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In Gedenken an Brigitte S.

Dieser Blog erscheint mit Absicht am Tag und zur Stunde der Trauerfeier. Er soll uns daran erinnern, dass das Leiden von Brigitte S. und ihr Tod nicht umsonst sein dürfen.

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Es beginnt

Brigitte arbeitete seit ihrer Lehre als Zahntechnikerin. Dabei hatte sie Kontakt mit einer Reihe von Stäuben, Metallen, Desinfektionsmitteln, Kunststoffen, Klebern, Lösungsmitteln u.v.m. Sie hatte keine Ahnung von den Gefahren ihres Berufs, wusste nichts über die Auswirkungen auf ihren Körper. Sie beobachtete psychische Veränderungen an ihren Arbeitskollegen, viele waren cholerisch. Aber sie erkannte den Zusammenhang zwischen der Arbeitsumgebung, der Arbeitsbelastung und dem Verhalten ihrer Kollegen nicht als krankheitsauslösend. „Beruflicher Stress“ war die gängige Erklärung.

Bis Ende 2003 zwang Brigitte sich zum Durchhalten im Job, dann zeigte ihr Körper sehr deutlich seine Grenzen: Gewichtsabnahme, Schmerzen am ganzen Körper, Tinnitus, Übelkeit, Schlaf- und Sehstörungen, Müdigkeit, Gedächtnisabfall und Desorientierung. Die Symptome traten nicht alle gleichzeitig auf. Immer mal eines, dann ein anderes. Ihr Körper veränderte sich, das spürte sie ganz deutlich.

Wie jeder Kranke ging Brigitte von Arzt zu Arzt: Hausarzt, Augenarzt, HNO, Internist… Sie bekam Einzeldiagnosen auf die Symptome und Medikamente. Nur wirksame Hilfe bekam sie nicht. Sprüche hörte sie häufiger: „So viele Allergien wie Sie kann kein einzelner Mensch haben.“ Kein Arzt durchschaute die Zusammenhänge, untersuchte mögliche Ursachen, nichts. Interdisziplinäre Konsultationen – was ist das denn?

Die Psychiatrisierung

Anfang 2004 begann das, was MCS-Kranke nur zu gut kennen: Erst eine ambulante psycho-therapeutische Behandlung, dann ein mehrmonatiger Klinikaufenthalt.

Für Brigitte muss die Zeit in der Klinik schwer gewesen sein. Stationäre Aufnahme bedeutete für sie: Keine Außenkontakte zum Ehemann oder Verwandten, nur am Wochenende Besuch, Medikamentengabe bar jeder Verträglichkeitsprüfung, Umnebelung, Ruhigstellung,…Wer aufmuckte, oder sich beschwerte, wer seiner Verzweiflung über die sich nicht ändernde Krankheitssymptome zum Ausdruck brachte, wer den Druck nicht aushielt, der wurde auffällig und machte sich unbeliebt. Die Medikamentengabe führte zu einer Sedierung, die Umnebelung nahm zu, Bauchkrämpfe traten auf, und einen klaren Gedanken fassen konnte sie nur selten.

Der Klinikaufenthalt hat schlussendlich an den zahlreichen körperlichen Symptomen nichts geändert. Brigitte wurde mit der gleichen Diagnose entlassen, mit der sie ihren Aufenthalt begann. Behandlungsvorschlag für die Zeit danach: „…vor allem Antidepressivabehandlung unbedingt sinnvoll, aktuell keine Rehaindikation, derzeit auch noch keine erhebliche Minderung der Erwerbstätigkeit.“

Auf sie wirkten kurze Zeit später die Worte eines Gutachtens wie Hohn. Zitat:

„… Sie erlebte die Klinikzeit wie einen Neubeginn des Lebens, wo sie wünschen und wollen darf, statt nur zu funktionieren und zu gehorchen. Ihre körperlichen Schmerzen begannen, sich in seelische Schmerzen zu verwandeln….“

Kann das wahr sein? Schmerzen bleiben Schmerzen, egal welche Ursache sie haben! Brigitte wurde aus medizinischer Sicht auf Zeit als arbeitsunfähig eingestuft. Andererseits schloss man eine Erwerbsminderung aus. Verstehe das, wer will.

Die wahre Diagnose: MCS

Im September 2004 besuchte Brigitte einen Qi Gong-Kurs. Voller Hoffnung hatte sie daran teilnehmen wollen, um etwas Ablenkung von ihren Sorgen und Schmerzen zu bekommen, um ihrem Körper etwas Gutes zu tun. Doch schon die Autofahrt dorthin, obwohl nicht sehr lang, machte ihr Schwierigkeiten. Im Laufe der Übungen traten vermehrt Schmerzen auf.

Durch eine andere Kursteilnehmerin mit MCS erfuhr Brigitte zum ersten Mal, dass ihre Krankheitssymptome auch ganz andere Ursachen haben könnten. Im Oktober 2004 besuchte sie zusammen mit ihrem Ehemann zum ersten Mal Dr. Binz in Trier. Im Februar 2005 lagen die kompletten Untersuchungsergebnisse vor:

„Schwere Neuropathie, schwere Myopathie, Ataxie, Hörminderung, Überempfindlichkeit gegenüber lauten Tönen, schwere Störung der Leistungen in der Psychometrie, schwere und vielfältige chemische Überempfindlichkeit, schwere Störung der Glukose-Utilisation im PET nach insgesamt 35 Jahren Arbeit als Zahntechnikerin.“ Mit anderen Worten: Brigittes Gehirn war auch noch schwer geschädigt. Und es war eine Erklärung für viele Beeinträchtigungen der Sinnesorgane.

Was dann?

Jetzt hatte Brigitte zwar eine exakte Diagnose, wusste, dass sie nie mehr arbeitsfähig sein würde und einen Rentenantrag stellen sollte – mehr aber nicht. Der Begriff „Expositionsvermeidung“ sagte ihr nicht viel. Noch schlimmer – sie bezog es auf die alte Arbeitsumgebung. Arbeiten konnte sie nicht mehr – also war alles gut. Auf die Idee, dass noch etwas anderes damit gemeint sein könnte, kam sie nicht. Die „Überprüfung der Lebensbereiche nach möglichen weiteren Auslösern“ ging in anderen, für sie wichtigeren Aktivitäten unter. Es gab und gibt keine Schulung, die Menschen mit dieser Diagnose auf ihre neuen Lebensumstände vorbereitet. Keine Stelle erklärte die Zusammenhänge, die notwendigen Veränderungen in der Lebensführung, und all das Notwendige zur Verbesserung der eigenen Situation.

Das Pragmatische – der Rentenantrag – wurde gestellt und führte zu neuen, seelischen Belastungen. Weil die Diagnose von Dr. Binz so nicht anerkannt wurde, musste Brigitte zur Begutachtung zum Medizinischen Dienst. Wie sie dort behandelt wurde, welche zum Teil dreisten und überflüssigen Fragen gestellt wurden, brachte sie fast zur Verzweiflung. Die Krönung: Ihrem Rentenantrag wurde Monate später nur aufgrund des Entlassungsberichtes aus der stationären psychotherapeutischen Behandlung stattgegeben. Mit der Diagnose MCS allein wäre der Antrag nicht bewilligt worden. Aber zu welchem Preis: Brigitte erlebte, dass sie als MCS-Kranke stigmatisiert und einmal mehr psychiatrisiert wurde.

Sie fühlte sich allein gelassen, ohne Unterstützung und Hilfe. Ein Neurologe vor Ort, den Sie wegen der langen Fahrt zu Dr. Binz als Alternative kontaktierten, zog alle Diagnosen in Zweifel und verdammte diese als Scharlatanerie. Als Höhepunkt bekam sie ein Rezept über Psychopharmaka in die Hand gedrückt.

Neue Umgebung

Zu diesem Zeitpunkt begannen sie und ihr Mann die Suche nach einem neuen Zuhause. Nach sechs Monaten Suche fanden sie eine aus ihrer Sicht geeignete Mietwohnung. Die mit der Wohnungssuche verbundenen Belastungen wie Besichtigungen, altes Haus ausmisten, Kartons packen, Kartons in die neue Wohnung fahren, neue Wohnung einrichten, altes Haus herrichten und verkaufen, all das für Nicht-Kranke Übliche, waren für Brigitte zu viel. Regenerationskuren folgten, aber nachhaltige Linderung brachten sie nicht.

Ein behandelnder Arzt stellte zu den vorhandenen Symptomen eine „Potenzierung der psychischen und toxischen Schäden“ fest. Dazu kamen diverse Nahrungsmittelunverträglichkeiten, weitere Minderung des Hörvermögens und der Durchhaltefähigkeit, Medikamentenunverträglichkeiten u.w.m.

Verschlimmerung

Brigittes Zustand in der neuen Wohnung verschlechterte sich kontinuierlich. Sie verstand nicht warum. Die neu eingerichteten Räume sahen gut aus: Parkett- und Linoleum-Böden, Flur, Küche und Bad gefliest. Vinyltapeten frisch gestrichen. Sie putzte die Wohnung, hielt alles in Ordnung. Sogar für einen Computerkurs fand Sie Zeit. Sie fing an, sich bei CSN und auf anderen Webseiten über MCS zu informieren, aber ihre geringe mentale Aufnahmefähigkeit verhinderte, dass sie verstand, was sie las. Sie konnte die Zusammenhänge nicht dauerhaft erkennen, manches wurde schlichtweg vergessen.

Nebenher unterstützten Brigitte und ihr Mann Bewohnerinnen des gegenüberliegenden Seniorenheimes. Sie lasen ihnen vor, unterhielten sich mit ihnen, gingen zusammen spazieren. Sie versuchten ein ihren Vorstellungen entsprechendes Leben zu führen, soweit Brigittes Krankheit es eben zuließ.

So merkte sie lange Zeit nicht, dass verschiedene Ausdünstungen zur Vernebelung des Geistes beitrugen. Sie ahnte nicht, dass die Weichspülerdüfte aus der gemeinsamen Waschküche ihr zusetzten. Sie wusste zwar, dass es Elektrosensibilität gibt. Sie sah die Sendemasten für Mobilfunk, maß ihnen aber zunächst keine Bedeutung bei. Später einmal wird Brigitte schreiben: „Ich habe die Krankheit lange nicht verstanden und jetzt im Schnelltempo erleben müssen, was es heißt.“

Der Zusammenbruch

Der örtliche Wasserversorger musste im Jahr 2008 seine Talsperre sanieren. Die Stadt, in der sie wohnte, stellte die Versorgung auf Grundwasserbrunnen um. Keime im Wasser führten dazu, dass das Trinkwasser gechlort abgegeben werden musste. Brigitte nutzte dieses Wasser täglich: Waschen, duschen, kochen, trinken.

