Umweltmedizin: Genvariationen bei Chemikalien-Sensitivität festgestellt

Hypersensibilität gegenüber herkömmlichen Alltags-chemikalien im Niedrigdosisbereich, auch Chemikalien- Sensitivität (MCS) genannt, wird seit über einem halben Jahrhundert erforscht. Studien aus Kanada, USA und Deutschland zeigen, dass eine genetische Variante die Wahrscheinlichkeit erhöht, Chemikalien-Sensitivität zu entwickeln.

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Es ist hinreichend bekannt, dass Gene durch eine Vielzahl von Chemikalien geschädigt oder verändert werden können. Eine Untersuchungsmethode, die toxische Genschäden von anlagebedingten Genschäden differenziert, existiert zwar mittlerweile, sie ist allerdings mit extrem hohen Kosten verbunden.

Internationale Forschung
Mehrere wissenschaftliche Studien belegen, dass eine genetische Variante es für manche Menschen wahrscheinlicher macht, Chemikalien-Sensitivität zu entwickeln. 2004 untersuchte die Kanadierin Gail McKeown-Eyssen in einer Studie 203 weibliche MCS- Betroffene und 162 weibliche Kontrollpersonen, die sie mittels der MCS Falldefinition American Consensus identifizierte. Sie fand heraus, dass bestimmte genetische Varianten, die sich auf Entgiftungsprozesse beziehen, bei Menschen mit MCS häufiger auftreten als bei Menschen ohne MCS.

Menschen sind verschieden
Hintergrund: Beim Abbau einiger Chemikalien können giftige Nebenprodukte entstehen. Menschen, bei denen der Abbau besonders schnell vonstatten geht (in diesem Fall schnelle Acetylierer), können daher ggf. mehr der dabei entstehenden giftigen Stoffe in ihrem Körper ansammeln, als Menschen, bei denen die Abbauprozesse langsamer ablaufen. „Es hängt von der Substanz ab und davon, welche Zwischenprodukte entstehen, und wie schnell diese aus dem Körper ausgeschieden werden, ob die Tatsache, dass man einen schnellen Stoffwechsel hat, zu einer erhöhten oder verringerten Exposition führt.“ sagt McKeown-Eyssen.

Gene regulieren Entgiftung
Das Gen CYP2D6 (codiert das Entgiftungsenzym Cytochrom P450 2D6), das in seiner aktiven Form bei der Patientengruppe mit Chemikalien-Sensitivität mehr als dreimal so oft vertreten war als bei der Kontrollgruppe, gehört hierzu. Diese aktive Form ist mit entsprechend schnellerer Verstoffwechselung verbunden. Das Gen dient zum Abbau neurotoxischer Chemikalien, von Medikamenten, die das Nervensystem beeinflussen, wie bspw. Antidepressiva, Stimmungsaufheller, Codein und selbst für die körpereigenen Neurotransmitter ist es zuständig. Entsprechend leiden viele Chemikaliensensible zwangsläufig unter Medikamentenintoleranzen.

Schlechte Entgifter tragen höheres MCS Risiko
Frauen mit der schnell arbeitenden NAT2-Variante (N-Acetyltransferase 2), die sogenannten schnellen Acetylierer, wurden bei Chemikaliensensiblen viermal so häufig ermittelt als bei der Kontrollgruppe. NAT2 spielt wie CYP2D6 eine wichtige Rolle bei der Entgiftung von zahlreichen Medikamenten und toxischen Chemikalien, einschließlich aromatischer Amine, einer Chemikaliengruppe, die zur Herstellung von Farbstoffen und Kunstharzen verwendet wird.

Die Personen, die beide Genvarianten aufwiesen, litten sogar 18-mal häufiger unter Chemikalien-Sensitivität. McKeown-Eyssen ist diesem letztgenannten Ergebnis gegenüber jedoch noch vorsichtig, da die Analyse einer solchen Interaktion nicht Teil des ursprünglichen Studiendesigns war. Sie sagt: „Wir müssen mit dieser Beobachtung sehr vorsichtig sein, aber wenn sie wahr ist und wiederholt werden kann, bedeutet dies, dass einige Menschen ein sehr hohes Risiko haben.“

Weitere Beweise für physiologische Ursache von MCS
Wenn die vorgenannten Ergebnisse von McKeown-Eyssen wiederholt werden können, könnten sie einen weiteren Beweis für die physiologische Ursache von MCS darstellen.
Bereits 1994 hat die American Medical Association (AMA, größte Vereinigung von Ärzten und Medizinstudenten in den Vereinigten Staaten) in einer gemeinsamen Stellungnahme zusammen mit anderen Organisationen anerkannt, dass Chemikalienintoleranzen nicht als psychogen abgetan werden sollten.

