Psychiatrisierung – Ein Irrweg bei Multiple Chemical Sensitivity

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Die Einstufung von MCS als psychiatrische Erkrankung ist hierzulande leider immer noch recht verbreitet.

Der Psychologe Robyn Dawes weist darauf hin ([1], S.124), dass ein Patient, der einmal als psychiatrischer Fall eingestuft wurde, häufig fürderhin mit seinen Symptomen und Problemen nicht mehr ernst genommen wird. Wenn Allgemeinärzte die Symptome ihrer als nicht psychisch gestört eingestuften Patienten nicht ernst nehmen, riskieren sie ihre Lizenz oder zumindest, ihre Patienten zu verlieren. Es ist jedoch völlig akzeptabel für einen Psychiater o.ä., die Probleme eines Patienten zu ignorieren, wenn diese erst einmal als psychogen klassifiziert worden sind.

Durch die Einstufung als psychiatrische Erkrankung müssen die Betroffenen mit ihren Anliegen nicht mehr ernst genommen werden. Da die Ursachen des Elends der Betroffenen nicht anerkannt (und häufig nicht einmal erkannt) werden, gibt es in der Regel keine adäquate Hilfestellung. Behörden und Mitmenschen erhalten quasi die Lizenz, ihre Probleme zu ignorieren.

Das Experiment

Die Effektivität einer derartigen Kategorisierung wurde z.B. von David Rosenhan schon in den Jahren 1968 bis 1972 eindrücklich demonstriert [2]. Im Rahmen eines Experiments ließen sich mehrere „normale“ Personen in eine psychiatrische Klinik einweisen, verhielten sich dann aber weiterhin völlig normal. In keinem Fall wurden sie von den dortigen Experten als „Normale“ identifiziert und bis zu ihrer Entlassung wie „Geisteskranke“ behandelt (vgl. „Das Experiment — Acht flogen über das Kuckucksnest“, NZZ 09/2002..


Rosenhans Pseudopatienten wurden dabei in den von ihnen geäußerten kleinen und großen Anliegen wegen ihrer vermeintlichen Krankheit wie Unpersonen behandelt. Dieser Prozess ähnelt stark der Art, wie Kulte ihre Mitglieder für die Ideen ihrer Gruppe empfänglicher machen, indem sie systematisch ihre Individualität und Fähigkeit zu unabhängigem Denken unterminieren. ([3], S. 282)

Die Wirklichkeit

Bei MCS-Betroffenen können schon einige Stichworte über ihre Krankheit genügen, um im Vorbeigehen mit einer psychiatrischen Diagnose belegt zu werden. Wichtige Befunde werden oft bei Begutachtungen ignoriert. Als MCS-Kranke/r hat man häufig das Gefühl, in einem derartigen Experiment gefangen zu sein. Und leider scheint der Experimentator, der einen wieder rausholt, wenn es denn gefährlich wird, verloren gegangen zu sein.

Seit Milgrams einschlägigen Experimenten (Milgram-Experiment) ist bekannt, wie der Durchschnittsmensch auf von autoritativen Experten ermutigte Aufforderungen, die Hilferufe seiner Mitmenschen zu ignorieren und sie weiter zu quälen, reagiert: ignorieren und weitermachen.

Dies hat gravierende Konsequenzen für die Betroffenen MCS-Kranken

Wer nicht die finanziellen Mittel hat, sich eine an seine Bedürfnisse angepasste „saubere“ Umgebung zu schaffen, ist zu dauerndem Siechtum und einer schleichenden Verschlimmerung seines Zustands verurteilt, da ihm angemessene Hilfe verweigert wird.

Was es heißt, eine chronische Krankheit zu haben

Chronische Krankheiten sind für die Betroffenen mit massiv negativen Bedeutungen verbunden, die wiederum die physischen Manifestationen der Krankheit verschlimmern können. Der Zustand der Demoralisierung ist durch Verunsicherung, Verwirrung und dem subjektiv empfundenem Verlust der Kontrolle über die Unwägbarkeiten der Umwelt gekennzeichnet. Er ist verbunden mit dem Gefühl von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und geringem Selbstwertgefühl. Solche Krankheiten führen für die Betroffenen zum Verlust normaler sozialer und ökonomischer Rollen und berauben sie so ihrer gewohnten Quellen von Lebenszufriedenheit und Kompetenzerfahrungen. Wenn die Betroffenen und ihre Familien ihr tägliches Leben um die Krankheit und ihre Behandlung herum organisieren, besteht für sie die Gefahr, soziale Kontakte zu verlieren, die für die Aufrechterhaltung ihrer Moral und ihres Lebensmuts wichtig sind. Im Angesicht der Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Krankheit verliert so mancher die Hoffnung, sich je wieder gut zu fühlen und zu funktionieren. Die Demoralisierung wird noch verstärkt, wenn wichtige Bezugspersonen die Situation nicht verstehen und auf die eigenen Ängste und ihre Verunsicherung mit Entzug der emotionalen und materiellen Unterstützung reagieren. ([3], S. 118 ff.)

