Der wissenschaftliche Sachstand über Chemikalien-Sensitivität legt deutlich dar, dass die Erkrankung nicht psychisch bedingt sein kann. Trotzdem tauchen immer wieder Zitate aus Studien auf, die herausgefunden haben wollen, dass die Ursache der Erkrankung in der Psyche zu suchen sei. Diese Aussagen werden gerne benutzt, um Chemikaliensensible um ihr Recht bei Prozessen und ihre Ansprüche auf Therapie oder Entschädigung zu prellen. Ann Davidoff nahm häufig zitierte MCS „Psycho Studien“ unter die Lupe und musste feststellen, dass kaum eine davon das Papier wert ist, auf dem sie gedruckt ist.
MCS „Psycho Studien“ dienen oft der Ursachenvertuschung und Abwehr von Schadensersatzansprüchen gegenüber Verursachern
Ann L. Davidoff untersuchte eine Auswahl der vorhandenen Literatur über Chemikalien-Sensitivität, die eine psychogene Ursache für diese Erkrankung (MCS) postuliert [1]. Ziel ihrer Recherche war, zu ermitteln, ob diese Studien den Maßstäben der Wissenschaft tatsächlich Genüge tragen.
Studienmängel an der Tagesordnung
Davidoff findet bei ihrer Untersuchung von 10 Studien über MCS, die einen psychiatrischen Hintergrund der Erkrankung favorisieren, ernste methodologische Fehler hinsichtlich der Auswahl des Patientenkollektivs, den eingesetzten Messverfahren, sowie dem Studiendesign. Angesichts dieser Mängel hätten nur sehr vorsichtige Schlüsse aus den Studien gezogen werden dürfen. Acht von zehn Studien legten jedoch „überwiegend sogar explizit“ nahe, dass die Hypothese einer psychogenen Erkrankung von den erhobenen Daten gestützt werde.
Gründe ersichtlich
Davidoff identifiziert vier Gründe dafür, dass eine vergleichsweise nur spärlich untersuchte Erkrankung von unbekannter Ätiologie der medizinischen Gemeinschaft als psychogene emotionale Erkrankung erscheint.Die Tatsache, dass Depressionen, Angstzustände und seelische Not weit verbreitete medizinische Tatbestände sind, wird nicht ausreichend beachtet. Chronische Erkrankungen werden allgemein meist von psychiatrischen Folgeerkrankungen wie Depression, Angst, Erschöpfung und seelischer Not begleitet. Der Zusammenhang ist so stark, dass psychologische und psychiatrische Test- und Interviewdaten allein nicht zwischen psychiatrisch und anderweitig erkrankten Patienten mit gut dokumentierten körperlichen Erkrankungen unterscheiden können. Diese Verbindung zwischen körperlich-medizinischen Erkrankungen und psychiatrischen Folgeerkrankungen sollte nach Ansicht von Davidoff besser beachtet werden.
Fehlinterpretation an der Tagesordnung
Allein das Vorhandensein von seelischer Not, neuropsychiatrischen Symptomen (Depression, Angst, Anspannung, etc.) oder von psychiatrischen Diagnosen wird häufig dahingehend fehlinterpretiert, dass diese von einer emotionalen Störung psychogenen Ursprungs herrühren. Gemäß dem Konsens der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (American Psychiatric Association) sind psychiatrische Diagnosen jedoch rein deskriptive Entitäten, die Anzeichen und Symptome klassifizieren, ohne sie zu erklären. Mit anderen Worten, psychiatrische Diagnosen sind grundsätzlich „unspezifisch“ hinsichtlich ihrer Ätiologie.
Sinn und Zweck unklar
Die Begrenzungen psychometrischer Daten, die mit Hilfe von psychiatrischen/psychologischen Tests gewonnen wurden, sind nach Auffassung von Davidoff nicht allgemein bekannt. Es scheint in der medizinischen Gemeinde ein falsches Verständnis der Bedeutung psychometrischer Daten zu geben. Psychometrische Daten sind nicht mit Ergebnissen aus einem medizinischen Labor vergleichbar. Die Interpretation psychometrischer Testergebnisse basiert auf einem Vergleich des Testteilnehmers mit einem als normativ angesehenen Kollektivs, das typischerweise aus medizinisch gesunden Menschen besteht. Bestenfalls liefern psychometrische Daten Informationen über Symptome, Charakterzüge, Emotionen, Überzeugungen, Haltungen, Erinnerungen, Urteile und dergleichen. Sie haben nicht den Zweck, die Ursachen dieser Charakteristiken und Zustände zu enthüllen, und können dies auch gar nicht.
Gewöhnliches als Ungewöhnliches interpretiert
Davidoff fährt damit fort, dass einige Ärzte annehmen, dass Erkrankungen mit psychischem Ursprung sich von solchen mit organischem Ursprung durch Phänomene wie dem Auftreten von „sekundärem Gewinn“, Besserung durch Suggestion, das Vorhandensein von Symptomen in multiplen Organsystemen und selektive Fokussierung auf die Krankheit unterscheiden. Diese Phänomene scheinen jedoch auch bei Krankheiten mit bekannten organischen Ursachen verbreitet zu sein. Sekundärer Gewinn ist definiert als das bewusste oder unbewusste Benutzen von Symptomen für externe Vorteile (z.B. das Vermeiden von schädlichen Aktivitäten, das Gewinnen von Unterstützung, die sonst verweigert worden wäre). Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Versuch, von einer Erkrankung zu profitieren, nur bei psychisch kranken Individuen auftritt.