Leichtes Spiel für Chemikalien
Der renommierte amerikanische Golfkriegssyndrom-Forscher Haley arbeitete ebenfalls in dieser Richtung und hatte schon 1999 in einer Studie eine verringerte Aktivität des PON1-Gens (Paraoxonase 1) bei Veteranen mit dem Golfkriegssyndrom gefunden. Die untersuchten Soldaten waren einer Vielzahl von Chemikalien, darunter in erheblichem Maße Organophosphatpestiziden, weiterhin Impfstoffen gegen Nervengifte, Flugzeugbenzin, Kampfstoffen, etc. ausgesetzt gewesen. Paraoxonase 1 ist besonders für den Abbau von Organophosphaten von Bedeutung.

In Deutschland konnten Schnakenberg et. al. 2006 die von McKeown-Eyssen und Haley gefundenen Resultate über die Genvarianten zum Teil bestätigen. Insgesamt nahmen 521 Personen an dieser MCS Studie teil. Es wurden Genvarianten von vier Genen analysiert: NAT2, GSTM1 (Glutathion S-Transferase M1), GSTT1 (Glutathion S-Transferase theta 1) und GSTP1 (Glutathion S-Transferase Pi Klasse). Die Mediziner fanden heraus, dass Personen, die langsame NAT2 Acetylierer sind, und diejenigen mit homozygot ausgelöschten GSTM1- und GSTT1- Genen, mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit Chemikalien-Sensitivität entwickelten.

Chemikalien & schlechte Entgiftung: Ursache für viele Zivilisationskrankheiten
Die deutschen Wissenschaftler und Mediziner kamen wie andere Forscher zuvor, zu der Erkenntnis, dass die Glutathion-S-Transferase eine wichtige Rolle bei der Entgiftung von Chemikalien spielt. Die Auslöschung dieses Genes könne ein wichtiger Schritt zu den Anfangsstadien von Krankheiten sein. Die Wissenschaftler bemerkten ebenfalls, dass Krankheiten wie das Non-Hodgkin-Lymphom, Leber- und Prostatakrebs, sowie Alzheimer, gewöhnlich mit durch GSTP1 verstoffwechselten Chemikalien in Zusammenhang gebracht wurden. Die Löschung des GSTP1-Gens bewirkt eine höhere Empfindlichkeit dieser Personen für die Entwicklung dieser Krankheiten, da ein Mangel an diesen Genen einen geringeren Schutz vor oxidativem Stress bedeutet.

Wissen schützt vor weiterem Schaden
Die drei genannten Studien stellen eine wichtige Entdeckung dar, die eine weitere biologische Basis für die Ätiologie von MCS liefert. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich auch effizientere Herangehensweisen für eine Therapie ableiten, denn diese spezielle Patientengruppe ist wesentlich fragiler und ist auch in der Regel außerstande, chemikalienbasierte Medikamente einzunehmen oder zu schnell durchgeführte invasive Therapien schadlos zu überstehen.

Autor:

Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, April 2008

Literatur:

  • Eckart Schnakenberg, Karl-Rainer Fabig , Martin Stanulla, Nils Strobl , Michael Lustig , Nathalie Fabig and Werner Schloot,  A cross-sectional study of self-reported chemical-related sensitivity is associated with gene variants of drug-metabolizing enzymes, Environmental Health 2007, 6:6
  • McKeown-Eyssen G, Baines C, Cole DE, Riley N, Tyndale RF, Marshall L, Jazmaji V: Case-control study of genotypes in multiple chemical sensitivity: CYP2D6, NAT1, NAT2, PON1, PON2 and MTHFR. Int J Epidemiol 2004, 33:971-978
  • Haley, RW, Billecke, S, La Du, BN (1999). Association of low PON1 type Q (type A) Acetyl esterase activity with neurologic symptom complexes in Gulf War Veterans. Toxicology and Applied Pharmacology 157(3):227-33
  • Spivey, Angela: Genes and Sensitivity, Environmental Health Perspectives, 113(3), 2005.