Wenn falsche Ursachen suggeriert werden

Wenn dann die empfohlene „Therapienicht hilft und man zu der Überzeugung kommt, dass einem keine potentiell erfolgreichen Handlungsweisen offen stehen, dass man nichts „richtig“ machen kann, dann können Depression, Hoffnungslosigkeit und negatives Denken die Folge sein ([4], S. 267).

Weil einem keine Chance gegeben wird, den bekannten Auslösern zu entkommen, und weil man in einem Psychotherapiezirkus gefangen ist, der einem nicht hilft und in dem einem in kafkaesker Weiser erzählt wird, man könne ja auch anders, wenn man nur wolle. Jedoch ohne dass einem jemand sagen könnte, was man denn nun anders machen soll, damit es besser wird. Oder wie man herausfinden könnte, wo denn nun der angebliche Fehler liegt. Es gab Zeiten, da vermutete man in derartigen double-bind Situationen den Auslöser für Schizophrenie (Doppelbindungstheorie)

Dem Patienten einzureden, er müsse die Verantwortung für Probleme übernehmen, die sich mit keiner noch so großen Anstrengung lösen lassen, ist kontraproduktiv und kann desaströse Folgen haben. Zu dem gesundheitlichen Schaden gesellt sich dann noch die iatrogene seelische Not.

Ein Schicksal

Ein dreiundsechzigjähriger MCS-kranker Mann beschrieb seine Lage so:

„Meine Träume wurden zerstört. Das Leben ist nur noch eine Frage des Überlebens, als wäre ich in einem Gefangenenlager. Meine Selbstachtung ist beschädigt dank der Feindseligkeit und dem Spott von Arbeitskollegen und dem Management. Jahre mit schlechter Gesundheit und zunehmend hartnäckige Hindernisse haben mich traurig und bitter gemacht – die Zukunft ist düster. So wie sich meine Gesundheit verschlechtert und mein Geld weniger wird, fürchte ich, mir wird am Ende nur eine Option bleiben.“ ([5], S. 43)

Ignoranz regiert…

Dabei weiß man es längst besser. Keiner kann heute mehr sagen, es wäre unbekannt, wie effektive Hilfe für MCS-Kranke aussehen sollte.

Die beste Erhebung zu dem Thema „Was hilft wie gut“ beruht auf einer umfangreichen Befragung Betroffener und stammt von Pamela Reed Gibson [6].

Danach ist der Goldstandard für die Behandlung von MCS die Vermeidung von symptomauslösenden Substanzen. 94,5% der Befragten fanden die Vermeidung von Auslösern sehr oder etwas hilfreich.

Psychotherapie als Mittel um MCS zu „heilen“ fanden dagegen nur 20,2% sehr oder etwas hilfreich, 14,6% dagegen schädlich oder sehr schädlich.

…und entscheidet über Menschenleben

Durch „Gutachten“ vermeintlicher Experten und unter dem Vorwand psychiatrischer „Diagnosenwird diese effektive Hilfe verweigert und die Betroffenen werden ihrem Schicksal überlassen oder gar zu kontraproduktiven „Therapien“ gezwungen. Dies fällt umso leichter, als die Kranken oft zu geschwächt sind, um sich wirkungsvoll zur Wehr zu setzen. Es ist oft schon eine Herausforderung an die physische und psychische Stabilität, im Kampf mit Behörden und Rententrägern das bloße materielle Überleben zu sichern. Einige verzweifeln und nehmen sich das Leben.

Auf diese unrühmliche Weise spielt die Psychiatrie leider eine wichtige Rolle im Leben vieler MCS-Kranker.

Auch in der breiten Öffentlichkeit spielen die Psychowissenschaften heute eine wichtige Rolle. Von den Medien werden Psychologen und Psychoanalytiker gern als Sachverständige zu Themen aller Art herangezogen. Sie sind wichtige Gutachter in Strafprozessen und entscheiden wer unzurechnungsfähig oder unmündig ist oder in eine geschlossene Anstalt gehört. Zuweilen auch wer eine Rente oder andere Unterstützung bekommt oder nicht.

