabei kommt bei mir ein Großteil offenbar über eine Fehlfunktion der trigeminalen Chemorezeption.