Jerome Frank kam zu dem Schluss (vgl. den letzten Beitrag), dass die drei genannten Punkte – Status des Heilers, emotionale Erregung und Verhaltensanweisungen – in allen Formen interpersoneller Einflussnahme und der Entwicklung von Überzeugungen eine Rolle spielen. Sie haben sich in Laborsituationen als bemerkenswert mächtig erwiesen und finden sich in vielen Formen sozialer Propaganda. Entsprechend kritisch sollte damit umgegangen werden.
Man bedenke
Um möglichen negativen Einflüssen im Zusammenhang mit einer geplanten Psychotherapie zu begegnen, sollte man nach Ansicht von McHugh überprüfen, ob die Autorität, die man akzeptieren soll, tatsächlich ein Experte auf dem jeweiligen Gebiet ist (dies aus seiner Perspektive auf das „Multiple-Personality Disorder“-Phänomen gesagt).
Zweitens sollte man sich fragen, ob der Betreffende aus der eigenen Kooperation einen Vorteil zieht.
-
Erhalten die jeweiligen Experten durch ihre spezifische Tätigkeit einen finanziellen Gewinn, z.B. indem sie eine Einrichtung aufbauen, eine Kirche oder eine Gefolgschaft für ihre Ansichten gewinnen?
-
Werden sie durch äußere Umstände unter Druck gesetzt, wie z.B. fiskalischer, institutioneller oder juristischer Art, um ihre Ideen zu verbreiten?
-
Erwähnen sie diese Hintergründe, wenn man Widerstand zeigt?
Jeder, der eine Psychotherapie in Erwägung zieht, sollte sie als eine Form von Einflussnahme betrachten und den Therapeuten sorgfältig auswählen. ([1], S. 214)
Im konkreten Fall von MCS könnte man vielleicht noch einige weitere Fragen allgemeinerer Art hinzufügen:
-
Was würde der Therapeut verlieren, wenn er/sie MCS nicht als psychogen betrachten und eine solche Position auch öffentlich einnehmen würde? Würde sein Ansehen leiden, etwa gegenüber seinen Kollegen?
-
Gibt es innere Konflikte etwa in Hinsicht auf internalisierte Autoritätsfiguren wie frühere akademische Lehrer oder Vorbilder?
-
Hätte er/sie Angst inkonsistent zu erscheinen, weil er sich früher mal anders geäußert hat?
-
Wäre die Universitätskarriere bedroht?
-
Wäre der Zugang zu Forschungsgeldern beeinträchtigt? Bedeutet es zusätzlichen lästigen Aufwand für Weiterbildung ohne damit verbundenen finanziellen Gewinn?
-
Ärger mit Standesverbänden oder Behörden?
-
Oder Frust über damit verbundene schlecht bezahlte Zusatzarbeiten wie unbequeme Gutachten, die anschließend sowieso ignoriert werden, und andere Unannehmlichkeiten durch Schikanen von Gerichten oder Kassenärztlichen Vereinigungen?
Belege für „Heilung“ bei MCS durch Psychotherapie?
Wie früher gezeigt, ist bei den bei MCS-Kranken diagnostizierten angeblichen psychiatrischen Erkrankungen bei allen Psychotherapieformen nach den vorliegenden einschlägigen Untersuchungen i.a. nicht mit einer nennenswert über dem Placeboeffekt bzw. der im Falle einer psychischen Ursache zu erwartenden Spontanremissionsquote liegendem „Behandlungserfolg“ zu rechnen.
Auch gibt es keine systematischen Berichte über Erfolge von Psychotherapie bei MCS-Kranken im Sinne einer Heilung (Suggestionseffekte mögen hier und da eine Verringerung von Symptomen oder deren Wahrnehmung bewirken. Wie im letzten Beitrag gezeigt wurde, überwiegen statistisch jedoch die Nachteile). Dies und das Fehlen von nennenswerter Spontanremission spricht an sich schon gegen die These einer psychischen Verursachung.