Der Mythos wird gepflegt

Und wer kennt nicht den Fernsehdoktor, der schnell die wahren Hintergründe für die vorgeschobenen körperlichen Symptome seiner Patienten erkennt und aufgrund seiner überragenden empathischen Fähigkeiten in kurzer Frist das psychologische Drama gut enden und den eingebildeten Kranken gesunden lässt? Oder den Fernsehpsychologen, der flugs die Menschen durchschaut, ihre wahren unbewussten Motive erkennt und zielgerichtet zu manipulieren weiß? Auch die neuere Generation von Star Treck war nach Ansicht der Produzenten offenbar ohne Psycho-Beraterin nicht mehr glaubwürdig.

Deshalb soll in einigen weiteren Beiträgen das Thema näher beleuchtet werden. Immer getreu dem Freudschen Prinzip, dass nur die Wahrheit heilt.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 3. Juli 2009

Literatur:

[1] Dawes, R.M. (1994). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: The Free Press. Paperback, September 1996.

[2] David Rosenhan, On Being Sane in Insane Places, 179 Science 250 (1973).

[3] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins Univesity Press.

[4] Mischel, Walter, Yuishi Shoda, Ronald E. Smith (2003). Introduction to Personality: Toward an Integration, John Wiley & Sons.

[5] Pamela Reed Gibson (2006), Multiple Chemical Sensitivity: A Survival Guide, Earthrive Books.

[6] Gibson, P. R., Elms, A. N. M., & Ruding, L. A. (2003). Perceived treatment efficacy for conventional and alternative therapies reported by persons with multiple chemical sensitivity. Environmental Health Perspectives, 111, 1498-1504.

4 Kommentare zu “Psychiatrisierung – Ein Irrweg bei Multiple Chemical Sensitivity”

  1. Energiefox 4. Juli 2009 um 08:43

    Karheinz,
    frag mal nach bei den zigtausenden Frührentnern von Telekom und Bahn, wie viele mit dem Krankheitsbild psychisch- krank in Frührente gegangen sind und immer noch gehen. Ich denke mal viele werden es nicht zugeben, weil sie sich schämen. Es ist dann so einfach. Unser System entledigt sich so auf solch leichter Art und Weise vieler überflüssiger Leute, die sie sonst nur schwerlich loswerden können.

    Bei MCS denke ich, ist es genauso. Nur nicht das Krankheit MCS anerkennen, lieber in die Psychoecke es abwerten. Ich denke in beiden Fällen ist dringend Ehrlichkeit angesagt, weil die andere Weise menschenunwürdig ist und zigtausende erniedrigt und demütigt.

    Gruß Energiefox

  2. Lucie 7. Juli 2009 um 06:55

    Hallo Energiefox,

    darüber habe ich neulich einen Beitrag im Fernsehen gesehen. Die Mitarbeiter der Telekom wurden förmlich in die Rente gedrängt mit unseriösen Methoden. Man erfand psychische Erkrankungen, die durch Ärzte attestiert wurden und somit war die Abschiebung in die Frührente geebnet. Deutschland psychiatriert äußerst gerne, das geht so wunderbar einfach und füllt zusätzlich die Kassen der Pharmaproduzenten. Psychopharmaka lässt die Kassen klingeln, das System geht für die Pharmariesen auf, die Menschen bleiben auf der Strecke, aber das ist den Verantwortlichen egal, die Hauptsachen die wirtschaftlichen Interessen werden gewahrt.

    Genau Energiefox, diese Praktiken sind menschenunwürdig, erniedrigend und demütigend, doch wenn´s ums Geld geht, ist vielen jedes Mittel recht.

    Lieben Gruss,

    Lucie

  3. Henriette 8. Juli 2009 um 14:09

    Hallo Karlheinz,

    gut dass Du Dich dieses Themas annimmst und die Mißstände offenlegst. Sie können gar nicht oft genug im Internet stehen. Hoffentlich ändert sich bald etwas an diesen unwürdigen Zuständen, wir haben es nicht verdient, dass wir erst kaputt gemacht werden und dass man uns dann noch mit Füßen tritt, wenn wir sozusagen am Boden liegen.