Zudem war Brigitte mitten in die Einflugschneise des Köln-Bonner Flughafens gezogen. Tag und Nacht flogen die Flugzeuge über ihr Haus. Da der Flughafen über ein radargesteuertes automatisches Landesystem (ILS) verfügt, kam zum Funkverkehr und übermäßigem Lärm eine ständige Radarbelastung hinzu.

Im Herbst 2008 besuchten Brigitte und ihr Mann ein Konzert in Siegburg. Der Saal war voll, Besucherinnen trugen Parfüm, die Männer umwaberte Deogeruch. Das Konzert war großartig, mit einer Bühnenshow, die als Höhepunkt ein Lichtgewitter, Nebelschwaden und ein Minifeuerwerk vorsah. Mitten in diesem Höhepunkt musste Brigitte schlagartig den Saal verlassen. Sie konnte den Gestank, den Rauch, einfach alles nicht mehr auszuhalten!

In den nächsten Tagen und Wochen fühlte sich Brigitte einfach nur schlecht. Die Schlafstörungen nahmen zu, das Brennen im Körper, ihr Körpergewicht reduzierte sich. Alles tat weh. Ohnehin schon lärmempfindlich sorgte der Fluglärm für eine Kakophonie in Brigittes Ohren.

Nur ganz langsam konnte sie sich mit Hilfe ihrer Freundin, die ebenfalls MCS hatte, mit Abwehrmaßnahmen beschäftigen: Gegen die Weichspüler-Düfte wurde ein Untertürschutz angebracht. Das DECT-Telefon wurde zunächst gegen ein Eco-DECT-Telefon ausgetauscht, dann nochmals gegen ein ISDN-Tastentelefon. WLAN wurde komplett abgeschaltet und der Internetzugang per Kabel hergestellt; Energiesparbirnen gegen normale Glühlampen ausgewechselt. Doch Brigittes Zustand stabilisierte sich nicht. Sie spürte die Batterie in einer Armbanduhr. Außenkontakte wurden eingestellt. Nur die Freundin durfte sie noch besuchen, weil sie „nach nichts roch“.

Ihr Ehemann sah die Veränderungen, aber er verstand sie nicht. Im nagelneuen Auto konnte er Brigitte nicht mehr zu einem der wenigen, verständigen (!) Umweltärzten fahren, die es in Deutschland gibt und die vielleicht noch hätten helfen können.

Mitte 2009 wog Brigitte nur noch 46 Kilogramm. Die Symptome hatten Sie fest im Griff. Sie konnte sich nicht allein waschen, kam nicht in die Badewanne hinein, geschweige denn hinaus. Dazu die ständigen Schmerzen, die Hoffnungslosigkeit, jemals aus dieser Wohnung herauszukommen. Kein Fenster durfte mehr geöffnet werden, wenn Brigitte im Raum war, die Haustür nur ganz kurz für ein schnelles Raus/Rein. Jedes kleinste Geruchsmolekül wurde von Brigitte wahrgenommen, jedes elektrische Gerät. Die Atemschutzmaske war ihr ständiger Begleiter.

Silvia Müller telefoniert mit ihr, schickte Sauerstoff und Keramikmaske. Dazu weitere Ratschläge. CSN half! Kein Arzt, keine Krankenkasse, kein Nachbar, kein Angehöriger und schon gar keine andere Stelle.

Ganze Tage hat sie ihr Schlafzimmer nicht verlassen. Die Hypersensibilisierung nahm zu. Zwei neue Schränke rochen zu stark. Also raus mit den Schränken, Nachbarn aus dem Ort konnten sie gebrauchen.

Brigittes stellte ihre Nahrung um und zog einen Baubiologen hinzu: Er fand heraus, dass im Mietshaus ein DECT-Telefon 1000-fach (!!!) über dem Normwert strahlte. Die Wohnung lag im Mittelpunkt der Radarstrahlen. Die Fußböden aus Linoleum gasten ebenso aus wie die Vinyltapeten und der Kleber des Parketts. Die Katastrophe war perfekt. Wohin mit der total geschwächten Brigitte?

Erste Verlegung

Der Baubiologe empfahl ein Seminarhaus mit Netzfreischaltung in Hessen. Sofort wurde Kontakt aufgenommen, ein Doppelzimmer reserviert, sich nach der Netzfreischaltung erkundigt. Die Wartezeit bis ein Zimmer frei war, dauerte zu lange. Per Telefon setzte sie verzweifelt ihren Hilferuf ab: „Ich halte es hier nicht mehr aus! Holt mich dringend ab! Mit jedem Flugzeug zittert mein Körper und es hört nicht auf.“ Brigitte war schreiend vor Schmerzen zusammengebrochen. Was tun? Kurzfristig wurde sie zu ihrer Freundin gebracht, wo sie nur eine Nacht verbrachte. Die Wohnung war auch nicht perfekt, aber in Bezug auf den Elektrosmog besser und sie lag nicht mehr in der Einflugschneise. Laut war es immer noch.

Am 23. Mai startete die Verlegung nach Hessen. Alles sah nett aus. Das Haus von außen schön, das Zimmer innen einfach, sauber, für Nichtkranke keine übermäßigen Gerüche. Doch welch ein Schock! Es wurde gebaut. Ein Teil der Baustelle lag direkt unter dem Zimmer und das wurde bei der Reservierung nicht erwähnt. Für Brigitte war es zu laut, der Schulweg und die Waldschule in unmittelbarer Nähe, der Bauer mähte und fuhr mit dem Trecker dauernd hin und her. Brigitte kam nicht mehr aus dem Zimmer, der total geschwächte Körper ließ nur wenige Schritte zu. Das Essen war auch nicht richtig, die Angestellten rochen nach Parfüm,…Wiederholte sich die Katastrophe?

Zweite Verlegung

Mit einem Wort – Ja! Zwei Tage brauchte es, um für Brigitte einen neuen Aufenthaltsort zu finden. Es gibt in Thüringen einen Platz, an dem sich Elektrosensible aufhalten können. Kein Strom auf dem Zimmer, nicht auf der Etage, nur in den Servicebereichen des Hauses. Damit auch: Kein Radio, kein Fernsehen. Noch wichtiger: Kein Radar und in unmittelbarer Nähe keine Landwirtschaft. Mobilfunkverbot im Haus, keine großen Straßen, kein Fluglärm, ein Naturschutzgebiet.

27. Juni 2009: Zum Glück liegt der neue Ort nur eine knappe Autostunde entfernt. Wieder hoffte Brigitte, dass diesmal alles klappen würde. Aber tief drinnen hatte sie Zweifel, die sie ihrer Freundin im letzten Telefonat schilderte. Sie lebte mit einem immer schwächer werdenden Körper und der ständigen Zunahme der Empfindsamkeit.

Die letzten Tage

Jetzt war ihr Ehemann noch mehr gefordert. Kochen, einkaufen, sie nach draußen begleiten. Drei Wochen lang versuchte er alles für sie zu tun. Auf dem Zimmer lagen am ersten Tag kleine Seifenstückchen. Voller Verzweiflung forderte Brigitte, dass diese entfernt werden.

Dennoch hatte sie stundenlange Zitteranfälle, Sprach- und Schlafstörungen. Sie wurde gereizter und aggressiver. Brigitte war nicht mehr Herrin ihrer selbst. Vor allem nachts traten schreckliche Halluzinationen auf. Mehrfach konnte ihr Mann verhindern, dass sie sich aus dem Fenster stürzte.

Alle Mühen waren vergebens. Die Hypersensibilität schlug erbarmungslos zu.

Brigittes letzte Worte waren:

„Liebe Freundin!

Ich erleide Höllenqualen, ich bin verzweifelt, habe unendliche Schmerzen. Mein Körper richtet sich gegen sich selbst. Meine eigenen Berührungen lösen Schmerzen aus. […] jedes Geräusch bedeutet Schmerzen. Selbst wenn ich esse, habe ich Schmerzen.

Ich habe Heimweh wie verrückt, aber ich habe kein Zuhause mehr, ich weiß nicht einmal wohin. Ohne Maske kann ich nicht raus. In den Wald kann ich nicht, soweit kann ich nicht gehen.

[…] Ich kann mit niemanden sprechen, tut auch schon weh und alle haben irgendeinen Duft an sich.

Nachts läuft die Hölle auf Hochtouren. Panik! Dann stehe ich im Fensterrahmen und will springen. Ich kann nichts dagegen tun, es läuft automatisch ab. Zittern ohne Ende und Schmerzen. Schreien ins Kissen, weil ich es nicht mehr aushalten kann. […]“

Brigitte schied am 21. Juli 2009 gegen 11:00 Uhr aus dem Leben.

Autoren: Bea und Michael Muth für CSN – Chemical Sensitivity Network, 30. Juli 2009

Stellungnahme des UBA zu Duftstoffe in Farben und Wandabwicklungen

Duftstoffe in Farben können Gesundheitsbeschwerden auslösen

Statt Abbau von Barrieren für Behinderte werden neue unüberwindbare Barrieren geschaffen

Das Umweltbundesamt (UBA) warnt seit Jahren von dem Einsatz von Duftstoffen und weist auf Gesundheitsgefahren hin. Ein Umdenkprozess konnte dadurch leider noch nicht eingeläutet werden. Die Zahl der Asthmatiker, Duftstoffallergiker und Menschen mit Chemikalien-Sensitivität hat in den letzten Jahren zugenommen. Einer der Gründe hierfür ist der zunehmende Einsatz von Duftstoffen auch außerhalb der privaten Haushalte. Raumbeduftung, Einsatz von Duftsprays, gelgefüllte Duftspender, automatische Duftvernebler und die Verwendung von Parfums, duftstoffhaltigen Wasch- und Pflegeprodukten hat dramatisch zugenommen.

Duftstoffe in Wandfarben – Eine neue Barriere für manche Behinderten

Als innovative Neuheit wurde zu Anfang des Jahres von einer Firma ein Patent für Farben und Wandabwicklungen vorgestellt, diese enthalten Duftstoffe, die über Jahre an die Umgebungsluft freigegeben werden. CSN nahm dies zum Anlass, das UBA zu konsultieren und um Stellungnahme zu bitten, da davon auszugehen ist, dass solche duftstoffhaltigen Farbsysteme dafür sorgen, dass sich z.B. Personen, die unter MCS oder Asthma leiden, in solchen Gebäuden nicht aufhalten können. Entsprechende wissenschaftliche Literaturhinweise, Studien und Abstracts wurden beigefügt.

Der Offene Brief des CSN nebst Anlagen wurde nachrichtlich auch an die Verbraucherzentrale Bundesverband e.V., Dr. Michael Müller MdB – Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium für Umwelt Natur und Reaktorsicherheit – und an den Deutschen Allergie- und Asthmabund e.V. gesendet.

