Neurogene Weiterschaltung: Relevanz bei Chemical Sensitivity (MCS)

NeuronEs gibt zwei miteinander vernetzte Körpersysteme, über die körperfremde Materialien Entzündungen hervorrufen können und bei Chemical Sensitivity (MCS) Relevanz besitzen können.

Immunogene Entzündung entsteht, wenn ein Antigen an einen Antikörper oder Leukozytenrezeptor bindet und dann eine entzündungsstimulierende Reaktionskaskade auslöst. Dabei ist eine vorherige Sensibilisierung erforderlich und die Entzündungsantwort kann verschiedene Formen annehmen, darunter sofortige und zellvermittelte Überempfindlichkeit.

Neurogene Entzündung (vgl. Blogbeitrag dazu) tritt auf, wenn eine chemische Substanz an einen Rezeptor für irritierende Chemikalien auf den sensorischen Nervenenden bindet und die Freisetzung von Substanz P und anderen entzündungsfördernden Neuropeptiden auslöst. Neurogene Entzündung kann auch auftreten, wenn ein Nervenimpuls bis ans Ende eines Axons eines sensorischen Nervs läuft und dort Substanz P freisetzt.

Wechselwirkung von Endzündungen

Es gibt eine Wechselwirkung zwischen immunogener und neurogener Entzündung. Substanz P (von der Nervenzelle) kann Mastzellen degranulieren und Histamin (von der Mastzelle) kann sensorische Nervenenden aktivieren. Vgl. Bild 1 (Chemikalien (C) binden an Rezeptoren der Nervenenden, Substanz P (SP) wird ausgeschüttet, Mastzellen schütten Histamin aus (H), können direkt durch Allergene stimuliert werden (Ag)).

Das Bild ist eine Vereinfachung. Eine Menge anderer Zellen und Mediatoren sind daran beteiligt. Die in Bild 1 dargestellten Zellen und Mediatoren dominieren jedoch die Typ I Allergie vom Soforttyp gegenüber Allergenen und die Überempfindlichkeitsreaktionen gegenüber Chemikalien. Klinisch können die beiden Formen zu demselben Resultat führen. Z.B. kann Asthma durch Allergene oder aber auch durch irritierende chemische Substanzen ausgelöst werden.

Das Rätsel der „Weiterschaltung“ der Symptome

Eine rätselhafte Erscheinung bei der Entzündungsreaktion ist, dass betroffenes Gewebe manchmal zu einer Entzündungsreaktion an einer anderen Stelle der Körpers führen kann. Nahrungsmittelallergien sind ein Beispiel. Das Verschlucken eines Nahrungsmittelallergens kann durch direkte Degranulation von Mastzellen des Darms mit lokaler Mediatorfreisetzung gastrointestinale Symptome verursachen (mit Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen und Erbrechen).

Ein kleiner Protzentsatz von Patienten mit Nahrungsmittelallergie entwickelt aber auch Symptome an anderen Stellen des Körpers. Das manifestiert sich dann als Asthma, Rhinitis oder Urtikaria. Lebensmittelüberempfindlichkeiten können auch zu Arthritis und Migräne führen. Dabei könnte das Histamin von den Mastzellen des Darmes an sensorische Nervenfaserenden binden und ein afferentes (in Richtung Gehirn laufendes) Signal verursachen, das dann über das Zentralnervensystem an eine andere Körperstelle weitergeleitet werden kann. Diese neurogene Weiterschaltung („neurogenic switching“) könnte auf diese Weise die verschiedenen Manifestationen von Nahrungsmittelallergien erklären.

Anaphylaktische Reaktionen

Systemische anaphylaktische Reaktionen könnten eine weitere Manifestation neurogener Weiterleitung sein. Impfung der Haut mit einem Antigen, z.B. durch einen Bienenstich, oder des Darms durch Verschlucken eines Nahrungsmittels oder eines Medikaments kann sofort multiple Organsysteme betreffen. Eine Beteiligung der Atemwege mit Bronchospasmen, Bronchorrhö, Kehlkopfödem, gastrointestinalen Symptomen, Hautreaktionen an Stellen, die von der geimpften entfernt liegen, und Herzkreislaufsymptome mit niedrigem Blutdruck durch Gefäßerweiterung können dabei auftreten. In Tiermodellen konnte eine Beteiligung des Nervensystems gezeigt werden. Das Durchtrennen des Vagusnervs schützt Ratten vor einem tödlichen anaphylaktischen Schock, ohne die Produktion von Antikörpern oder die Histaminfreisetzung zu verändern. Experimentelle Beschädigungen des vorderen Hypothalamus vermindert die anaphylaktische Reaktion beim Meerschweinchen. Neurogene Weiterleitung könnte der Mechanismus für diese Modulation der Anaphylaxe durch das Nervensystem sein. Alternativ käme hierfür jedoch auch eine generalisierte Verminderung der parasympathischen Aktivierung in Frage.