Nach McHugh und Slavney ([2], S.232) besteht der einzige überzeugende Beweis für das Bestehen einer hysterischen Erkrankung (ältere Bezeichnung für somatoforme Störung) in der Beseitigung ihrer Anzeichen durch psychosoziale Maßnahmen oder Gegensuggestion. Diesen Beweis ist die Psychiatrie bislang schuldig geblieben.
Bei hysterischen Erkrankungen ist es oft sehr effektiv, die symptombezogenen Verhaltensweisen der Patienten einfach zu ignorieren. [1] Dies wird auch von zahlreichen Ärzten empfohlen. Da MCS-Kranke mit ihren Problemen aber praktisch durchweg von jedermann ignoriert werden, sollte man bei Vorliegen einer solchen Erkrankung eigentlich mit einer schnellen Besserung bei den Betroffenen rechnen. Die Realität ist (leider) eine andere. Bisher ist jedenfalls noch niemand bekannt geworden, der durch seine derartigen (bei Hysterie ja doch gewiss „therapeutischen“) Lebensumstände wie Verlust von Arbeit, Familie, Freunden, ärztlicher Unterstützung etc. „geheilt“ worden wäre.
Insbesondere psychodynamische und existentielle Therapien behandeln nicht „Symptome“, sondern den ganzen Menschen. Daher wäre, sollte MCS eine psychische Erkrankung sein, systematisch bei einem gewissen signifikanten Anteil der MCS-Kranken, die eine Psychotherapie machen, auch mit einer Heilung zu rechnen. Dies ist jedenfalls aufgrund der immer wieder gefundenen Wirksamkeit von Psychotherapien unabhängig von der verwandten Methode (vgl. frühere Beiträge) zu erwarten. Und zwar auch, wenn eine „Heilung“ gar nicht das Ziel war (keine Symptombehandlung s.o.). Auch dies steht jedoch im Widerspruch zur Erfahrung.
Psychotherapie als Unterstützung sinnvoll
Sinn kann Psychotherapie jedoch als unterstützende Maßnahme für die Betroffenen machen. Denn deren „natürliche“ aus dem individuellen sozialen Netzwerk stammende Unterstützung ist aufgrund ihrer Erkrankung und der damit häufig verbundenen sozialen Isolation und Ablehnung oft verloren gegangen. Natürlich kann eine solche Unterstützungsmöglichkeit auch aus anderen Gründen fehlen oder verloren gegangen sein.
Hier ist nicht mit einer „Heilung“ der MCS zu rechnen, sondern bestenfalls mit einer Verringerung des sekundären seelischen Leids aufgrund von MCS als einer schweren chronischen Krankheit. Es kann dabei nur um eine Hilfe bei der Krankheitsbewältigung gehen.
Symptomreduktion durch Expositionsvermeidung
Demgegenüber bringt eine Expositionsvermeidungsstrategie für die Betroffenen i.a. in kurzer Zeit eine dramatische Verbesserung. Da viele in einer sauberen Umgebung wieder nahezu normal „funktionieren“, könnte so auch eine begrenzte Reintegration in normale gesellschaftliche Zusammenhänge erreicht werden. Insbesondere könnten viele unter geeigneten Bedingungen wieder selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen oder zumindest dazu beitragen. Die Kosten für den Unterhalt und für die weitere medizinische Behandlung würden dadurch minimiert und die Lebensqualität weitgehend wieder hergestellt.
Hierdurch wird auch das Vertrauen der Betroffenen, sich selbst helfen und ihr Leben sinnvoll meistern zu können („self-efficacy“, Selbstwirksamkeitserwartung), gestärkt. Dies gilt als wichtiges Element von erfolgreichen Psychotherapien und hat selbst zusätzliche positive Wirkungen und Folgewirkungen.