Die Antwort des Umweltbundesamtes drückte Sorge über den Einsatz von Duftstoffen in Innenräumen aus. Der Antwortbrief des UBA ist im Anschluss an die nachfolgende CSN Anfrage zu lesen.

Offener Brief bzgl. Pressemitteilung der Firma Wacker Chemie AG vom 31.3.2009

Sehr geehrter Herr Dr. Straff,

am 31. März 2009 informierte die Firma Wacker Chemie AG, München, in einer Pressemitteilung über eine Neuentwicklung zum Einsatz von Duftstoffen in der Bauindustrie.

Im Wortlaut:

„Unter dem Motto „Inspired By Excellence“ präsentiert der Münchner WACKER-Konzern auf der vom 31. März bis 2. April 2009 in Nürnberg stattfindenden European Coatings Show (ECS) nachhaltige Produktlösungen aus den Kompetenzbereichen Coatings, Construction und Adhesives

CAVAMAX®/CAVASOL® Cyclodextrin-Duftstoff-Komplexe für innovative Coatings

WACKER hat ein System entwickelt, mithilfe von Cyclodextrinen Duftstoffe in Bauanwendungen trotz der hohen Flüchtigkeit und der chemischen Empfindlichkeit dieser Stoffe effektiv einzusetzen. Die ringförmigen Zuckermoleküle schützen empfindliche Substanzen in ihrem Inneren und setzen sie nach dem Trocknen und Abbinden des Beschichtungsstoffes kontrolliert frei. Damit bietet sich erstmals die Möglichkeit, ätherische Öle und andere Duftstoffe in unterschiedlichen

nichthydrophoben Anwendungen der Bauindustrie, wie Beläge, Putze, Anstriche, Spachtelmassen und andere Beschichtungen sowie Dichtstoffe, einzusetzen.“

Im Hintergrundpapier April 2006, „Duftstoffe: Wenn Angenehmes zur Last werden kann“ stellte das Umweltbundesamt fest:

„Aus Gründen der Vorsorge empfiehlt das UBA, Duftstoffe in öffentlichen Gebäuden – wie Büros, Kaufhäusern und Kinos – nicht einzusetzen, um die Gesundheit empfindlicher Verbraucherinnen und Verbraucher nicht zu beeinträchtigen. Sofern trotzdem Riech- und Aromastoffen in die Raumluft sollen, darf dies nur mit Zustimmung aller Raumnutzer erfolgen, um Belästigungen zu vermeiden. …

Das UBA rät davon ob, Riech- und Aromastoffen gezielt über Lüftungs- und Klimaanlagen in Gebäuden zu verbreiten, vor allem, falls dies ohne Kenntnis der Raumnutzerinnen und -nutzer erfolgt. Aus Sicht des UBA birgt ein solcher Zusatz im Zweifelsfall – bei bisher weitgehend unbekannten Risiken – eher gesundheitlichen Schaden als Nutzen für die Verbraucherinnen und Verbraucher. „

Cyclodextrin-Duftstoff-Komplexe können in Belägen, Putzen, Anstrichen, Spachtelmassen, Beschichtungen sowie Dichtstoffen eingesetzt werden.

Bitte teilen Sie uns mit, wie der Verbraucher in Zukunft davor geschützt werden kann/soll, dass er unwissend in Innenräumen wohnt, arbeitet, oder Gebäude betreten muss, die durch den Einsatz von CAVAMAX®/CAVASOL® beduftet werden.

Bestimmte Personengruppen in unserer Bevölkerung haben erhebliche Probleme mit Duftstoffen, hierunter fallen bekannterweise auch Schwangere und Chemotherapie-Patienten. Für weitere Personengruppen stellen Cyclodextrin-Duftstoff-Komplexe eine regelrechte Gesundheitsgefahr dar, hierzu zählen Allergiker, Asthmatiker als auch für jene Menschen, die an einer Multiplen Chemikalien Sensitivität (MCS) erkrankt sind. Mithin ist durch den Einsatz solcher Systeme mit einem Anstieg gerade eben dieser Erkrankungen zu rechnen.

Nicht nur chemische Duftstoffe können zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Durch neuere Studien wurde bekannt, dass ätherische Öle ebenfalls nicht unbedenklich sind. Neben luftgetragenen Risiken für Allergiker, wird von Wissenschaftlern auch für gesunde Raumbenutzer Bedenklichkeit signalisiert. Insbesondere in den Sommermonaten mit höherer Ozonbelastung ist in Räumlichkeiten in denen ätherische Öle in der Raumluft enthalten sind, mit Schadstoff- und Feinstaubeintrag durch Oxidationsprozesse zu rechnen. Erkenntnisse, die u. a. in Studien von Nazaroff et al/ Berkeley University (2006) und Weschler et al/ University Texas (2004) nachgelesen werden können. (Anlage)

Abschließend möchten wir noch darauf hinzuweisen, dass der Einsatz von Farbsystemen die Duftstoffen enthalten, in öffentlichen Gebäuden im Rahmen der am 23.03.09 auch in Deutschland in Kraft getretenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgeschriebene Nichtdiskriminierung verstößt, da er insbesondere in Gebäuden wie Schulen, Krankenhäusern,

Pflegeeinrichtungen, Behörden und Veranstaltungsgebäuden für Teile der oben angesprochenen Personengruppen, neue (teils unüberwindbare) Barrieren errichtet.

Auch Personen, die unter Einfluss von Duftsstoffen bisher noch keine gesundheitlichen Probleme entwickelt haben, empfinden Duftstoffe oft als lästig und störend. Mithin will niemand durch Duftstoffe beeinflusst werden.

Dieser offene Brief wird zeitgleich im Blog des Chemical Sensitivity Network http://www.csn-deutschland.de/blog veröffentlicht.

Wir bitten Sie um eine Stellungnahme.

Mit freundlichen Grüßen

Silvia K. Müller

CSN – Chemical Sensitivity Network

Das Umweltbundesamt schrieb eine Antwort auf die CSN Anfrage vom 24.06.2009:

Umweltbundesamt, Dr. Wolfgang Straff, Dessau, 15.07.2009

Sehr geehrte Frau Müller,

vielen Dank führ Ihr Schreiben. Es zeigt uns, wie wichtig unsere Arbeit in diesem Bereich ist. Wie Sie richtig zitieren, empfiehlt das UBA, Duftstoffe in öffentlichen Gebäuden nicht einzusetzen. Diese Empfehlung gilt nach wie vor.

Als wissenschaftliche Bundesoberbehörde gehört es zu unseren Aufgaben, sowohl die politischen Entscheidungsträger, als auch die allgemeine Öffentlichkeit über Fragen des Umweltschutzes und auch der gesundheitlichen Zusammenhänge zu informieren und Empfehlungen auszusprechen. Aus diesen Empfehlungen ergibt sich allerdings keine rechtliche Verbindlichkeit – weder für private, noch für juristische Personen. Wir beurteilen die Anwendung von Duftstoffen in Innenräumen – insbesondere dann, wenn dies zur Maskierung mangelhafter Raumluftqualität erfolgt – aus lufthygienischen Gründen kritisch. Trotzdem teilen wir nicht Ihre Auffassung, dass eine Exposition gegenüber Duftstoffen zwangsläufig mit gesundheitlichen Problemen bestimmter Personengruppen verbunden sein muss. Dies gilt nach unserer Auffassung auch nicht für Schwangere und Chemotherapiepatienten und -patientinnen.

Besorgte Verbraucherinnen und Verbraucher sollten darauf achten, dass bei Renovierungsmaßnahmen solche Produkte zur Anwendung kommen, die keine unerwünschten Inhaltsstoffe enthalten. Eine Orientierung gibt das Umweltzeichen „der blaue Engel“, bei dessen Vergabekriterien Aspekte des Umwelt- und des Gesundheitsschutzes eine Rolle spielen.

Sowohl Qualität der Außen- als auch der Innenraumluft ist für das UBA ein wichtiges Thema. Es wird sich auch weiterhin mit der hygienischen Problematik der Anwendung von Duftstoffen befassen.

Mit freundlichen Grüßen,

Im Auftrag

Dr. W. Straff

MCS – Die Zahnpasta lässt sich nicht mehr in die Tube zurückdrücken

MCS: Die Zahnpasta lässt sich nicht mehr in die Tube zurückdrücken

Durch das Internet ist die Welt zum Dorf geworden, in kürzester Zeit sind Infos rund um den Erdball gejagt. Für Organisationen wie CSN ist das ein sehr großer Gewinn, denn ohne dieses Medium läge manche Information nur verstaubt in einem Aktenordner, und die chemikaliensensiblen Menschen da draußen würden sie nie erfahren. Das war einmal, diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Jetzt dauert es oft weniger als einen Tag, bis sich eine wichtige Information über den ganzen Globus verteilt hat. Nicht nur das, sie ist dann meist schon in diverse Sprachen übersetzt, wenn sie wichtig ist. Ein Schreiben über die Klassifizierung von MCS – Multiple Chemical Sensitivity als Krankheit im ICD-10, dem Internationalen Register für Krankheiten, wurde bspw. in mindestens fünf Sprachen übersetzt.

Heute Morgen kam eine Meldung herein, dass mehrere Dokumente, die CSN vor einiger Zeit online stellte, jetzt auch ins Japanische übersetzt wurden.

Eine Organisation hat sich die Mühe gemacht, das Antwortschreiben von DIMDI zu übersetzen, bzgl. des Krankheitscodes ICD-10 T78.4 für MCS, und dass MCS in Deutschland als körperlich bedingte Krankheit klassifiziert ist. Außerdem hat die japanische Organisation auch das Schreiben des BMAS -Bundesministerium für Arbeit und Soziales übersetzt, hinsichtlich der Anhaltspunkte bei der Begutachtung von MCS.

Das Schreiben von DIMDI an CSN bzgl. des ICD-10 für MCS: Original

wurde ins Japanische übersetzt: Übersetzung

Das Schreiben des BMAS bzgl. der Anhaltspunkte bei der Begutachtung von MCS: Original

gibt es auch auf Japanisch: Übersetzung

Die japanische Organisation hat noch weitere Infos und Auszüge aus CSN Blogs übersetzt. Die Welt ist, wie man sieht, dank Internet wirklich zum Dorf geworden, das ist spitze. Der Informationsfluss über MCS, Umweltkrankheiten und chemikalieninduzierte Krankheiten geht täglich weiter. Die Zahnpasta ist nicht mehr in die Tube zurückzudrücken, das sollten auch diejenigen gemerkt haben, die Tag für Tag ihren Lobbyjob ausüben und für ihren Arbeitgeber oder Dienstherren versuchen zu bagatellisieren oder Krankheiten wie MCS in Abrede zu stellen – sie täten besser, daran zu akzeptieren und mitzuhelfen, die Situation für alle zu verbessern. Wie gesagt, in die Tube zurückdrücken ist nicht.

