Diagnostik von Chemikalien-Sensitivität / MCS in der Praxis Im Durchschnitt waren Menschen, die unter Chemikalien-Sensitivität leiden, bei sechs verschied-enen Ärzten, bevor ihnen mitgeteilt wurde, was sie haben. Aber es gibt auch Fälle, die über sechzig Mediziner aufsuchten und immer noch keine plausible Diagnose in der Hand halten.
Die diagnostische Feststellung einer Chemikalien-Sensitivität (Multiple Chemical Sensitivity – MCS) ist an sich nicht so schwer wie vermutet. Sachkundige Ärzte in Kliniken und Praxen setzen zur Feststellung spezifische MCS Fallkriterien erfolgreich ein. Wissenschaftler aus den USA, Kanada und Japan überprüften die derzeit gebräuchlichsten MCS Fallkriterien, den American Consensus. Sie wendeten diese Kriterien in klinischen Studien an und befanden, dass sie die bislang beste Falldefinition zur Diagnostik darstellen, um Patienten mit MCS mit höchster Wahrscheinlichkeit zu identifizieren, solange kein MCS- spezifischer Marker gefunden ist.
Von Arzt zu Arzt und keiner findet etwas
Seit mehr als 50 Jahren werden Menschen, die auf minimale Konzentrationen von Alltagschemikalien mit leichten bis stark behindernden Symptomen reagieren, gar nicht oder fehldiagnostiziert. Vielen Erkrankten wird sogar unterstellt, sie würden simulieren, übertreiben oder seien nur „nicht ganz richtig im Kopf“. So mancher von ihnen musste seine Arbeit aufgeben, weil dort kein Verständnis für ihn vorhanden war oder Schadstoffe vor Ort das Arbeiten für ihn unmöglich machten. Eltern müssen sich für ihr chemikaliensensibles Kind nach einer schadstofffreien Schule umsehen oder sogar für Unterricht zu Hause sorgen, weil es an der jetzigen giftbelasteten Schule immer kränker wird.
Hürden über Hürden führen in eine Zwangsisolation
Auch im Alltag haben chemikaliensensible Menschen größte Schwierigkeiten. All das, was in unserer Gesellschaft als normal gilt, ist ihnen nicht möglich. Sie müssen immer wieder Absagen gegenüber Freunden und der eigenen Familie erteilen, ganz gleich, ob es sich nun um einen Schwimmbadbesuch oder eine Geburtstagseinladung handelt, weil sie dort auf das Chlorwasser oder parfümierte Mitmenschen reagieren. Nicht einmal die Tageszeitung zur Teilnahme am Weltgeschehen ist für chemikaliensensible Menschen lesbar, weil sie mit Kopfschmerzen, Schwindel oder ähnlichem auf die starken Lösungsmittelausdünstungen der Druckerschwärze reagieren. Selbst Fernseher oder Computer zum Kommunizieren können von einigen der Erkrankten nicht mehr benutzt werden, weil die ausgasenden Flammschutzmittel zu körperlichen Ausfällen bei ihnen führen. All dies führt für Hypersensible früher oder später zwangsläufig zu totaler Isolation, aus der oft kein Weg herausführt.
Korrekte Diagnose statt Ignoranz verbessert Prognose
Ist Chemikalien-Sensitivität als korrekte Diagnose gestellt, eröffnet sich den betroffenen Menschen die Möglichkeit sich zu schützen. Mit entsprechender Anleitung werden Erkrankte mittels gezielter Vermeidungsstrategien auf längere Sicht in die Lage versetzt, wieder mehr Toleranz aufzubauen. Bleibt eine korrekte Diagnose aus, oder wird die Krankheit gänzlich ignoriert, wird die Möglichkeit verhindert, sich auf die Krankheit richtig einzustellen, und es ist im Verlauf eine Verschlimmerung bis hin zu totaler Behinderung zu erwarten.
