Chemikalien-Sensitivität ist kein Buch mit sieben Siegeln
Gutes Studiendesign und Fleißarbeit schaffen Fakten
Die wohl aufschlussreichsten Studien über das Leben mit Chemikalien-Sensitivität (MCS – WHO ICD-10 T78.4) und die Auswirkungen der weit verbreiteten Krankheit wurden von den Wissenschaftlern Caress und Steineman von der State University of West Georgia durchgeführt.Das Forscherteam stellte fest unter welcher Symptomatik die Erkrankten leiden, wie lange ihre Reaktionen auf Spuren von Alltagschemikalien im Schnitt anhalten, durch was sie am Häufigsten ausgelöst werden und welche Auswirkungen die Krankheit hat. Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit Angaben, die deutsche Chemikaliensensible berichten. Die Studien widerlegen die Behauptung, dass Chemikalien-Sensitivität eine diffuse, auf keiner Ebene zu packende Krankheit ist.
Studiendesign und Epidemiologie – Erste Phase
Das Wissenschaftlerteam Caress und Steineman stellten sich für seine hervorragend strukturierte zweigeteilte Studie verschiedene Aufgaben. Die erste Phase bestand aus dem Abfragen einer Gruppe von 1582 zufällig ausgewählten Personen aus dem Ballungsgebiet von Atlanta, Georgia, um festzustellen, ob bei ihnen eine Hypersensibilität auf Chemikalien vorliegt. In dieser Phase berichteten 12,6% der Befragten über eine Hypersensibilität auf Alltagschemikalien. 3,1% der Teilnehmer berichteten, dass sie eine medizinische Diagnose einer Umwelterkrankung oder MCS von einem Arzt hatten.
Ursache und Auswirkung – Zweite Phase
Die zweite Phase der Studie bestand in einer ausführlichen weiterführenden Befragung der Personen, die eingangs über eine Hypersensibilität berichtet hatten. Die Wissenschaftler überprüften die potentielle Verbindung zwischen Beginn der Reaktionen und spezifischen chemischen Stoffen, Verbindungen zu anderen Krankheiten, potentielle Triggerstoffe, sowie Veränderungen des Lebensstils von hypersensiblen Personen. Von den Personen, die berichteten, dass sie ungewöhnlich sensibel auf Alltagschemikalien sind, konnten 42,7% die ursprüngliche Ursache (Auslöser) der Hypersensibilität angeben. Ein signifikanter Prozentsatz von 27,5% berichtete, dass die Hypersensibilität nach einer Pestizidexposition eintrat. Mit dem gleichen Prozentsatz von 27,5% wurden Lösemittel als Verursacher angegeben.
Verlust des Arbeitsplatzes durch Chemikalien-Sensitivität
Von den Studienteilnehmern, die über eine Hypersensibilität gegenüber Chemikalien berichteten, wurden nur 45,1% medizinisch behandelt. Die Mehrheit der Befragten gab an, zuhause einige Vorsichtsmaßnahmen aufgrund ihrer Hypersensibilität vorzunehmen. Etwas weniger als ein Drittel (29,9%) gaben an, dass ihre Hypersensibilität es schwierig macht, in normaler Art und Weise in Geschäften einzukaufen. Außerdem verloren 13,5% der Teilnehmer ihren Arbeitsplatz, weil ihre Hypersensibilität gegenüber Alltagschemikalien sie von einer adäquaten Funktionsweise an ihrem Arbeitsplatz abhielt. Umgerechnet auf die gesamte US Bevölkerung, rund 290 Millionen Menschen, bedeutet die Studie, dass rund 36,5 Millionen Amerikaner an MCS leiden, und mehr als 5,2 Millionen deshalb ihren Job verlieren können.
Beginn der Chemikalien-Sensitivität
Das Ergebnis der zweiten Phase der Studie legte dar, dass jüngere Teilnehmer eher an Chemikaliensensibilität erkranken als Ältere. Der Beginn der Chemikalien-Sensitivität lag bei den meisten Teilnehmern in der produktivsten Zeit des Lebens, zwischen dem 20. und 36. Lebensjahr.