    Herzliche Grüsse
    Henriette

  4. Dorothee Krien 15. Juli 2009 um 22:04

    In der Einleitung des von der Bundesärztekammer im April 2006 verabschiedeten Curriculums zur strukturierten umweltmedizinischen Fortbildung – in der MCS den Teil 3.4.3 darstellt – heisst es, dass sich dies vor allem an die in der Patientenversorgung tätigen Ärzte wendet, aufgezählt werden Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Kinderheilkunde, Allergologie, Neurologie, Gynäkologie, HNO etc, aber seltsamerweise wird PSYCHIATRIE gar nicht erwähnt.
    Ein Mitglied der Redaktion des Curriculum Umweltmedizin ist Professor Dr med. Thomas Eikmann, der an der Universität Gießen lehrt und der darauf beharrt, dass 70% aller in der umweltmedizinischen Ambulanz behandelten Patienten psychiatrische Betreuung bräuchten. Aber dann wären doch zumindest 30% dringend vor den verheerenden Zugriff von Psychiatern zu bewahren. Wie will er das gewährleisten, wenn doch Psychiater gar nicht zu seiner Zielgruppe gehören?

    Auch Personen, die den Fehler machen in einer Notsituation eine psychiatrische Klinik aufzusuchen, sind in Gefahr im Handumdrehen ihre in der Verfassung garantieren Rechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit zu verlieren. Ein in Untersuchungshaft genommener Krimineller hat mehr Rechte als jemand, der Psychiatern ausgeliefert ist. Er hat das Recht auf einen Rechtsvertreter und das Recht auf Unversehrheit. Im Falle einer unter PyschKG gestellten Person kann eine unfreiwillige „Behandlung“ mit gefährlichen Neuroleptika begonnen werden, wenn ein Psychiater „Eigengefährdung“ unterstellt. Er braucht keinen Beweise, z. B. die Aussage des Patienten selber, vorzuweisen. Richter befinden im Allgemeinen zu Gunsten der Klinik, weil sie sich nicht einmal die Mühe machen, die Umstände abzuklären und den Betroffenen im Detail zu befragen. Selbst ein Patient, der sich freiwillig in eine Klinik begab, kann „fehlenden Krankheitseinsicht“ bezichtet werde. Die Angabe, dass vermutlich eine Schadstoffbelastung die Ursache von massiver Schlaflosigkeit ist, wird reflexartig als „Wahnwahrnehungsstörung“ bezeichnet.
    Vergleicht man Strafrecht mit PsychKG wird deutlich, dass die Gefangenwärter (d.h. Psychiater) den Fall untersuchen, einen gehörigen Interessenkonflikt haben – sie verdienen indirekt an der Zwangsunterbringung und Behandlung, – sie brauchen keinerlei Beweise vorlegen und können auch ohne Weiteres andere Tatsachen schaffen, indem sie einer Person bewusstseinsveränderende Neuroleptika verabreichen, bevor eine richterlichen Anhörung stattgefunden hat.
    Mit Hilfe der Justiz begehen Psychiater bei Zwangsunterbringungen von chemisch Sensitiven schwere Körperverletzung, Freiheitsberaubung und weitere ärztliche Kunstfehler, die durchaus vermeidbar wären, wenn sich die Psychiatrie Kenntnisse der umweltmedizinischen Forschung, Toxikologie, Genforschung usw. aneignen würde und ganz allgemein sich an der Suche nach Wahrheit beteiligte. Psychiatrie als Pseudowissenschaft zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Sie ist in Wahrheit eine Anti-Wissenschaft, die alles daran setzt, dass die Wahrheit über die Gefahr von Umweltschadstoffen, Mobilfunk, Atomkraft und von Nahrungszusatzstoffen wie Aspartam, Phosphate, Mangel an essenziellen Fetttsäuren auf die psychische Gesundheit und die besondere Rolle von Chemikalienunverträglichkeit nicht der Allgemeinheit und Ärzten insbesondere bekannt wird.
    Eine sich als Nervenheilkunde ausgebende medizinische Richtung, die aber die Wirkung das Zentralnervensystem schädigende Substanzen leugnet, darf keine Handlanger in der Justiz mehr finden für die Zwangsbehandlung von Personen, die unter dem Vorwand, es bestände Eigengefährdung Psychopharmaka verabreicht bekommen, die in Wirklichkeit Suizidgefahr hervorufen (zu Zyprexa und Schizophrenie und Suizide, siehe Artikel von Professor David Healy).
    Der allerwichtigste Schritt muss sein, einer von Zwangsunterbringung bedrohten Person das Recht auf einen Rechtsbeistand zu garantieren. Nicht nur umweltmedizinische Kenntnisse müssten sowohl bei Justiz selbstverständlich sein, sondern auch die von Alternativbehandlungen.
    Das Curriculums Umweltmedizin muss auch Richtern und Anwälten im Wesentlichen bekannt sein. Herr Professor Eikmann und die Ärztekammer sollten sich schleunigst an die Arbeit begeben, dazu beizutragen, die schweren durch Psychiatrie und Justiz begangenen Menschenrechtsverletzungen zu beenden.

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