Autor: Thommy, CSN – Chemical Sensitivity Network, 29. Juli, 2009

Psychostudien unter der Lupe

Psychostudien unter der Lupe

Die früher genannten Studienergebnisse bei Vergleichen von Psychotherapie mit Placebobehandlungen und Unbehandelten sollen im Folgenden noch etwas genauer betrachtet werden.

Das Beispiel

Als Ausgangs- und Orientierungspunkt soll dabei ein Ergebnis der schon erwähnten NIMH-Studie [1] dienen. Dort ging es um die Behandlung von Depressionen mit verschiedenen Methoden.

Die Hamiltonskala

Zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung und des Behandlungserfolgs werden den Patienten zu Begin und am Ende der Behandlung einige vorgegebene Fragen gestellt und die Antworten dann von den Befragern nach einem Punkteschema bewertet. Dabei wurde eine Version der weit verbreiteten sog. Hamilton-Skala (HRSD) benutzt. Aus den Punkteergebnissen wurde dann jeweils ein Skalenwert ermittelt, der die Schwere der Depression des betreffenden Patienten repräsentieren soll. Höhere Werte stehen dabei für eine schwerere Depression, d.h. niedrigere Werte sind „besser“. Ein Resultat von 15 bis 18 wird als milde bis mittelschwere Depression gewertet. Schwer depressive Patienten erreichen üblicherweise einen Wert von 25 oder mehr.

Die Ergebnisse

Dabei ergaben sich folgende Ergebnisse:

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* Imipramin ist ein trizyklisches Antidepressivum

Die angegebenen Werte sind jeweils die Mittelwerte der einzelnen Gruppen.

Durch die Behandlung mit Psychotherapie verbessern sich die Teilnehmer durchschnittlich um einen Wert I. Erfolgt diese Verbesserung wiederum mit einer gewissen zufälligen Variabilität, wird die Streuung der Ergebnisse dabei größer, d.h. die Standardabweichung wird größer (vgl. obige Tabelle).

Die Standardabweichung „s“ ist ein Maß für die Schwankungsbreite der Ergebnisse in den einzelnen Gruppen. Bei dem Ergebnis m ± s liegen 68,3% der Einzelergebnisse zwischen (m – s) und (m + s). Dabei ist „m“ der Mittelwert. Je kleiner s ist, desto dichter liegen die Einzelergebnisse beisammen.

Die nachfolgende Graphik zeigt die Studienergebnisse (die ersten vier Zeilen der Tabelle) als normalverteilte Wahrscheinlichkeitsdichten. Je höher die Kurve, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in der Gruppe den zugehörigen HRSD-Punktewert hat. Farben wie in der Tabelle.

Tabelle 2

Die Effektstärke

Um die Ergebnisse verschiedener Studien vergleichen zu können, verwendet man häufig die sogenannte Effektstärke (meist mit „d“ oder „ES“ abgekürzt) , die je nach beabsichtigter Genauigkeit oder Perspektive auf verschiedene Weise berechnet werden kann.

Im einfachsten Fall nimmt man d = (m1-m2)/s2 (Glass’s Delta). Dabei ist m1 der von der betrachteten Versuchsgruppe erreichte Mittelwert nach der Behandlung, m2 der von der Kontrollgruppe (hier die Placebogruppe: m2=8,8) erreichte Mittelwert und s2 die Standardabweichung von der Kontrollgruppe (hier s2=5,7).

Im vorliegenden Fall erhält man formal eine negative Effektstärke, wenn die Therapiegruppen besser als die Vergleichsgruppen sind, weil weniger HRSD-Punkte „besser“ sind. Konventionell zählt man die Effektstärke aber in Richtung der „Verbesserung“ positiv. In diesem Fall würde man also d statt d berichten.

Klinische Relevanz der Effektstärke

Nach der Konsensempfehlung des (englischen) Nationalen Instituts für klinische Exzellenz (National Institute for Clinical Excellence (NICE)) sind für einen klinisch relevanten Effekt mindestens 3 Punkte auf der Hamilton-Skala oder alternativ eine Effektstärke von d = 0,5 erforderlich [2].

Bei entsprechend hoher Standardabweichung können die absoluten Unterschiede trotz nicht vorhandener klinischer Relevanz nach dem Kriterium d < 0,5 recht hoch sein. Umgekehrt können die entsprechenden absoluten Unterschiede bei sehr kleiner Standardabweichung trotz klinischer Relevanz gemäß d % 0,5 sehr klein sein. Daher die zusätzliche Forderung, dass der Effekt mindestens 3 Punkte auf der Hamilton-Skala ausmachen muß.

Ein Wert auf der Hamilton-Skala von 6 oder besser wird in Studien oft als Grenzwert genommen, ab dem ein Patient als „geheilt“ gilt.

Die Behandlung ist nicht wirklich besser als das Placebo

Befürworter der Psychotherapie, insbesondere solche, die selber Psychotherapie machen, führen als Beleg für die Effizienz von Psychotherapie gegenüber Placebobehandlungen oder Nichtbehandlung häufig die Ergebnisse der Metastudie von Lambert und Bergin [3] an, in der 15 Metastudien ausgewertet wurden. Dort kam man auf Werte für die Effektstärke von:

„Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“: d = 0,82

„Psychotherapie“ gegenüber „Placebo“: d = 0,48

„Placebo“ gegenüber „keine Behandlung“: d = 0,42

(D.h. für den Fall „Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“: der Unterschied zwischen den Durchschnittsergebnissen für die „Psychotherapie“-Gruppe und die „keine Behandlung“-Gruppe beträgt das 0,82-fache der Standardabweichung der „keine Behandlung“-Gruppe, das sind 0,82×5,7 = 4,7 HRSD-Punkte.)

Der Unterschied zwischen Psychotherapie und Placebo beträgt also nach Effektstärken 0,48 (zweite Zeile).

Nach der oben angegebenen Formel für die Effektstärke d = (m1-m2)/s2 folgt aus dem ersten und dritten Wert jedoch eine Differenz zwischen den Ergebnissen von Psychotherapie und Placebo von nur 0,40 Standardabweichungen der „keine Behandlung“-Gruppe. Der Unterschied rührt möglicherweise daher, dass die Standartabweichung für „keine Behandlung“ größer war als die für „Placebo“. Eine andere bzw. zusätzliche Möglichkeit besteht darin, dass eine leicht abweichende Formel zur Berechnung der Effektstärke verwendet wurde.

Wie auch immer man jedoch rechnet: Die Placebogruppe ist zwar etwas schlechter als die Therapiegruppen, der Unterschied in den erreichten Mittelwerten ist nach dem NICE-Standard jedoch klinisch nicht relevant.

…und der Vorsprung schwindet

Dabei ist weiter zu bedenken, dass wichtige unspezifische Faktoren wie die Überzeugtheit des Therapeuten hinsichtlich seiner Behandlung bei Placebobedingungen nicht vorhanden sind und auch weitere unspezifische Kontextfaktoren fehlen können.([4], S. 46)

„Weinberger [6] ging so weit zu sagen, dass der Unterschied in den verschiedenen Behandlungsformen darin liegt, welche generellen Faktoren [= unspezifische Faktoren] benutzt und welche generellen Faktoren vernachlässigt werden.“([4], S. 82)

Einige Studien haben versucht, den Überzeugungs- bzw. Loyalitätseffekt abzuschätzen. Dabei fand man, wenn der Therapeut von seiner Behandlung überzeugt ist, eine Effektstärke von 0,95. Ist der Therapeut nicht überzeugt, wie bei einer Placebobehandlung anzunehmen, lag die Effektstärke nur bei 0,66.

Bei Gültigkeit der obigen Formel für die Effektstärke, liegt der Unterschied aufgrund des Überzeugungseffekts in den Ergebnissen für das jeweilige Meßinstrument bei 0,29 Standardabweichungen. Die entsprechende Differenz in der oben genannten Studie von Lambert und Bergin lag bei 0,48. D.h. allein dieser Faktor reduziert den Unterschied zwischen Therapie und Placebo auf 0,19 Standardabweichungen (das entspräche in obigem Beispiel ca. 1,1 Punkte auf der Hamilton-Skala) und führt so praktisch zu einem Ausgleich.

In einer anderen Studie von Bergmann et. al. (1985) ([4], S. 59) kam man gar auf einen Überzeugtheitseffekt von 0,65. Ein Effekt in dieser Größe würde den Unterschied zwischen Therapie und Placebo sogar mehr als ausgleichen.

(Weiter unten wird an einer Stelle der Mittelwert von (0,29+0,65)/2 = 0,47 verwendet.)

Weitere Therapeuteneffekte

Auch sind die Erfolgsraten verschiedener Therapeuten systematisch unterschiedlich hoch. Die davon in Studien ausgehenden Effekte führen in Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Therapiemethoden oft zu einer Übertreibung von Unterschieden. Korrigiert man diese Effekte, so verschwinden allfällige Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Therapieformen. Schätzungen kommen auf durch unterschiedlich erfolgreiche Therapeuten bedingte Unterschiede in Ergebnissen von Studien zum Vergleich von Therapiemethoden auf Effektstärken bis zu 0,6 ([4], S. 77) (vermutlich „gute“ gegenüber „schlechte“ Therapeuten). Diese Effektstärke überwiegt wiederum die gefundenen Unterschiede zwischen „echten“ Therapien und „Placebos“. D.h. im Einzelfall kann es wichtiger sein, einen „guten“ Therapeuten zu haben, als eine „echte“ Therapie zu bekommen.

Blatt et.al. kamen in einer Analyse der NIMH-Studie zu dem Ergebnis: „Die Analyse der Daten läßt auf einen existierenden signifikanten Unterschied innerhalb der therapeutischen Wirksamkeit unter Therapeuten schließen, sogar unter den best trainiertesten und erfahrensten Therapeuten in dieser Studie… [Die Unterschiede bestehen] nicht in Abhängigkeit von der allgemeinen klinischen Erfahrung der Therapeuten oder der Erfahrung in der Behandlung von depressiven Menschen. Jedoch werden die Unterschiede in der therapeutischen Wirksamkeit mit der grundsätzlichen klinischen Ausrichtung assoziiert… Die effektivsten Therapeuten hatten in Bezug auf den klinischen Prozeß eher eine psychologische denn eine biologische Orientierung…“ ([4], S. 78)

Luborsky et. al. fanden [5]: „Trotz dieser Schritte, die die Fähigkeiten [der Therapeuten] maximieren sollten und die Unterschiede minimieren, reichte der Range [die Variationsbreite] der prozentualen Verbesserung der Klienten bei den 22 Therapeuten in den sieben Studien von geringfügig negativer Veränderung bis zu 80% Verbesserung.“ ([4], S. 79)

„Die Person des Therapeuten ist offenbar der kritische Faktor, wenn es um den Erfolg einer Therapie geht.“([4], S. 82)

Wie wirksam ist Psychotherapie?