Mangelnde Sachkenntnis
Weiter sind Untersuchungen bez. sekundärem Gewinn anfällig für Verzerrungen und Unsicherheiten, da das Konstrukt nicht objektiv gemessen werden kann und da das Urteil von Spezialisten dazu tendiert, auf informalen Querschnittsbeobachtungen und Schlüssen zu beruhen – ohne Information über die körperliche und geistige Krankengeschichte des Patienten und dessen gewohnheitsmäßige Strategie, mit einem Problem zurecht zu kommen.Laut Davidoff werden Erkrankungen, die sich durch Suggestion oder Unterstützung bessern, manchmal für größtenteils psychogen gehalten. Aber Suggestion und Unterstützung können für Menschen mit körperlichen Erkrankungen sehr hilfreich sein. Ungefähr 35 von 100 Personen, die Placebos bekommen, berichten über eine Besserung, die manchmal sogar sehr deutlich ausfallen kann.
Was war vorher? Henne oder Ei?
Davidoff fährt mit der Feststellung fort, dass das Berichten von Symptomen in multiplen Organsystemen ohne sichtbare Anzeichen oder Befunde bei Standartlabortests kein Hinweis auf eine psychische Ursache ist. Davidoff schreibt weiter: Wenige Forscher würden leugnen, dass bei Individuen mit MCS gewöhnlich, aber nicht immer, psychiatrische Symptome (wie Depression, Angst, Gedächtnisprobleme, und überwältigende Erschöpfung) beobachtet werden. Was kontrovers ist, ist die Natur, das Timing und der Ursprung dieser Symptome, die durch mindestens sechs konkurrierende Hypothesen plausibel erklärt werden können:
1. Der psychopathologische Zustand bestand schon vor dem Beginn der MCS und trägt zu demselben bei (MCS als emotionale Störung aufgefasst).
2. Psychiatrische Befunde sind ein Korrelat von Risikofaktoren für MCS. Schlechte Stimmung und Müdigkeit können z.B. Korrelate einer biologischen Disposition sein, die darüber hinaus auch zu MCS führen kann.
3. Psychiatrische Befunde repräsentieren frühe präklinische Manifestationen von MCS. MCS wird hierbei als eine physiologische Erkrankung verstanden, die sich oft allmählich über längere Zeit nach wiederholten Expositionen gegenüber Umweltnoxen entwickelt.
4. Psychiatrische Symptome stellen die subjektive Komponente bestimmter neurophysiologischer Reaktionen auf auslösende Umweltnoxen dar und beginnen erst nach Einsetzen der MCS.
5. Psychiatrische Charakteristiken stellen vorübergehende oder bleibende psychosoziale Konsequenzen einer Krankheitsauslösenden Exposition und/oder einer chronischen, verwirrenden, lähmenden, isolierenden und stigmatisierenden Erkrankung dar.
6. MCS ist eine emotionale Störung, die sich oft bei Stress, wie er mit bestimmten Formen von Umweltexpositionen assoziiert ist, verschlimmert. Eine psychiatrische Vorgeschichte wird nicht verlangt.
Kombinationswirkung außer Acht gelassen
Die Hypothesen 1 und 6 gehen davon aus, dass das MCS eine emotionale Störung ist, verstärkt durch Stress oder Expositionen aus der Umwelt, bei einem Patienten mit oder ohne prädisponierender Psychopathologie. Die Hypothesen 2 bis 5 betrachten MCS als eine physiologische Erkrankung. Die psychiatrischen Charakteristiken werden als Korrelate oder Folgen dieser Erkrankung aufgefasst. Diese Hypothesen schließen sich nicht gegenseitig aus. MCS könnte eine Kombination miteinander nicht in Beziehung stehender Erkrankungen mit unterschiedlichen Ursachen sein.
Objektive Wissenschaft braucht wasserdichtes Studiendesign
Davidoff fordert abschließend: Wenn das Verständnis der Ursachen für die beim MCS beobachteten psychiatrischen Merkmale vorangebracht werden soll, oder bei irgend einer anderen Erkrankung unbekannter Ätiologie, muss das Studiendesign so angelegt sein, dass zwischen konkurrierenden Hypothesen über die Ursachen der psychiatrischen Merkmale differenziert werden kann.
Schlussfolgerung: Prävention und Behandlung setzen derartige, wirklich objektiv durchgeführte Studien voraus.
Autoren: Karlheinz, Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, Mai 2008
Literatur: [1] Davidoff AL, Fogarty L. Psychogenic origins of Multiple Chemical Sensitivities Syndrome: a critical review of the research literature. Arch Environ Health, 1994; 49:316-25.
(*) Die Reliabilität gibt die Zuverlässigkeit einer Meßmethode an. Ein Test wird dann als reliabel bezeichnet, wenn er bei einer Wiederholung der Messung unter denselben Bedingungen und an denselben Gegenständen zu demselben Ergebnis kommt. Sie lässt sich u.a. durch eine Testwiederholung (Retest-Methode) oder einen anderen, gleichwertigen Test ermitteln (Paralleltest). Das Maß ist der Reliabilitätskoeffizient und definiert sich aus der Korrelation der beiden Testungen. Bildlich: Wenn man mit einer Kanone ein Ziel anvisiert und die Kanonenkugeln zwar nicht das Ziel treffen, aber immer an der gleichen Stelle einschlagen, dann besitzt das Instrumentarium eine hohe Reliabilität. (Textexperiment)