Gustatorische Rhinitis ist ein anderes Phänomen, bei dem neurogene Weiterleitung eine Rolle spielen könnte. Bei diesem Syndrom entwickeln sich Nasenlaufen, verstopfte Nase und Schwitzen im Gesicht nach dem Verschlucken pikanter Nahrungsmittel (Meerrettich?). Verschluckte irritierende Substanzen wie Capsaicin interagieren dabei mit trigeminalen Nervenendungen in der Mundhöhle. Das efferente (vom Gehirn weglaufende) Signal wird zur Nase und zum Gesicht weitergeleitet.

Neurogene Weiterschaltung bei Sick Building Syndrome

Auch das Sick Building Syndrom, bei dem verschiedene Symptome wie Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten begleitet von Schleimhautirritationen bei Bewohnern/Nutzern schlecht belüfteter Gebäude auftreten, könnte auf neurogene Weiterschaltung zurückgehen. Der Ort der Entzündung könnte von den Atemwegen zum Gehirn weitergeschaltet werden, wodurch sich dort die Gefäße erweitern und ein Ödem entsteht. Eine alternative Hypothese besagt, dass Lymphozyten am Ort, an dem die ersten Irritationen ausgelöst werden, entzündungsvermittelnde Substanzen ausschütten, die dann über die Körperflüssigkeiten zum Gehirn gelangen und dort Symptome auslösen. Von Interleukin 1 und Interleukin 2 weiß man, dass sie in Tiermodellen die Gehirnfunktion beeinträchtigen. Dieser zweite Mechanismus könnte analog „immunogene Weiterschaltung“ genannt werden.

Man vermutet, dass neurogene Entzündung auch bei rheumatoider Arthritis, Migräne und Fibromyalgie eine Rolle spielt. Die Basis für diese Erkrankungen könnte darin bestehen, dass entzündungsverursachende Stimuli über neuronale Signalwege zu den Gelenken, den Gefäßen des Gehirns oder den Muskeln weitergeleitet werden. Dann könnten entzündliche Stimuli von Allergenen, irritierenden chemischen Substanzen oder infektiösen Keimen zu einem Entzündungsschub an den betroffenen Körperpartien führen. Emotionaler Stress könnte ebenfalls zu neuronalen Signalen führen, die dann an empfänglichen Partien des Körpers zu Entzündungen führen.

Auch bei MCS?

Neurogene Weiterschaltung könnte auch bei MCS eine Rolle spielen, von dem man annimmt, dass es durch neurogene Entzündung vermittelt wird. Bei diesem Syndrom löst eine Exposition gegenüber irritierenden Chemikalien über die Atemwege Symptome in mehr als einem Organsystem aus. Ein Patient mit Chemikalienüberempfindlichkeiten hat oft an wiederkehrenden Stellen des Körpers Symptome und Entzündungen, die einem wohl definierten Muster folgen. Muskelschmerzen im Nacken, Entzündungen an bestimmten Gelenken oder Symptome des Verdauungstrakts können bei einem bestimmten Patienten immer wieder auftreten. Die Etablierung eines neuronalen Signalwegs, über den beispielsweise eine Stimulation von Rezeptoren für irritierende Substanzen in den Atemwegen via Weiterschaltung über das Zentralnervensystem in einem anderen Gewebe zu einer Entzündungsreaktion führt, könnte der Mechanismus sein, über den weitere Organe in das Krankheitsgeschehen einbezogen werden.

Hinweise für das Vorhandensein von neurogener Weiterschaltung bei Menschen mit Chemikaliensensitivitäten fanden sich auch in einer blinden, placebokontrollierten Studie, bei der die Bindehaut des Auges mit Parfüm geimpft wurde, während die Patienten frische Luft atmeten. Obwohl kein Parfüm in die Atemwege gelangte, löste das Parfüm Symptome der Atemwege aus. Dieser Effekt trat in der Placebogruppe nicht auf. In einer anderen Studie wurden bei Katzen die oberen und unteren Atemwege isoliert. Schwefeldioxid in den oberen Atemwegen produzierte dabei Bronchospasmen, obwohl es keinen direkten Kontakt des Schwefeldioxids mit den unteren Atemwegen gab.

Zusammengefasst

Die für das Verständnis so problematische Beteiligung multipler Organsysteme bei MCS tritt also auch bei Allergien auf. Dem Weiterleiten der Entzündung an andere Körperpartien könnte ein einzelner Mechanismus zu Grunde liegen, der sowohl bei Allergien als auch bei Chemikaliensensitivität auftritt: die neurogene Weiterschaltung.