Zur Beurteilung der absoluten Wirksamkeit von Psychotherapien hilft die Effektstärke jedoch nicht weiter. Dazu muß man die absoluten Verbesserungen betrachten.

Aus obiger Tabelle geht hervor, dass die beste Psychotherapie eine mittlere Verbesserung von 12,2 Punkten auf der Hamiltonskala brachte, bei einem Ausgangswert von 19,2. Das ist eine sehr deutliche Verbesserung.

Psychotherapie ist also durchaus wirksam. Die Placebobehandlung erbrachte jedoch eine fast genau so große Verbesserung um 10,3 Punkte bei einem Ausgangswert von 19,1. Der Unterschied von 1,9 Punkten ist klinisch nicht relevant.

Eine Behandlung ohne spezifische Inhalte, die nach gängigen theoretischen Vorstellungen unwirksam sein sollte, bringt also ein fast genauso gutes Ergebnis.

Die Differenz ist praktisch vollständig durch Überzeugtheitseffekte der Therapeuten sowie ggf. weitere Kontexteffekte erklärbar.

Ein hypothetischer Fall

Nun folgt noch ein hypothetischer Vergleich mit dem Fall, dass die NIMH-Studie noch eine weitere der „keine Behandlung“-Bedingung entsprechende Kontrollgruppe gehabt hätte, die statistisch ein im Sinne der Metastudie von Lambert und Bergin repräsentatives Verhalten zeigt.

Aus Lambert und Bergins Ergebnis einer Effektstärke von 0.82 von „Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“ ergäbe sich rein rechnerisch nach obiger Formel für die Effektstärke als Ergebnis für den Fall „keine Behandlung“ gegenüber der besten Psychotherapie (Interpersonale Therapie) der Studie immer noch eine Verbesserung um 7,3 Punkte von 18,9 auf 11,6 Punkte (dabei wurde s = 5,7 angenommen).

Die nachfolgende Graphik zeigt das Ergebnis zusammen mit den Studienergebnissen für die Interpersonale Therapie:

Tabelle 3

Es gibt also auch eine nennenswerte Spontanremission.

Sie macht in diesem hypothetischen Fall bei der besten Psychotherapie im Mittel etwa 63% der absoluten Verbesserung auf der Hamilton-Skala aus. Zudem überschreitet die beste Therapie im Vergleich zu dem hypothetischen Fall „keine Behandlung“ die Schwelle von 3 Punkten auf der Hamilton-Skala für klinische Relevanz nur um 1,7 Punkte (dies wie gesagt bei einer Standardabweichung von 5,7).

Das lässt die folgende Interpretation zu:

Fast zwei Drittel der Wirkung von Psychotherapie beruht auf Regressionseffekten bzw. Spontanremission (vgl. Teil 2).

Unter Regressionseffekten und Spontanremission sollen dabei alle Effekte zusammengefasst werden, die nicht aus einer Behandlung oder einer Scheinbehandlung stammen.

Alles in allem ist die Wirksamkeit von Psychotherapie also selbst im Vergleich zu dem „keine Behandlung“-Fall alles andere als beeindruckend. Die Schwelle zur klinischen Relevanz wird im hypothetischen Beispiel gerade so eben überschritten.

Im nächsten Beitrag soll die Interpretation der Effektstärken genauer betrachtet werden.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 28. Juli 2009

Teil I – IV

Teil I: Psychische Beeinträchtigung als Folge von Chemikalien-Sensitivität

Teil II: Die „Lösungen“ der Mainstream Medizin, auch bei MCS Psychotherapie und Psychopharmaka

Teil III: Psychopharmaka: Wirksam? Unwirksam? Schädlich? Placebo?

Teil IV: Psychotherapie – Das größte Placebo des 20. Jahrhunderts?

Weitere Artikel zum Thema

Literatur:

[1] Elkin et. al. (1989). NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: General Effectiveness of Treatment, Archives of General Psychiatry 46:971-82.

[2] National Institute for Clinical Excellence: Depression: management of depression in primary and secondary care. Clinical

practice guideline No 23. London: NICE; 2004.

[3] Lambert & Bergin (1994). The Effectiveness of Psychotherapy, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4th ed., ed. Bergin & Garfield, 143-190, John Wiley & Sons.

[4] Reiband, Nadine (2006). Klient, Therapeut und das unbekannte Dritte, Carl-Auer Verlag.

[5] Luborsky et. al. (1997). The Psychotherapist Matters: Comparison of Outcomes across twenty-two Therapists and seven Patient’s Samples, Clinical Psychology: Science and Practice, 42, 602-11.

[6] Weinberger (1995). Common Factors aren’t so common: The common Factors Dilemma. Clinical Psychology: Science and Practice, 42, 45-69.

Nominiert für den taz Panter Preis: Silvia K. Müller – CSN und Neurologe Dr. Peter Binz

Der taz Panter Preis wird 2009 zum fünften Mal verliehen. Zu den 6 Nominierten gehören in diesem Jahr Silvia K. Müller, Leiterin des CSN – Chemical Sensitivity Network und der Trierer Neurologe Dr. Peter Binz.

Nominiert für taz Panter Preis 2009 - Silvia K. Müller / CSN und Dr. Peter Binz

Was ist der taz Panter Preis? taz Panter Preis

Wer ist für den taz Phanter Preis 2009 nominiert? Die Nominierten

Die LeserInnenwahl beginnt am 1. August 2009. Die Jury, die den zweiten taz Panter Preis vergibt, trifft sich kurz vor der Preisverleihung im September. Die letztendlichen Gewinner und Gewinnerinnen des taz Panter Preises werden auf der Preisverleihung am 19. September 2009 bekannt gegeben.

Die taz berichtet: Gegen Gifte, die das Hirn zerfressen

taz-logoSilvia Müller und Peter Binz, die Patientin und der Arzt: Seit Jahren setzen sie sich für die Rechte der Menschen ein, die durch aggressive und hochgefährliche Chemikalien am Arbeitsplatz krank geworden sind.

Dass Silvia Müller schwerbehindert und deshalb mit 46 Jahren schon Rentnerin ist, merkt man erst an ihrer langsamen, leicht undeutlichen Sprache. Und an den Hörgeräten, die sie seit 17 Jahren tragen muss, auf beiden Ohren, klein, aber unübersehbar. Silvia Müller ist „chemikaliensensibel“, wie es im Fachjargon heißt. Das bedeutet: Sie reagiert auf die Stoffe in Deos, Weichspülern, Haarsprays und vielen anderen Chemikalien extrem empfindlich; wenn es schlimm kommt, verliert sie das Bewusstsein. Spontan das Haus verlassen, wie es andere tun, zum Einkaufen, ins Theater, zu Freunden – völlig ausgeschlossen. „Ich vermisse das sehr“, sagt sie. Es hat lange gedauert, bis sie herausfand, was sie in diese Isolation getrieben hat.

Zwölf Jahre hatte Silvia Müller als Dekorateurin bei einem großen Warenhaus gearbeitet. Anfangs hatte sie „nur“ rasende Kopfschmerzen, ihr wurde schwindelig und sie war schnell müde. Später wurde der Atem schwer, sie begann schlecht zu hören und einmal setzte ihr Herz für kurze Zeit aus. Sie hatte keine Ahnung, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz systematisch vergiftete.

Durch einen Zufall erfuhr sie, dass ihr Arbeitgeber nachts toxische Insektizide versprühen ließ – Nervengift. „Ich fing früh um 6 Uhr an, um diese Zeit war noch nicht gelüftet worden.“ Sie war nicht als Einzige betroffen. Von 40 Kolleginnen erlitten einige Fehlgeburten, vier bekamen behinderte Kinder. Die Ärzte konnten oder wollten keinen Zusammenhang erkennen. „Die waren feige und wollten mit Berufskrankheiten nichts zu tun haben.“

Durch eine Empfehlung kam Silvia Müller zu dem Trierer Neurologen Peter Binz. Er ermutigte sie, ihren ehemaligen Arbeitgeber anzuzeigen. „Er hat so eine tiefe Überzeugung ausgestrahlt, ohne ihn hätte ich den Kampf wohl nicht aufgenommen.“

Der 68-jährige Binz ist ein stämmiger Mann, sein Gesicht läuft rot an, wenn er über seine „feigen Kollegen“, die „korrupte Politik“ und die „geldgeile Großindustrie“ redet. Die Wut hat sich in ihm angestaut. „Sie glauben nicht, wie viele Arbeiter durch Chemikalien vergiftet und schwer geschädigt sind.“

Seit 30 Jahren macht Binz nichts anderes als das, was das Gesetz vorschreibt und was eigentlich für alle Ärzte selbstverständlich sein sollte: Wenn er den Verdacht hat, dass ein Mensch bei seiner Arbeit vergiftet wurde, meldet er das der Staatsanwaltschaft – meist jedoch folgenlos. „Das Kartenhaus bräche zusammen, würden die einen Präzedenzfall schaffen.“

Fast alle Kollegen scheuen sich zu diagnostizieren, dass der Patient während der Arbeit vergiftet wurde. Sie würden unter Druck gesetzt: von den Kassen, Ärztekammern und Berufsgenossenschaften.

Anfang der 80er-Jahre eröffnete Binz seine Praxis. Schnell erkannte er, dass viele seiner Patienten täglich mit gefährlichen Substanzen arbeiten. Allein mehr als 150 Arbeiter einer deutschen Schuhfabrik hat er bis heute behandelt – viele sind frühzeitig gestorben. Die lokale Presse berichtet darüber nicht.

„Giftberufe“ nennt er die Jobs, die die Gehirne innerhalb weniger Jahre zerfressen können: Schreiner, Lackierer, Maler und Metallarbeiter, aber auch Putzfrauen und Bademeister gehören dazu. Binz spricht aus, was viele nicht hören wollen, und macht sich damit Feinde, die ihn fast zerstört haben: Mehrfach wollte man ihm die Approbation entziehen. Ein Ermittlungsverfahren wegen angeblichen Abrechnungsbetrugs hat ihn bisher 400.000 Euro gekostet – und ihn an den Rand seiner Kraft gebracht. Die Lobby gegen ihn ist mächtig. Noch ein Jahr will er durchhalten, dann ist sein ältester Sohn bereit, seine Praxis zu übernehmen und sie in seinem Sinne weiterzubetreiben.

