Der Kampf um Anerkennung lohnt
Chemikalien-Sensitivität ist als Behinderung anerkannt / Teil I
Die Barrieren sind unsichtbar und oft sogar geruchlos, aber dennoch unüberwindbar. Kein Aufzug, keine Rampe bietet Abhilfe. Kein Signalton und kein Warnlicht bietet Schutz davor. Gemeint sind die Hürden im Alltag, die bei bestimmten Menschen u.a. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Krämpfe, Sehverlust, Erschöpfung, Artikulationsstörung und bei schweren Fällen sogar Bewusstlosigkeit auslösen.
Die Menschen, von denen die Rede ist, gehören zu den 15-30% in der Allgemeinbevölkerung eines Landes, die unter Chemikalien-Sensitivität (MCS) leiden und auf Duftstoffe, Farben und Lacke, frischen Asphalt, Zigarettenrauch, Reinigungsmittel, neuen Teppichboden und viele andere Alltagschemikalien oft in Sekundenschnelle Beschwerden entwickeln, die zumeist Stunden bis Tage anhalten. Bei schweren Fällen führt die Erkrankung zu völliger Behinderung und unweigerlich zu Isolation.
Um chemikaliensensiblen Menschen zu helfen, wurden in einigen Ländern begonnen in verschiedenen Lebensbereichen Gesetze und Regelungen zu deren Schutz und Hilfe zu schaffen.
Sachliche Aufklärung führt zu Anerkennung
In mehreren Etappen stellen wir eine kleine Auswahl von dokumentierten Fällen dar, um zu zeigen, dass Chemikalien-Sensitivität (MCS) sehr wohl auch von behördlicher Seite anerkannt wird, und nicht nur dort, auch in der Gesellschaft werden, langsam zwar, aber dennoch mehr und mehr Barrieren abgebaut.
Es ist jedoch zu erwarten, dass noch Einiges an Zeit verstreichen wird, bis wir in Deutschland soweit sind, dass auf Chemikaliensensible genauso viel Rücksicht genommen wird, wie bereits jetzt schon auf andere Behinderte. Ansätze und einige erste Grundlagen sind bereits vorhanden. Es liegt mit an den durch Chemikalien Erkrankten selbst, weitere Aufklärung über toxische Schädigungen und die damit sehr häufig verbundene Chemikalien-Sensitivität zu betreiben.
Eine Trendwende zugunsten von mehr Lebensqualität und Überlebensgrundlagen für Chemikaliensensible wird nicht zum Nachteil der Allgemeinheit führen, ganz im Gegenteil, sie wird dazu beitragen, dass in vielen Bereichen Menschen gesünder und damit produktiver sein können.
Behörden schaffen Grundlagen
Im Jahr 1945 wurde erstmals in einer medizinischen Fachzeitschrift über Chemikalien-Sensitivität berichtet. Es sollte jedoch viele Jahrzehnte dauern, bis diese Erkrankung, die viele Menschen betrifft und in schweren Fällen jegliche Existenzgrundlage raubt, von der WHO in die Klassifizierung von Krankheiten einfloss.
Nach der „International Classification of Diseases“ der WHO, 10 Auflage (1990), ICD-10, im Gebrauch seit 1994, hat MCS die Klassifikation T78.4 und ist dem Bereich „Vergiftungen, Verletzungen andere äußere Ursachen“ zugeführt. T78.4 steht für „Allergien, Überempfindlichkeiten.“ (1,2)
In Australien ist MCS, vom National Centre for Classification in Health, ebenfalls mit einem WHO ICD -10 – AM Code beziffert. Dort floss die Einklassifizierung unter neu definierte Erkrankungen ein (3).
Chemikalien-Sensitivität ist eine Behinderung
Als Behinderung kann Chemikalien-Sensitivität in den USA in Einzelfallentscheidung seit 1992 geltend gemacht werden. (4) Der erste bekannt gewordene Fall, dass MCS zu einer Anerkennung als Behinderung führte, wurde jedoch schon 1979 von einem Gericht auf Hawaii beschieden.