15 Kommentare zu “Umweltmedizin: Genvariationen bei Chemikalien-Sensitivität festgestellt”

  1. Terminator 2. Mai 2008 um 11:23

    Ich bin gespannt, wie lange die Verantwortlichen (Rententräger, Versorgungsämter, Berufsgenossenschaften, Krankenkassen, die Mehrheit der deutschen Umweltmediziner, Versicherungen, Politiker ect.) das Spiel der Verleugnung und der Behauptung, MCS sei psychischen Ursprungs, noch treiben wollen. Ich denke mal, lange wird es nicht mehr funktionieren.

    Alleine bei der geballten Ladung an Fakten dieses gesamten Blogs, die belegen, dass die Ursachen für Chemikalien-Sensitivität (MCS) ganz anderer Natur sind, denke ich persönlich, die Zeit ist nah, das diese miese Masche bald ein Ende finden wird. Die positive Ereignisse der letzten Monate deuten darauf hin und sprechen eine andere Sprache.

    Die Zeit ist reif für Veränderungen, der Mai ist der beste Zeitpunkt dafür, um sie einzuläuten!

  2. Mary-Lou 2. Mai 2008 um 13:23

    Und wieder ein wissenschaftlich belegter Fakt, dass Chemikaliensensitivität nicht psychisch bedingt, sondern organischen Ursprungs ist. Genveränderungen bei der umweltmedizinischen Diagnostik in Erwägung zu ziehen und entsprechende Gen-Untersuchungen anzuwenden, um dieses wichtige Forschungsergebnis auch umzusetzen, wäre zukünftig die unerlässliche Aufgabe der Umweltmedizin, um den MCS-Betroffenen adäquate Hilfe zu ermöglichen, anstatt sie der Gefahr auszusetzen, mit völlig unverträglichen Medikamenten behandelt zu werden, mit allen möglichen negativen Konsequenzen. Auch die ewige Diskussion wäre somit beendet.

    Aber ist es überhaupt gewünscht, endlich Tacheles zu reden bzw. zu praktizieren?

  3. Maria Magdalena 2. Mai 2008 um 14:42

    Erstklassige Darbietung sachlicher, fundierter Informationen über den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erforschung der immer häufiger auftretenden Erkrankung Multiple chemical sensitivity ( MCS )= durch Chemikalien bedingte Unverträglichkeiten und Schäden, die zur starken Beeinträchtigung des gesundheitlichen Zustandes führen=Multiple (vielfache ) chemische Sensibilität! Die Bedeutung der durch Chemikalien, Schwermetalle und andere Umweltgifte verursachten genetischen Schäden, die zur Beeinträchtigung des Entgiftungspotenzials des Körpers und zu daraus resultierenden überschießenden Reaktionen und Störungen des Stoffwechsels führen, wird hier ganz deutlich. Um so größeren Wert erlangt auf Grund der wissenschaftlichen Fakten die Vermeidung und Bekämpfung von die Gesundheit schädigenden chemischen Substanzen. Hieraus erwächst die Notwendigkeit eines grundlegenden Umdenkens und verantwortungsbewussten Handelns in Sachen Umwelt, Gesundheitsvorsorge, Diagnostik und Behandlung von umweltbedingten Krankheiten, was eine Reformierung der Medizin, insbesondere der Umweltmedizin, der Gesundheitspolitik, des Gesundheitsbewusstseins und der Umweltpolitik, insbesondere den kritischen Umgang mit Chemikalien und Verunreinigungen von Luft, Wasser, Boden, Nahrung, etc. dringend erforderlich macht. Handeln wir zusammen für eine gesündere, hoffnungsvolle Zukunft!

  4. Juliane 2. Mai 2008 um 16:28

    Genetische Varianten des CYP2D6 sind verbreitet.

    „‚Einen solchen ‚Tippfehler’ der DNA weisen etwa sechs Prozent aller Patienten auf‘, sagt der Pharmakologe Jürgen Borlak vom Fraunhofer-Institut…
    Schätzungen zufolge sterben in Deutschland jährlich etwa 60.000 Menschen im Zusammenhang mit unerwünschten Arzneimittelreaktionen.'“ http://www.zeit.de/zeit-wissen/heilung?page=all

    Man kann davon ausgehen, dass viele chemikaliensensitive Menschen,niemals die Diagnose MCS erhalten, weil sie vom behandelnden Arzt falsch diagnostiziert und in der Folge auch falsch behandelt werden.