Warum er seit mehr als 30 Jahren gegen diese massiven Widerstände ankämpft? „Ich kann doch den Burschen nicht das Feld überlassen, ich würde ja mitspielen, wenn ich schweigen würde“, sagt der ehemalige Klosterinternatsschüler. „Vieles auf meiner Schule war weltfremd, aber Grundwerte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Demut habe ich bis heute verinnerlicht.“ Mehrere tausend Fälle hat er dokumentiert, unermüdlich Anzeigen erstattet und in Vorträgen und auf Kongressen über die Folgen von Vergiftungen am Arbeitsplatz informiert. Gemeinsam mit Silvia Müller versucht er aufzuklären, zu informieren, die Patienten über ihre Rechte aufzuklären. Denn nur wer weiß, was ihm passiert sein könnte, kann sich wehren.

Vor 13 Jahren gründete Silvia Müller das Chemical Sensitivity Network (CSN), eine Internetplattform, auf der sich Betroffene austauschen und informieren können. 3.000 Besucher hat die Seite täglich. Viele Stunden am Tag übersetzt Silvia Müller Studien, recherchiert oder hört einfach zu, was sich die Anrufer von der Seele reden müssen.

Als Anlaufstelle ist CSN mittlerweile unverzichtbar geworden. „Chemikaliensensible sind oft völlig verzweifelt und isoliert.“ Neben den körperlichen Symptomen quälten die psychischen „Nebenwirkungen“. Menschen, die ihren Verdacht äußern, sich wehren, würden verleumdet, als irre abgestempelt, ihrer Würde beraubt.

Silvia Müller ist umso entschlossener, gegen die „Lügen der Industrie“ anzukämpfen. CSN nimmt keine Spenden entgegen, zu groß sei die Gefahr der Einflussnahme. „Vielleicht bin ich nur eine kleine Ameise in dieser großen Maschinerie.“ Aber auch Ameisen, sagt sie und klingt sehr entschieden, können manchmal Großes bewegen.

taz Artikel: PAUL WRUSCH

Photo: Anja Weber

Präsident Obama in Rede über Gesundheitsreform: auch an Allergien als Krankheitsursache zu denken

Gesundheitsreform muss auch an Prävention denken

Bei einer aktuellen Rede, in dem U.S Präsident Obama um Unterstützung für die Überholung des amerikanischen Gesundheitssystems bat, beschrieb er eine sich alltäglich in Arztpraxen abspielende Situation: Ein Patient geht zum Arzt wegen rauem Hals, oder jemand bringt sein Kind wegen Halsschmerzen zum Arzt.

Präsident Obama sagte: „Im Moment sind Ärzte oftmals dazu angehalten, ihre Entscheidung in Bezug auf die existierenden Gebührenordnungen zu fällen…“

„Der Arzt schaut auf den Gebührenerstattungsplan und sagt sich: „Weißt Du was? Ich mache eine ganze Menge mehr Geld, wenn ich diesem Kind die Mandel heraus nehme“, sagte Präsident Obama bei der Pressekonferenz.

Der Präsident fügte an: „Nun, das könnte zwar das Richtige sein, was zu tun ist, aber ich hätte es lieber, dass Ärzte solche Entscheidungen auf der Basis treffen, ob es wirklich notwendig ist, die Mandeln Ihres Kindes zu entfernen, oder ob es nicht mehr Sinn macht, etwas zu verändern; vielleicht haben sie Allergien. Vielleicht haben sie etwas anderes, das einen Unterschied ausmachen könnte.“

Die Rede kann online angeschaut werden:
Obama: Doctors taking out Tonsils for money instead of diagnosing it as allergies

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: MCS – Multiple Chemical Sensitivity im Thesaurus „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat einen alphabethischen und einen systematischen Thesaurus „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ herausgegeben. Erstellt wurde der Thesaurus in langjähriger Zusammenarbeit von Dokumentaren, Bibliothekaren und Wissenschaftlern der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Die Erkrankung MCS – Multiple Chemical Sensitivity (ICD-10 T78.4) ist im Thesaurus „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ Alphabetischer Teil, Stand Mai 2009, folgendermaßen aufgeführt:

MCS Multiple=Multiple Chemical Sensitivity (B02.19.00)

Im systematischen Teil findet man MCS – Multiple Chemical Sensitivity in der Rubrik B02:

„Arbeitsbedingte Erkrankung und Berufskrankheit/ Krankheit“,

eingegliedert im Bereich:

  • * B02.19 Sonstige Erkrankung
  • * B02.19.00 Multiple Chemical Sensitivity

Das Chronic-Fatigue-Syndrom (CFS) ist analog eingegliedert.

MCS ist nicht als psychisch bedingte Krankheit eingeordnet

Um ggf. auftretende Zweifel auszuräumen, ist hervorzuheben, dass MCS – Multiple Chemical Sensitivity nicht dem Kapitel B02.15: Psychische Erkrankung, Depression, Neurose, Posttraumatische Belastungsstörung oder psycho-somatische Erkrankung zugeordnet ist.

Thesaurus „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“

Der Thesaurus bietet einen schnellen Überblick zu dem umfassenden Themenkomplex „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“. Er enthält ca. 3500 Hauptschlagwörter und ist die Zusammenführung der Schlagwörter aus den beiden bisherigen Thesauri „Arbeitsschutz“ und „Arbeitsmedizin“. Der Thesaurus basiert auf der praktischen Arbeit der Gruppe Bibliothek, Dokumentation bei der inhaltlichen Erschließung und Recherche von Fachliteratur. Er ist ein Hilfsmittel für die Dokumentation.

Gedacht ist der Thesaurus für alle, die Literatur zur Thematik „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ suchen. Er soll unterstützend zur Vorbereitung von Rechercheanfragen in der Datenbank LITDOK genutzt werden und kann für die Suche in anderen fachlich ähnlichen Datenbanken hilfreich sein.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 18. Juli 2009

Literatur:

Thesaurus „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ Alphabetischer Teil, Systemischer Teil, Dortmund/Berlin/Dresden 2009

Opfer der Medizinindustrie – „Then it will all have been worth it…“

Teenager als Opfer der Medizin

CFS ist als chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt. Darunter stellt man sich Müdigkeit vor. Aber CFS ist mehr als Müdigkeit. Zur ständigen Erschöpfung kommen noch weitere Symptome, unspezifische wie Schwindel oder Kopfschmerz, aber auch Licht-, Berührungs- oder Geruchsempfindlichkeit, Schmerzen im ganzen Körper, und gefährliche Immunschwächezustände. Viele CFS-Patienten können nicht mehr selbst für sich sorgen, werden zu Pflegefällen, in schweren Fällen sind sie bettlägerig.

Nichtsdestoweniger wird CFS oft fehldiagnostiziert. Depressionen und andere psychische Störungen sind häufige Diagnosen, hinter denen eigentlich CFS steckt. Viele CFS Patienten erfahren nie von ihrer Krankheit, sondern werden jahrzehntelang z.B. auf Depressionen behandelt.

Forschung fördern – Ohne Wirtschaftssponsoren

Die 1997 gegründete, US-amerikanische „National CFIDS (Chronic Fatigue Immune Dysfunction Syndrome) Foundation“, kurz NCF, versucht, Forschung über CFS zu fördern, mit dem Ziel, dass CFS Anerkennung findet und einmal eine Behandlung gefunden wird. CFIDS ist auch bekannt als CFS (Chronic Fatigue Syndrome) oder ME (Myalgic Encephalomyelitis). Krankheitsbilder wie das Golfkriegssyndrom (Gulf War Ilness, GWI) oder MCS (Multiple Chemical Sensitivity) gelten als verwandt.

Das NCF hat keine Großsponsoren in der Wirtschaft und wird rein ehrenamtlich betrieben. Das Geld der Foundation kommt aus privaten Spenden. Auf der Website wird zu kleinen Spenden von 10 bis 20 Dollar im Jahr aufgerufen. Alles nicht dringend zur Erhaltung der Foundation benötigte Geld kommt direkt der Forschung zugute. Durch dieses Spendengeld wurden schon mehrere Studien finanziert, zum Beispiel zu Infektionen als möglichem CFS-Auslöser.

Die Website der Foundation: The National CFIDS Foundation

Gedenkliste für verstorbene CFS-Patienten

Auf der Seite der „National CFIDS Foundation“ (NCF) gibt es eine Gedenkliste für verstorbene CFS-Patienten. Todesursachen unterschiedlich, Fehlbehandlung spielte fast immer eine große Rolle. Die Seite berichtet von jungen Menschen, teilweise Jugendlichen, die heute noch leben könnten, wären sie nicht mit psychiatrischen Diagnosen in Kliniken eingewiesen worden und durch unverträgliche Medikamente schwer krank geworden.

Lesen kann man die Liste mit beschriebenen Fällen unter: Fallbeispiele

Emily, 20 Jahre alt, CFS, Psychiatrieopfer, verstorben 2006

Im Februar 2006 starb eine junge Frau Emily Louise Chapman, erst 20 Jahre alt. Sie war 13, als ihre CFS-Erkrankung begann. Ohnehin schwerst krank, musste sie 15 Monate lang ohne jeden Behandlungserfolg in Kliniken leiden, wurde massiv fehlbehandelt. Danach durfte sie eine Zeit lang nach Hause. Sie weigerte sich, wieder in eine Klinik zu gehen. Ihre Eltern mussten darum kämpfen, dass ihre Tochter nicht gegen ihren Willen aus der Familie gerissen und in ein Krankenhaus gebracht wurde.

Nach sieben schweren Jahren kam sie wieder ins Krankenhaus. 8 Wochen musste sie dort unter Fehlbehandlung in jeder Hinsicht leiden, und sie, ohne jede Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage, nahm sich schließlich dort das Leben. Emily könnte noch leben. Sie war eine intelligente junge Frau, die selbst von zu Hause von ihrem Bett aus noch Kontakt mit einem Netzwerk von Brieffreunden hielt, war auf dem neuesten Stand von Umwelt, Politik und Sozialem und wurde Mitglied der New Writers Group Inc.

Sophia Criona – „Then it will all have been worth it…“

Emelys Fall ist kein Einzelfall. So starb zum Beispiel die junge Britin Sophia Criona, 32 Jahre alt, 2005, durch Fehlbehandlung und medizinische Vernachlässigung. Sie erkrankte mit 26 Jahren nach einer „Grippe“, von der sie sich nicht mehr erholte, an CFS und wurde innerhalb von drei Monaten bettlägerig. Sie war extrem licht- und berührungsempfindlich. Doch verantwortliche Ärzte behaupteten, dass sowohl Sophia als auch ihre Mutter nur Krankheit vortäuschen würden. Sophia kam in eine psychiatrische Klinik, in die „Geschlossene“.