Den Erkrankten wird von US Behördenseite in erster Linie dadurch geholfen, dass zunehmend Wohnraum, öffentliche Gebäude und Arbeitsplätze für deren besondere Bedürfnisse angepasst werden. Die amerikanische Behörde „US Access Board“ setzt sich intensiv mit Modalitäten auseinander, die es Behinderten ermöglichen sollen, öffentliche Gebäude zu betreten und an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Mit diesem Abbau „unsichtbarer Barrieren“ sollen Chemikalien- und Elektrosensible die Möglichkeit erhalten, am Leben teilzunehmen. So gibt es in der Stadt San Franzisko bspw. keine öffentliche Versammlung, in der Duftstoffe oder Zigarettenrauchen erlaubt wäre. Auf chemische Reinigungsmittel wird vor einer Veranstaltung ebenso verzichtet, wie auf das Versprühen von Pestiziden in einem bestimmten Zeitrahmen davor. (5)
Ein weiteres Beispiel, wie in der Praxis mit wenig Mühe Hilfe für Chemikaliensensible betrieben wird:
Im Staat Washington kann eine Person, die unter MCS leidet und als schwer behindert anerkannt ist, beim Ministerium ein spezielles Nummernschild beantragen. Das Ministerium sendet dann einen Fragebogen an den behandelnden Arzt. Wenn der Arzt bestätigt, dass der Patient unter schwerer MCS leidet, bekommt er ein spezielles Nummernschild für Schwerbehinderte. Mit diesem Nummernschild wird das Auto des MCS Kranken an Tankstellen von einem Angestellten betankt. Diese Maßnahme sorgt dafür, dass Chemikaliensensible keine Benzindünste beim Tanken einatmen müssen und im Wagen sitzen bleiben können.
MCS in Deutschland als Behinderung anerkannt
In Deutschland erfolgte eine Aufnahme in das Register für Behinderungen erst auf Druck von Seiten der Erkrankten, deren Ärzten, Politikern und Rechtsanwälten. Doch dann verschloss sich sogar die deutsche Arbeitsmedizin nicht mehr den Empfehlungen, grenzte lediglich zum Selbstschutz ein. (6,7,8,9)
Bundestagsdrucksache, 1996
„Die Bundesregierung erklärte gegenüber dem Deutschen Bundestag, dass sie keinerlei Bedenken gegen die Anerkennung des MCS Syndroms als Schwerbehinderung nach dem geltenden Schwerbehindertenrecht hat.“ (7)
Ärztlicher Sachverständigen Rat, 1998
„Gemäß Beschluss sind so genannte Umweltkrankheiten, wie das „MCS- Syndrom“, die mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungseinbussen und Körperfunktionsstörungen, etc. einhergehen, grundsätzlich als Behinderung nach dem Schwerbehindertenrecht SGB IX anerkannt. Es wird darauf hingewiesen, dass psychische oder psychiatrische Krankheiten nicht mit dieser Einstufung verbunden sind. „(8)
Deutsche Arbeitsmedizin, 2002
„Gesetzliche Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit liegen nicht vor, dessen ungeachtet kann das Vorliegen einer MCS- Symptomatik in den übrigen Sozial-versicherungsbereichen berücksichtigt werden“. (6)
Behinderung anerkannt, Diskriminierung abgestellt
In Deutschland wurde MCS als Behinderung 2004 eingegliedert, aber sehr zum Leidwesen der Erkrankten und deren Ärzte hatte man Chemikalien-Sensitivität (MCS) und Chronische Erschöpfung (CFS) in den Leitlinien unter Ziffer 26.3 „Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, psychische Traumen“ gelistet. Die Erkrankten und ihre Ärzte empfanden diese Einstufung zu Recht als Diskriminierung, was zu einer Neueingliederung im Jahr 2005 führte. Seitdem werden MCS und CFS unter Ziffer 26.18 „Haltungs- und Bewegungsapparat, rheumatische Erkrankungen“ geführt. Nun kann beim Vorliegen einer besonders schweren MCS ein GdB von mehr als 50 anerkannt werden. (9)
Kanada allen voraus
In Kanada geht man noch einen Schritt weiter. Mitte des Jahres 2007 hat die kanadische Menschenrechts-kommission sehr deutlich bekundet, dass sie für Menschen mit Chemikalien-Sensitivität ganz besonders eintritt.