Psychiatrisierung schadet
Eine unkritische Verwendung von placeboanalogen Therapien ist dagegen nicht sinnvoll. Beim vorliegen physiologisch begründeter Grundkrankheiten kann dies die Entdeckung und Behandlung derselben verzögern oder sogar ganz verhindern. Und das kann bei den Betroffenen durch eine weitere Verschlechterung ihres Zustands zu großem Schaden führen. Die dafür geopferte Lebenszeit ist zusätzlich vertan.
Auch besteht die Gefahr einer psychologischen Abhängigkeit vom Therapeuten. McHugh [1] berichtet z.B. über das künstliche hervorbringen von Symptomen und das erfolgreiche Suggerieren von deren angeblichen Ursachen (das „Multiple-Personality-Disorder“-Phänomen, Hysterie).
Witthöft [4] fand bei angeblich an IEI („Idiopathic Environmental Intolerance“, womit MCS gemeint ist) Erkrankten eine hohe Suggestibilität („Absorption“). Allerdings fand er, dass „…an IEI leidende Individuen selbst nach der Vermeidung von direktem Kontakt mit den verdächtigten Auslösersubstanzen sich [in ihrem Gesundheitszustand] nicht verbessern…“ („…individuals suffering from IEI do not improve even after avoiding direct contact with suspected trigger substances…“). Das widerspricht aber allen gängigen Definitionen von MCS (und mithin IEI). Möglicherweise waren die angeblich IEI-Kranken einer ärztlichen Suggestion erlegen.
Psychotherapeutische „Heil“-behandlungen, die nicht zu erkennbaren Fortschritten führen, während den Betroffenen eine persönliche kausale Verantwortung suggeriert wird, erhöhen das Gefühl der Hilflosigkeit und der persönlichen Inkompetenz dem eigenen Leben gegenüber und steigern so die Demoralisierung der Betroffenen. Dies kann bekanntermaßen zu physischen Komplikationen und einer weiteren Verschlechterung des Zustands, evtl. sogar mit psychischen Folgeerkrankungen, beitragen. ([3], S. 123)
Die Verhinderung eines möglichst vollständigen Expositionsstops führt außerdem auf Dauer regelmäßig zu einer weiteren Verschlechterung des Zustands.
Und die Moral?
Auch wenn man den gewissermaßen unentschiedenen Standpunkt der veröffentlichten wissenschaftlichen Literatur einnimmt, dass die Ursachen für MCS gegenwärtig nicht geklärt sind und weiterer Forschungsbedarf besteht, was für einen „neutralen“ Beobachter durchaus angemessen ist, dürfte es gemäß der ärztlichen Maxime, zuerst keinen Schaden zuzufügen, moralisch kaum vertretbar sein, in Fragen des Umgangs mit den Betroffenen den Empfehlungen der Psychiatrisierer zu folgen.
Gilt es doch in der Medizin sonst durchweg als unmoralisch bei Erkrankungen, die man nicht ursächlich behandeln kann, symptomlindernde Maßnahmen zu verweigern.
Die teilweise versuchte Zwangstherapierung zwecks „Heilung“ des MCS, Reexpositionsempfehlungen sowie die Empfehlung, die Betroffenen in der Sache möglichst nicht ernst zu nehmen (wenn auch aus „taktischen“ Gründen manchmal nur versteckt), kann vor dem geschilderten Hintergrund im besten Falle nur als unterlassene Hilfeleistung angesehen werden, weniger nachsichtig betrachtet jedoch nur als ärztlicher Kunstfehler, Misshandlung oder Körperverletzung.
Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 7. September 2009
Literatur:
[1] McHugh, Paul R., Try to Remember, Dana Press 2008.
[2] McHugh & Slavney (1998). The Perspectives of Psychiatry, Johns Hopkins University Press.
[3] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins University Press.
[4] Witthöft et.al. (2008). Evidence for a Specific Link Between the Personality Trait of Absorption and Idiopathic Environmental Intolerance, Journal of Toxicology and Environmental Health, Part A, 71: 795-802, 2008.
Serie: Psychiatrisierung bei MCS ein Irrweg Teil I – IX