Geringer Aufwand reicht zur Diagnostik einer MCS
Es braucht keine riesige, ultramoderne Hightech Klinik und aufwendige Labordiagnostik, um Chemikalien-Sensitivität zu diagnostizieren, sagte Albert Donnay, ein Wissenschaftler, der seit vielen Jahren die umfassendste Bibliographie über MCS verwaltet. Mehr als die Anwendung von speziellen MCS Fallkriterien sei nicht erforderlich, ein Symptomfragebogen wie der QEESI könne zur leichteren Erstellung der Anamnese genommen werden. Erfülle ein Patient die MCS Fallkriterien, leide er mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit unter Chemikalien-Sensitivität. Alles an weiterer Diagnostik diene nur der Festigung der eigentlichen Diagnose, Feststellung oder Ausschluss weiterer Krankheiten und dem Ermitteln von vorhandenen Schädigungen.
Donnay war Coautor der jüngsten und nun weitläufig gebräuchlichsten MCS Falldefinition, dem American Consensus. Dieser wurde ursprünglich 1993 mit Forschungsgeldern der amerikanischen Behörden NIEHS und NIOSH im Rahmen einer Studie erstellt (1). Diese MCS Falldefinition dient zur Diagnostik und Definition der von der WHO mit dem mit international gültigen Krankheitscode ICD-10 T78.4 einklassifizierten Erkrankung Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS). Sie bestand ursprünglich aus 5 Kriterien zur Diagnostik der weltweit vornehmlich in Industrieländern auftretenden Krankheit. Der American Consensus wurde durch 39 Ärzten und Wissenschaftlern mit großer Erfahrung über diese Krankheit unterzeichnet. Eine Gruppe von 89 namhaften Ärzten und Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachgebieten und weitreichender Erfahrung mit Chemikalien-Sensitivität ergänzte diese Fallkriterien 1999 auf der NIH Atlanta- Konferenz um ein weiteres 6. Kriterium.
Definition Chemikalien-Sensitivität (MCS) – American Consensus
Von 89 führenden amerikanischen Wissenschaftlern wurde die vormals häufig angewendete Definition für MCS von Cullen, einem langjährigen Berater der Industrie, die in der Praxis Mängel aufwies, modifiziert. Sie stellt sich wie folgt dar:
- Die Symptome sind mit (wiederholter chemischer) Exposition reproduzierbar
- Der Zustand ist chronisch
- Minimale Expositionen (niedriger als vormals oder allgemein toleriert) resultieren in Manifestation des Syndroms
- Die Symptome verbessern sich oder verschwinden, wenn der Auslöser entfernt ist
- Reaktionen entstehen auch gegenüber multiplen nicht chemischen Substanzen
- Die Symptome involvieren mehrere Organsysteme. (1999 ergänzt)
Asthma, Allergien, Migräne, Chronische Müdigkeit Syndrome und Fibromyalgie stellen keine Ausschlussdiagnose für MCS dar.
USA – Bewertung und Anwendung der American Consensus Kriterien
Die American Medical Association (vergleichbar dt. Ärztekammer) schlug zusammen mit der American Lung Association (Med. Vereinigung für Lungenkrankheiten), der U.S. Environmental Protection Agency (Umweltschutzbehörde) und der U.S. Consumer Product Safety Commission in einem Consensus vor, dass man die Diagnosekriterien von Nethercott anwenden solle, und dass MCS formell bei Personen, bei denen alle 6 Consensuskriterien zutreffen, diagnostiziert werden solle, gegebenenfalls zusätzlich zu jedweden anderen bei diesen Personen diagnostizierten Erkrankungen. Bereits 1994 hatten diese Fachgesellschaften und Behörden bekannt gegeben, dass MCS Beschwerden nicht als psychogen missverstanden werden sollten.