Aus einem über 100-seitigen Bericht der kanadischen Menschenrechtskommission geht hervor: (3)
Personen mit Umweltsensibilitäten verspüren eine Reihe von negativen Reaktionen gegenüber Umweltagenzien bei Konzentrationen, die weit unter dem liegen, was „Normalpersonen“ beeinträchtigt. Dieser medizinische Zustand ist eine Behinderung, und diejenigen, die mit Umweltsensibilitäten leben müssen, stehen unter dem Schutz des Canadian Human Rights Act (Gesetzgebung der kanadischen Menschenrechtskommission), welche die Diskriminierung einer Behinderung verbietet. Die kanadische Menschenrechtskommission wird jede Anfrage und jeden Beschwerdevorgang von Personen verfolgen, die glauben, dass er oder sie aufgrund einer Umweltsensibilität diskriminiert wurden. Wie Andere mit einer Behinderung, wird vom Gesetz her verlangt, denjenigen mit Umweltsensibilitäten entgegenzukommen.
Der CHRC Act (Gesetzgebung der kanadischen Menschen-rechtskommission), spornt Arbeitgeber und Dienstleister an, Eigeninitiative zu zeigen in diesen Belangen und hinsichtlich der Sicherstellung, dass ihre Arbeitsplätze und Einrichtungen für Personen mit einer großen Bandbreite von Behinderungen zugänglich sind. Erfolgreiche Anpassungen für Personen mit Umweltsensibilitäten erfordern innovative Strategien, um Expositionen gegenüber Auslösern aus der Umwelt zu reduzieren oder zu eliminieren.
Diese schließen ein:
- Entwicklung von Richtlinien für die Durchsetzung von Duftstoffverboten und Vermeidung von Chemikalien
- Vereinbarung von Ausbildungsprogrammen zur Erreichung freiwilliger Einhaltung solcher Richtlinien
- Minimierung von Chemikalieneinsatz und Kaufen von schadstoffarmen Produkten
- Benachrichtigung von Mitarbeitern und Kunden im Vorfeld von Bau- oder Umbauarbeiten und Reinigungsaktivitäten
CHRC bekräftigt diese Vorhaben mit der Aussage:
Solche Maßnahmen können Verletzungen und Krankheiten verhindern, Kosten, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken reduzieren.
Autor:
Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, Mai 2008
Literatur:
- DIMI- Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, ICD-10-GM, Alphabetisches Verzeichnis, Seite 143, Version 2008
- Dr. Ursula Kueppers, DIMDI, e-Mail an CSN
- Margaret E. Sears, Canadian Human Rights Commission, Policy on Environmental Sensitivities, Mai 2007
- HUD, Carole W. Wilson, Associate General Counsel for Equal Opportunity and Administrative Law, Memorandum Multiple Chemical Sensitivity Disorder and Environmental Illness as Handicaps, March 5, 1992
- US Access Board, Access Board Policy, Juli 2000
- Prof. Dr. med. Renate Wrbitzky / Abt. Arbeitsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover; Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Institut für Arbeitsmedizin der RWTH Aachen; Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Andreas Zober, Abt. Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz der BASF Ludwigshafen, Deutsches Ärzteblatt, Heft 38, Seite A 2474, Jahrgang 2002.
- Bundestagsdrucksache 13/6324 Ziffer 15 aus dem Jahr 1996
- Ärztlicher Sachverständigen Rat, Sektion Versorgungsmedizin, Bundesministerium für Arbeit, TOP 1.9, Nov. 1998
- BMGS Berlin, MCS Ziffer 26.18, Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit, Anhaltspunkte 2005
Die 10 größten Lügen über Chemikalien-Sensitivität (MCS)
-
-
-
-
WIDERLEGT Lüge Nummer 4: Chemikalien-Sensitivität (MCS) ist nicht anerkannt
-
Lüge Nummer 5: Chemikalien-Sensitivität (MCS) ist nicht erforscht
-
Lüge Nummer 6: Chemikalien-Sensitivität (MCS) ist psychisch bedingt
-
Lüge Nummer 7: Chemikalien-Sensitivität (MCS) hat unbekannte Ursachen
-
Lüge Nummer 8: Chemikalien-Sensitivität (MCS) kommt nicht durch Chemie
-
Lüge Nummer 9: Chemikalien-Sensitivität (MCS) ist keine Behinderung
-
Lüge Nummer 10: MCS Erkrankte haben keine nachweisbaren pathologischen Befunde
Alle 10 größten Lügen über Chemikalien-Sensitivität sind längst widerlegt.
Mehr dazu in den nächsten CSN Blogs.