Sophie hatte das Glück, noch einmal entlassen zu werden und ihr Zuhause noch mal zu sehen, aber die Schäden nach dieser Fehlbehandlung waren so groß, dass sie in Folge starb. In diesem Fall gab es eine Autopsie, die angeblich nichts zur Todenursache zeigte, aber eindeutige entzündliche Veränderungen wurden gefunden.

Sophias letzte Worte, nachdem ihre Mutter ihr gesagt hatte, dass sie mit Sophias Geschichte an die Öffentlichkeit gehen würde, waren „Then it will all have been worth it…“ („Dann war es das Alles wert…“). Ihre Mutter ging auch nach Sophias Tod an die Öffentlichkeit, an den Britischen TV-Sender Meridian Television.

Tracy – Bestraft für Krankheit

Ein anderer tragischer Fall, der von Tracy Lynn Harmon, die 2004 im Alter von 36 Jahren verstarb, fand in North Carolina statt. Auch sie starb durch Fehlbehandlung. In ihrem dritten Schuljahr wurde sie als psychisch krank eingestuft und ihr wurden unnötigerweise Psychopharmaka verabreicht. Als Jugendliche wurde schließlich die Diagnose CFS und Fibromyalgie gestellt. Wegen ihrer langen Fehlzeiten wurde sie mit 16 von der Schule entlassen. Die Psychiater gaben ihr Medikamente, von denen sie Halluzinationen bekam, und behaupteten, ihre Mutter sei das Problem („Münchhausensyndrom“).

In ihrer Zeit in der Anstalt wurde Tracy bestraft, wenn sie morgens zu müde zum frühen Aufstehen war. Trotz dieser Behandlung überzeugten die Ärzte sie, dass sie ohne die Medikamente sterben würde. Deshalb nahm Tracy die Mittel auch zu Hause weiter, bis sie schließlich starb.

Chemotherapiepatienten, Medikamententester…

In der langen Gedenkliste, aus der hier drei Fälle junger Frauen ausgewählt wurden, findet sich durchaus eine „CFS-Risikogruppe“, wenn man darauf achtet, was diese Patienten früher in ihrem Leben getan oder erlitten haben. Sportler, Chemotherapiepatienten, aber auch Medikamententester finden sich auf dieser Liste. Gleich zwei Tester, ein Mann und eine junge Frau, die das Mittel Ampligen von HEM Pharmaceuticals getestet hatten, starben an den Folgen von CFS.

Medikamententester sind Menschen, die dringend Geld benötigen und verkaufen daher ihre Gesundheit an Pharmafirmen, die ihre nächsten Kassenschlager mit Studien für unschädlich erklären.

Warum begehen Kranke Selbstmord?

Die hohe Zahl von Selbstmorden ist nicht nur auf die Schmerzen durch die Krankheit zurückzuführen. So wurde zum Beispiel Stephem S. Czerkas durch Armut und dazu noch Rechtsstreite in den Tod getrieben. Armut ist ein Stichwort. Was macht ein CFS-Patient, der keine Rente oder ausreichendes Sozialgeld, sowie wenn nötig eine Pflegeperson, zugestanden bekommt? Und mit z.B. Depressionen diagnostiziert wird? Ein CFS-Patient kann sich nicht ohne Geld auf der Straße durchschlagen. Der muss sich dann in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, als profitables „Rohmaterial“ der Pharmaindustrie und der Kliniken, und sich dort „behandeln“ lassen. Und was, wenn das Geld noch da ist? Dann kann man den Patienten immer noch mit einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie bringen. Das klappt nicht nur mit Minderjährigen. Wen wundert es, wenn Menschen sich umbringen, die außer Leid und Entwürdigung in ihrem Leben nichts mehr zu erwarten haben?

Klartext reden – Auf YouTube

Der YouTube-User „luminescentfeeling“ spricht zum Thema CFS klare Worte. Er bezieht sich auf England, aber die gezielte Psychiatrisierung von CFS-Patienten wie vieler anderer Kranker ist sicher kein spezifisch britisches Problem. Die Videos von luminescentfeeling gehören zu den ergiebigsten Infoquellen zu CFS auf YouTube. Sie zeigen echte Forschung zu CFS, ebenso wie Informationen zur Psychiatrisierung.

In seinem Profil vergleicht luminescentfeeling die Psychiater, die gezielt und wissentlich CFS-Patienten psychiatrisieren, als Diebe, die für Profit über Leichen gehen. Er bezeichnet England bzw. dessen Medizinlandschaft, als „kleptocracy“, d.h. eine Herrschaft von Dieben.

Kein Land in Sicht

Gibt es jemals Hoffnung für die Opfer unseres Wirtschaftssystems?

Beim Schreiben dieses Blogs war es schwer, mich zu entscheiden, welche Beispiele aus der Gedenkliste ich auswählen sollte. Jeder Mensch sollte in Erinnerung bleiben. Ich habe mich bei den ausführlich beschriebenen Beispielen bewusst auf besonders junge Personen festgelegt. Bedenken wir, wie viele Jahre diese Menschen noch hätten leben können, wenn nicht ein rücksichtsloses Wirtschaftssystem mit Kranken Profit machen würden. Stattdessen mussten sie jung und qualvoll sterben.

Es sind sicher viele Millionen Menschen, die in diesem System „unter die Räder kommen“, die nichts tun können als verzweifelt auf Veränderung zu hoffen, und die eine solche nicht mehr erleben werden, sollte es sie jemals geben, weil sie, sozusagen als Opfer der Wirtschaft, in jungen Jahren sterben. Was macht es für einen Unterschied, ob ein Mensch an CFS in der Psychiatrie stirbt, durch Umweltgifte an Krebs oder in einem armen Land verhungert?

Wir können nur hoffen, dass Sophia Criona irgendwann, und so bald wie möglich, Recht behält, mit dem Satz „Then it will all have been worth it…“

Autor: Amalie, CSN – Chemical Sensitivity Network, 22. Juli 2009

Weitere interessante Blogs von Amalie:

Psychotherapie – Die Rolle von Erwartungen

Psychotherapie = Placebo

Häufig genügt es, Hoffnung zu wecken, um Verbesserungen zu bewirken. Luborsky [1] fand in mehreren Studien, dass „die beste Basis für die Voraussage späterer Verbesserungen – die in den ersten Sitzungen geäußerte [Erwartung] schneller positiver Ergebnisse ist“. ([2], S. 107)

Lazarus [3] behandelte Patienten, die eine Hypnose wollten, statt dessen mit einer Standardentspannungstechnik. Die Patienten zeigten eine größere subjektive und objektive Verbesserung, wenn er wo immer möglich statt der Worts „Entspannung“ den Begriff „Hypnose“ gebrauchte.

Die Einstellungen und Erwartungen von Therapeut und Patient können großen Einfluss haben. Um diesen Effekt zu nutzen und Erwartungen zu koordinieren, kann man die Therapie mit einem „role-induction interview“ (ein Gespräch, in dem die gegenseitigen Erwartungen besprochen werden) beginnen. In mehreren Studien verbesserte dies das Ergebnis. In einer Studie über die Behandlung benachteiligter Menschen, die in Regel weniger mit der Kultur der Psychotherapie vertraut sind, verbesserten sich zwei Drittel, wenn Therapeut und Patient eine solche Vorbereitung erfahren hatten. Wenn nur der Patient oder der Therapeut entsprechend vorbereitet wurde, sank die Quote auf die Hälfte und bei Fehlen der Maßnahme auf ein Drittel. Bei McHugh gehört ein solches Gespräch zur handwerklichen Standardvorgehensweise. ([2], S. 45, [4])

Wer ist für Placebos empfänglich?

Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Empfänglichkeit für Placebobehandlungen stark von Aspekten der unmittelbaren Situation abhängt, und weniger von dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. im Sinne der Big Five). In einer Studie von Frank ([2], S.144) wurde ein Teil der psychoneurotischen Patienten mit Placebos behandelt. Im Mittel ergab sich eine deutliche Verbesserung. Bei einigen hatte sich drei Jahre später ein Rückfall eingestellt, worauf hin die Behandlung wiederholt wurde. Die mittlere Verbesserung war wieder so groß wie beim ersten Mal, es gab jedoch keinen nennenswerten Zusammenhang zwischen der aktuellen Empfänglichkeit der Patienten für die Placebobehandlung (d.h. dem Ausmaß der erreichten Verbesserung) und der von vor drei Jahren.

Es gibt aber wohl einen Zusammenhang mit dem, was in der Literatur „locus of control“ (Kontrollüberzeugung) genannt wird. Menschen, die meinen, ihr Schicksal hänge vorwiegend von ihnen selbst ab, sprechen deutlich schlechter auf Placebobehandlungen an, als Menschen, die sich eher von durch von ihnen nicht kontrollierbare äußere Einflüsse bestimmt fühlen. ([2], S. 170)

Die Studie des National Institute of Mental Health (NIMH)

(„Nationales Institut für geistige Gesundheit“, öffentl. US-Einrichtung)

Eine weitere Möglichkeit, ein Analogon für eine Placebogruppe zu konstruieren, verfolgte die bekannteste, ambitionierteste und wichtigste Studie zur Effektivität von Psychotherapie, eine NIMH-Studie über die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsansätze bei Depressionen [5]. Der Hauptzweck bestand in einem Vergleich von interpersonaler Therapie und kognitiver Verhaltenstherapie. Als Vergleichsgruppen dienten eine Gruppe, die mit trizyklischen Antidepressiva behandelt wurde und eine weitere, die stattdessen ein Placebo bekam. 239 Patienten wurden nach einem Zufallsverfahren auf diese vier Gruppen aufgeteilt. 28 Therapeuten nahmen teil. Nach einer 16-wöchigen Behandlungszeit hatte sich der Zustand der Teilnehmer aller Gruppen nach allen der angelegten Kriterien verbessert. Dabei verbesserte sich die Medikamentengruppe am schnellsten. Bei Nachuntersuchungen nach 6, 12 und 18 Monaten wurden kaum Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt: „Obwohl es eine signifikante Verbesserung zwischen der Zeit vor und nach der Behandlung gab, fanden sich überraschend geringe Unterschiede zwischen den Behandlungsregimen bei Beendigung.“

Das Fehlen von Unterschieden lag dabei weniger an einem schlechten Abschneiden der Therapiegruppen, als an dem guten Ergebnis der Placebogruppe. Die Mitglieder der Placebogruppe hatten im Übrigen die niedrigste Rückfallquote.

Es gab jedoch deutliche Unterschiede in der Wirksamkeit in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung. Bei schwer Erkrankten war die medikamentöse Behandlung klar besser und das Placebo klar schlechter. Die Psychotherapien lagen etwa in der Mitte dazwischen. Weniger schwer Erkrankte sprachen auf alle Behandlungen gleich gut an, inklusive Placebos. Die relative Vorteilhaftigkeit medikamentöser Behandlung bei schweren Depressionen fand sich auch in vielen anderen Studien.