Hypothesen

Es wird die Hypothese aufgestellt, dass die neurogene Weiterschaltung einen solchen Mechanismus darstellt.

Eine alternative Hypothese wäre die immunogene Weiterschaltung durch die Freisetzung von Zytokinen, die dann auf entfernte Zellen einwirken. Die Geschwindigkeit hängt dabei von den Zirkulationszeiten und den Diffusionsgeschwindigkeiten der Zytokine in den verschiedenen Körperflüssigkeiten und Geweben ab, während bei der neurogenen Weiterschaltung der zeitliche Verlauf von der Nervenleitgeschwindigkeit bestimmt wird. Neurogene Weiterschaltung würde gezielt und nach einem sich wiederholenden Muster bestimmte Organe betreffen, während immunogene Weiterschaltung einen eher diffusen Effekt haben dürfte. Der Mechanismus, über den die Weiterschaltung erfolgte, kann experimentell bestimmt werden, sowohl durch kontrollierte Exposition betroffener Erkrankter als auch in Tiermodellen. Solch ein Forschungsprogramm könnte unser Verständnis dieser Erkrankungen voranbringen und dabei zu Verbesserungen bei Diagnostik und Behandlung führen.

Autor: Karlheinz für CSN – Chemical Sensitivity Network, 4. Juni 2009

Literatur:

William J. Meggs, Neurogenic Switching: A Hypothesis for a Mechanism for Shifting the Site of Inflammation in Allergy and Chemical Sensitivity, Environmental Health Perspectives Volume 103, Number 1, January 1995

W. Meggs, Immunologic Principles, in: Goldfrank’s Toxicologic Emergencies, McGraw-Hill Professional; 7. Auflage (Mai 2002), S. 231 ff

4 Kommentare zu “Neurogene Weiterschaltung: Relevanz bei Chemical Sensitivity (MCS)”

  1. Henriette 4. Juni 2009 um 22:03

    Karlheinz,

    Deine Blogserie sind für mich hochinteressant, gerade weil ich meistens mit starken Reaktionen der Schleimhäute und Atemwege auf Chemikalienexpositionen reagiere, wie auch mit intensiven Gelenk- und Muskelschmerzen. Ebenfalls haben sich nach Chemikalienkontakten bei mir anaphylaktische Schockzustände entwickelt, die ich bisher glücklicherweise überlebt habe.

    Herzliche Grüsse
    Henriette

  2. Madox 4. Juni 2009 um 22:20

    Das Thema ist sehr interessant aber auch kompliziert. Ich werde mir diesen Bericht sicher nochmals zu Gemüte führen. Diese Sichtweise von MCS verdeutlicht, dass es weiterhin enormen Forschungsbedarf gibt. Die deutschen Wissenschaftler sollten diesen Blog nicht nur lesen und dann ad acta lesen, sondern über Multiple Chemikalien Sensitivität im Zusammenhang mit der neurogenen Weiterschaltung nachdenken und ebenfalls auf diesem wichtigen Gebiet Forschungen anstreben.

  3. Tonda 5. Juni 2009 um 17:45

    Karlheinz,

    mit großem Interesse verfolge ich Deine Blogbeiträge. Du befasst Dich immer mit Themen, die auch mein MCS Beschwerdebild betreffen. Die Berichte sind zwar für einen Laien wie mich nicht immer leicht verständlich, aber sehr aufschlussreich. Hoffentlich wird auf diesem Gebiet umfangreiche Forschung betrieben. Aber ich denke in Deutschland ist das Thema MCS – Multiple Chemical Sensitivity, im Forschungsbereich auf Eis gelegt.

    Gruß Tonda

  4. Princess 7. Juni 2009 um 23:07

    Die immunologischen und neurogenen Bereiche werden viel zu wenig im Zusammenhang mit MCS beachtet. Es gibt sicher noch vieles zu erforschen, dies sollte Deutschland auch endlich einmal einsehen, anstatt so zu tun, als gäbe es nur ganz wenige MCS Kranke. Dem ist ganz und gar nicht so, sondern die Zahl von MCS-Neuerkrankungen ist leider weiterhin ansteigend und man lässt uns alle hilflos im Regen stehen.

    Neurogene Weiterschaltung ist mit Sicherheit relevant bei Multiple Chemical Sensitivity, wie dieser Artikel zum Ausdruck bringt. Darum sollte auch in Deutschland die Forschung auf derartigem Gebiet vorangetrieben werden, anstatt sich auf alten Studien auszuruhen und eine ruhige Kugel zu schieben.

    WIR MCS-Kranke fordern HILFE und UNABHÄNGIGE FORSCHUNG, damit unwahre Studien endlich der Vergangenheit angehören und UNS MCS-Patienten endlich angemessene THERAPIEN und HILFE zuteil werden.

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