Kanada – Bewertung der American Consensus Fallkriterien
Die Forschungseinheit für Umwelthypersensibilität der Universität Toronto, geleitet unter dem Epidemiologen Prof. Dr. Gail McKeown-Eyssen, bewertete verschiedene veröffentlichte Falldefinitionen für Umweltsensibilitäten und Multiple Chemikalien-Sensitivität, einschließlich dem American Consensus und dessen Ergänzung 1999. Die Wissenschaftler aus Toronto befanden, dass die 1999 vervollständigte Definition die beste Falldefinition derzeit ist, um die Patienten mit Umweltsensibilitäten und MCS am genauesten zu diagnostizieren (2).
Weiterhin fand das Wissenschaftlerteam heraus, dass die Patienten, auf die die Fallkriterien des American Consensus von 1999 zutrafen, häufiger als die Patienten, die keine Umweltsensibilitäten oder MCS hatten, unter folgenden vier Symptomen litten: benommen und erschöpft; Konzentrationsstörungen; sich „benebelt“ fühlen; stärkerer Geruchssinn als bei den meisten Menschen. In einer später durchgeführten Studie konnten die Wissenschaftler genetische Unterschiede bei Patienten mit Chemikaliensensibilität gegenüber einer Kontrollgruppe feststellen (3).
Japan – Bewertung der American Consensus Fallkriterien
Wissenschaftler der Universität Tokio, Abt. Psychosomatik, führten eine kontrollierte Studie durch, um die MCS Falldefinition im täglichen Leben zu bestätigen. Das 12-köpfige Wissenschaftlerteam kam zum Ergebnis, dass MCS Patienten, auf die die Fallkriterien des American Consensus von 1999 zutrafen, unter chemiefreier Umgebung frei von somatischen oder psychischen Symptomen sind. Die Symptome traten nur auf, wenn die MCS Patienten gegenüber Chemikalien exponiert waren (4).
MCS diagnostizieren – kein Problem
Die erweiterte MCS Falldefinition American Consensus wird von Wissenschaftlern aus aller Welt erfolgreich zur Diagnostik in der Praxis und in wissenschaftlichen Studien zur Erforschung der Erkrankung eingesetzt. Albert Donnay, Mitautor der Diagnosekriterien, teilte mit, dass bisher kein falsch positiver oder falsch negativer Fall bekannt geworden sei (5). In 42 Studien wurde die American Consensus Falldefinition bis 2006 zugrunde gelegt oder benannt (6). Entsprechend tragen neuere Forschungsstudien, bei denen der American Consensus als Diagnosekriterium korrekt angewendet wird, zur erheblich Aufklärung der Krankheit bei.
Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, Mai 2008
Literatur:
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Nethercott JR, Davidoff LL, Curbow B, Abbey H., Multiple chemical sensitivities syndrome: toward a working case definition, Arch Environ Health. 1993 Jan-Feb;48(1):19-26.
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McKeown-Eyssen GE, Baines CJ, Marshall LM, Jazmaji V, Sokoloff ER, Multiple Chemical Sensitivity: Discriminant validity of case definitions, Department of Public Health Sciences, Faculty of Medicine, University of Toronto, Kanada, Arch. Environ Health, 2001 Sep-Oct: 56 (5):406-12
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McKeown-Eyssen G, Baines C, Cole DE, Riley N, Tyndale RF, Marshall L, Jazmaji V: Case-control study of genotypes in multiple chemical sensitivity: CYP2D6, NAT1, NAT2, PON1, PON2 and MTHFR. Int J Epidemiol 2004, 33:971-978
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Hojo S, Ishikawa S, Kumano H, Miyata M, Sakabe K., Clinical characteristics of physician-diagnosed patients with multiple chemical sensitivity in Japan, Department of Environmental Science, Shokei Gakuin University, Japan; Department of Psychosomatic Medicine, The University of Tokyo, Tokyo, Japan; Department of Public Health and Clinical Ecology, Kitasato University School of Pharmaceutical Sciences, Tokyo, Japan., Int J Hyg Environ Health. 2007 Dec 20
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Albert Donnay, Open letter to CIIN MCS Case Definition Committee, 06 Jul 2007
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Albert Donnay, Personal Conversation, 31.05.2006