Die gefundenen Unterschiede gehen vermutlich auf die höhere Anfangswirksamkeit der Psychotherapien und insbesondere des Antidepressivums zurück. Bei den Patienten, die die Behandlung beendet hatten, waren die Unterschiede der Placebogruppe zu den anderen Gruppen praktisch vernachlässigbar. Je mehr Frühabbrecher einbezogen wurden, desto schlechter war die Placebogruppe im Vergleich.

Die Erfolgsquote nach der Behandlung lag bei den Therapiegruppen zwischen 51 und 70%. Die Quote war dabei von dem verwandten Kriterium für „Erfolg“ abhängig. Bei der Placebogruppe lag sie etwas niedriger, bei 29 bzw. 51%. Die erreichten Durchschnittswerte für den Zustand der Patienten nach der Behandlung unterschieden sich in der Placebogruppe jedoch praktisch nicht von den Therapiegruppen.([5],S. 201 ff., [6])

Weitere Metastudien

Lambert und Bergins Zusammenfassung verschiedener Metastudien [7] ergab ebenfalls keinen nennenswerten Vorteil von Psychotherapie gegenüber Placebos bei nicht zu schweren Fällen: dem typischen Psychotherapiepatienten geht es in 79% der Fälle besser als jemandem ohne Behandlung, bei Placebobehandelten lag die Quote bei 66%.[5]

Die „optimistische“ Sicht

Verfechter der These, Psychotherapien seien besser als Placebos, interpretieren derartige Ergebnisse jedoch „optimistischer“. Ihrer Ansicht nach zeigen sie, dass echte Therapien deutlich besser wirksam sind als Placebobehandlungen oder allgemeine unterstützende Maßnahmen. (Einige Details zu diesen Interpretationsfragen lest ihr im nächsten Beitrag.) So kommt Lambert auch zu dem Schluss, dass Psychotherapie bei 75% der Fälle hilfreich ist. 75% „gesunden“ sogar wieder, dies aber erst nach 55 Sitzungen. Nach 20 Sitzungen kam er auf eine Wirksamkeit von 50% (Wir erinnern uns: bei der NIMH Studie von oben erreichte die Placebogruppe je nach Kriterium für „Gesundung“ eine Wirksamkeit von 29 bzw. 51% nach durchschnittlich 16,2 Sitzungen und unterschied sich im Mittelwert der Verbesserung nicht von „echten“Therapien.).

Die von Lambert beobachtete höhere Wirksamkeit bei langer Behandlungsdauer könnte auch auf einen Regressionseffekt zurückzuführen sein (s. Teil 2). Denn die durchschnittliche Dauer derartiger Krankheitsepisoden (Depressionen und Angsterkrankungen) beträgt nach Schätzungen aufgrund epidemiologischer Daten [8] [9] etwa zwischen ein und zwei Jahren. Wenn man bedenkt, dass die Betroffenen erst nach einer gewissen Zeit um professionelle Hilfe nachsuchen und diese meist erst nach einer gewissen Wartezeit auch erhalten, spricht hier viel für einen signifikanten Regressionseffekt. Das erklärt auch zumindest teilweise die immer wieder gefundene höhere Wirksamkeit von Langzeittherapien gegenüber kürzer dauernden Interventionen (jüngst z.B. wieder in).

Die offizielle Sicht der von den US NIMH geförderten Initiative Therapyadvisor für evidenzbasierte Therapien ist:. Darstellung Demnach liegt die Wirksamkeit von Therapien bei 75%, von Placebos bei 40% und ganz ohne Behandlung ist man bei ca. 18% Verbesserung (über die empirischen Grundlagen dieser Statistik findet man dort leider keine nachvollziehbaren Hinweise).

Die Qualifikation der Therapeuten spielt kaum eine Rolle…

Darüber hinaus spielt auch die Erfahrung und Ausbildung des Therapeuten praktisch keine Rolle: professionelles Training hat nur einen geringen Einfluss auf die Behandlungsergebnisse.

Smith, Glass und Miller [11] fanden in ihrer Übersichtsuntersuchung, dass Therapeuten mit Ph.D. oder M.D. bzw. ohne weiterführende Titel vergleichbare Ergebnisse produzierten. Eine andere umfassende Studie [12] fand ebenfalls keine derartigen Zusammenhänge. Professionell ausgebildete Therapeuten und Paraprofessionelle bzw. Laientherapeuten erzielten vergleichbare Erfolge. Weitere Studien von Hattie et.al. [13] sowie die Metaanalyse von Reinecker et.al. [14] erhärten das Ergebnis.

Es gibt jedoch Therapeuten, die systematisch erfolgreicher sind als andere, d.h. „bessere“ und „schlechtere“. Dies hat jedoch wenig mit der Ausbildung zu tun.

…aber das Vertrauen

Abschließend sei noch eine Studie zitiert, die erkennen lässt, wie die Reaktion auf ein Placebo von dem Vertrauen in den behandelnden Arzt abhängt ([2], S. 145,[10]). Dabei gab man einem Teil der Patienten („Psychoneurotiker“) Pillen-Placebos als Behandlung und sagte ihnen ausdrücklich, worum es sich dabei handelte. Die genauen Instruktionen lauteten: „Vielen Leuten mit ihrer Erkrankung wurde mit etwas geholfen, was man manchmal Zuckerpillen nennt, und wir glauben, dass auch Ihnen eine sogenannte Zuckerpille helfen könnte. Wissen Sie, was eine Zuckerpille ist? Eine Zuckerpille ist eine Pille, in der überhaupt kein Medikament drin ist. Ich denke, diese Pille wird Ihnen helfen, wie sie schon so vielen anderen geholfen hat. Wollen Sie diese Pille ausprobieren?“

Den Patienten wurde gesagt, sie sollten die Pille dreimal täglich über eine Woche nehmen. Danach würde dann eine endgültige Empfehlung für eine Behandlung gegeben. Von den vierzehn Patienten, die wiederkamen (der fünfzehnte wurde von dem Spott seines Ehepartners über die inaktive Pille davon abgebracht) berichteten alle über Verbesserungen.

Das mag zum Teil auf das Versprechen einer speziellen Behandlung nach einer Woche zurückzuführen sein. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die, die sich sicher waren, ein Placebo bzw. ein Medikament zu nehmen, über eine größere Verbesserung berichteten, als die, die Zweifel hatten. Die, die sich in der einen oder anderen Richtung sicher waren, knüpften ihre Sicherheit an ihre Überzeugung, dass der Arzt ihnen damit helfen wollte. Ähnliche Ergebnisse existieren auch für klassisch medizinische und chirurgische Behandlungen.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 21. Juli 2009

Teil I, II, III und IV sowie weitere Artikel zum Thema:

Literatur:

[1] Luborski, L. (1976). Helping Alliances in Psychotherapy in: Claghorn J. L., Successful Psychotherapy, S. 92-118. Brunner/Mazel.

[2] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins Univesity Press.

[3] Lazarus, A.A. (1973). „Hypnosis“ as a Factor in Behavior Therapy, Int. J. Exp. Hypn. 21:25-31.

[4] Jacobs et. al. (1972). Preparation for treatment of the disadvantaged patient: Effects on disposition and outcome, Amer. J. Orthopsychiatry 42:666-74.

[5] Horwitz, Allen V. (2002), Creating Mental Illness, University of Chicago Press.

[6] Elkin et. al. (1989). NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: General Effectiveness of Treatment, Archives of General Psychiatry 46:971-82.

[7] Lambert & Bergin (1994). The Effectiveness of Psychotherapy, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4th ed., ed. Bergin & Garfield, 143-190, John Wiley & Sons.

[8] Shepherd & Gruenberg (1957). The Age of Neuroses, Millbank Memorial Fund Quarterly 35: 258-65.

[9] Ingram & Smith, Mood Disorders, in: Maddux & Winstead (ed.) (2008). Psychopathology, Routledge/Taylor &Francis.

[10] Park & Covi (1965). Non-blind Placebo Trial: An Exploration of Neurotic Patients – Responses to Placebo when its inert Content is Disclosed, Archives of General Psychiatry 12:336-45.

[11] Smith, Glass, Miller (1980). The Benefits of Psychotherapy, Jons Hopkins University Press.

[12] Berman, Norton (1985). Does Professional Training Make a Therapist More Effective?, Psychological Bulletin 98:401-7.

[13] Hattie, J. A., et al. (1984): Comparative effectiveness of professional and paraprofessional helpers. Psychological Bulletin, Vol. 95, 534-541.

[14] Hans Reinecker in: Jürgen Margraf, Silvia Schneider (Hg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie: 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen, Springer, 2008, S. 95.

MCS – Multiple Chemical Sensitivity im Römpp Nachschlagwerk Chemie

Multiple Chemical Sensitivity in Fachbuch Chemie

Den RÖMPP kennt jeder, er ist das Nachschlagewerk zur Chemie schlechthin. In der aktuellen Version wurde die Erkrankung „Multiple Chemical Sensitivity“ und der in Deutschland ebenfalls häufig synonym gebräuchliche Begriff „Multiple Chemikalienüberempfindlichkeit“ als Stichworte aufgenommen.

Das renommierte Nachschlagwerk der Chemie wurde 1947 von Dr. Hermann Römpp gegründet. Anfangs bestand der Römpp aus einem einbändigen Chemie-Lexikon, das von der Franckh’schen Verlagshandlung in Stuttgart vertrieben wurde. Heute erscheint der Römpp im Thieme Verlag und gilt als die renommierteste und umfangreichste Enzyklopädie zur Chemie und den angrenzenden Wissenschaften in deutscher Sprache.

Das größte deutschsprachige Chemie-Lexikon wird kontinuierlich weiterentwickelt und ist wissenschaftlich und technisch stets auf dem neuesten Stand. Das Nachschlagwerk gilt als wissenschaftlich gesichert, da es von Experten auf dem Gebiet zusammen mit der hochqualifizierten Römpp-Redaktion erstellt wird.

Römpp hat im renommierten Nachschlagwerk Chemie im Fachgebiet Umwelt- und Verfahrenstechnologie folgende Krankheitsbegriffe neu aufgenommen:

  • Multiple Chemical Sensitivity
  • Multiple Chemikalienüberempfindlichkeit

Die Aufnahme des Stichwortes „Multiple Chemical Sensitivity“ im Römpp verdeutlicht, dass die Erkrankung in Fachkreisen bekannt ist und ernst genommen wird.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 19. Juli 2009

Literatur:

Römpp, Stichwort Multiple Chemical Sensitivity, Enzyklopädie Chemie im Fachgebiet Umwelt- und Verfahrenstechnologie, 2009