    Erfolgt die Behandlung dann mit Psychopharmaka und/oder Antiepileptika, kann es zu Nebenwirkungen wie cerebralen Störungen und Wahnvorstellungen kommen, wenn der Patient Träger einer CYP2D6 Genvariante ist.

    Die Risiken bestimmter genetischer Varianten sind auch deutschen Behörden bekannt. Die reden aber nicht gern drüber, verstecken sich lieber hinter Floskeln wie „gewisse sensible Bevölkerungsgruppen“ und ähnlichen Formulierungen. Mit Ethik hat man es nicht so in Berlin und an gewissen Universitäten.

  5. Adele 2. Mai 2008 um 19:47

    Mit großem Interesse verfolge ich die fachlich und vielfältigen MCS-Studienergebnisse in diesem Blog. Chemikaliensensilbe leben mit dem erhöhten Risiko, durch unsachgemäß verordnete Medikamente zusätzlich gesundheitlich geschädigt zu werden oder gar lebensgefährlichen Nebenwirkungen ausgesetzt zu werden. Ist den Ärzten die MCS ihrer Patienten bekannt, wäre dringend anzuraten, vorab die genetische Verträglichkeit der zu verabreichenden Arzneien sicherheitshalber zu überprüfen. Solche Tests müssten Standard werden bei MCS-Patienten. Alles andere wäre russisches Roulette.

  6. Silvia 7. Mai 2008 um 08:37

    Die Fakten türmen sich, wir werden weiter berichten.
    Wer MCS als „psychisch bedingte Krankheit“ bezeichnet,
    hat einen Grund, der nichts mit dem wissenschaftlichen Sachstand
    zu tun hat.

  7. Sina 6. Januar 2010 um 19:04

    Jetzt haben wir Anfang 2010 und endlich kommt es so langsam an die Medien, was MCS bedeutet !!!

    Viele Grüße von Sina

  8. Claudia 23. September 2011 um 14:15

    Jetzt nähern wir uns Ende 2011 und MCS wird nach wie vor ignoriert, daran Erkrankte nach wie vor in die Psycho-Ecke geschoben. Diskriminierungen und unterlassene Hilfeleistungen sind nach wie vor straffrei. Wirtschaftliche Interessen zählen heutzutage eben mehr als Menschenleben.

  9. Silvia 23. September 2011 um 14:21

    Das ist leider so Claudia. Wir könnten diese Situation ändern, wenn die Erkrankten beginnen würden sich auf die Hinterbeine zu stellen und diese Infos überall dort verbreiten, wo es nur möglich ist. Wo? Über Soziale Netzwerke (Facebook, Twitter, Google+, etc.), Streuen von Links und Infos in Leserbriefen bei TV Sendern, Zeitungen, Radiosendern und Webseiten die passende Themen bearbeiten. Einfach kreativ werden, andere motivieren mitzumachen,…steter Tropfen höhlt den Stein. Nur wir Kranke sind im Stande die Situation zu ändern, sonst hat keiner Interesse daran sie zu ändern.

  10. hank 12. Dezember 2011 um 15:56

    Es wird bald eine mit all diesem Murks aufräumende politische Lösung vorgestellt werden. Die notwendige Mehrheitsfähigkeit hängt dann an uns allen.

  11. Silvia 12. Dezember 2011 um 16:02

    Kannst Du etwas näher präzisieren um was es da geht, Hank?

  12. hank 12. Dezember 2011 um 16:27

    u.a. werden derzeit signifikante Änderungen des SGB V diskutiert – z.B. Wegfall der pauschalen Anordnung „Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein“. Die langfristigen Folgen kurzsichtig praktizierter Symptombekämpfung stehen dabei im Fokus. Die Versorgung mit einer, orientiert am Stand der Wissenschaft(WHO), flächendeckenden Umweltmedizin ist implizite Forderung.

  13. Silvia 12. Dezember 2011 um 16:34

    Danke Hank. Kannst Du uns eine Quelle, bzw. einen Link nennen?

  14. hank 12. Dezember 2011 um 16:43

    Die Diskussion wird aktuell geführt, alle Informationen folgen.

  15. Silvia 13. Dezember 2011 um 09:39

    Danke Hank.

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