- vor dem 20. Lebensjahr – 32.4%
- vom 21.-36. Lebensjahr – 35,2%
- vom 26.-50. Lebensjahr – 14,8%
- nach dem 50. Lebensjahr – 9,7%
Ursprünglicher Auslöser der Chemikalien-Sensitivität
Bei der Angabe des initialen Auslösers ihrer Chemikaliensensibilität konnte die Mehrzahl der Teilnehmer exakte Angaben machen. Pestizide und Lösemittel zählten zu den Hauptauslösern der Hypersensibilität.
- 27,5% Pestizide
- 27,5% Lösemittel oder schwere Reinigungsmittel
- 17,4% Baumaterialien
- 15,9% Benzin oder Erdölprodukte
Auslöser für Reaktionen
Bei Fragen nach den Reaktionsauslösern bei Chemikaliensensiblen zeichnete sich ein klares Bild ab. Die Mehrzahl reagierte auf Substanzen, denen wir in unserem Alltagsleben ständig begegnen. Dies erklärt auch, dass manche Betroffenen ihre Arbeit nicht mehr ausführen können.
- 88,4% Reinigungsmittel
- 81,2% Pestizide
- 81,2% Parfüm
- 72,5% Autoabgase
- 60,9% Friseursalons
- 53,6% neuer Teppichboden
- 39,1% neue Möbel
- 39,1% Chlor im Trinkwasser
- 26,1% Druckfarbe
Reaktion auf Chemikalien können direkt eintreten
Die Mehrzahl der Chemikaliensensiblen reagiert direkt nach Exposition gegenüber einem Auslöser. Bei sehr wenigen Betroffenen trat die Reaktion über einen längeren Zeitraum verzögert ein.
- 42% reagierten direkt nach Exposition
- 24,6% reagierten innerhalb ca. einer Stunde
- 5,8% reagierten erst nach Stunden
- 26,1% reagierten unterschiedlich, abhängig von der Art der Exposition
- 1,4% waren sich nicht sicher
Dauer der Reaktion auf Alltagschemikalien
Die Dauer der Reaktionen auf Chemikalien der verschiedenen Teilnehmer variierte stark.
- 47,8% reagierten über Stunden
- 40,6% reagierten über mehrere Tage
- 11,6% reagierten über Wochen
Symptomatik der Reaktion
Es wurde offensichtlich, dass die Betroffenen unterschiedlich reagieren und verschiedene Maßnahmen als Hilfe gegen die Reaktionen ergreifen müssen. Fast alle Teilnehmer reagierten jedoch mit neurologischen Beschwerden auf minimalen Kontakt mit Alltagschemikalien.
- 88,4% reagierten mit Kopfschmerzen
- 76,8% reagierten mit brennenden Augen
- 59,4% reagierten mit asthmaartigen Beschwerden
- 55,1% reagierten mit Magenbeschwerden/Übelkeit
- 50,7% reagierten mit mehreren Symptomen
- 46,4% reagierten mit Schwindel
- 31,9% reagierten mit Konzentrationsverlust
- 30,4% reagierten mit Muskelschmerzen
- 17,4% reagierten mit Fieber
- 7,2% verloren das Bewusstsein
Art der Reaktion fast immer gleich
Beim Großteil der Studienteilnehmer lief die Reaktion auf Chemikalien, auf die sie reagieren, immer gleich ab.
- 68,1% reagierten immer gleich
- 18,8% reagierten meistens auf die gleiche Art
- 8,7% reagierten meist ähnlich
- 2,9% reagierten nie oder selten auf die gleiche Art
- 1,4% waren sich nicht sicher
Zusammenhang mit anderen Krankheiten
Die Wissenschaftler untersuchten auch den Zusammenhang von Chemikaliensensibilität zu anderen Krankheiten und kamen zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Teilnehmer (53,6%) unter anderen Krankheiten, die mit der MCS in Zusammenhang standen, litt.
- 26,1% Gastrointestinale Beschwerden
- 21,7% Fibromyalgie
- 18,8% CFS oder andere Immunsystemstörungen
- 27,5% andere Krankheiten
- 73,9% Allergien gegenüber natürlichen Substanzen
- 65,2% Pollenallergien
- 52,2% Reaktionen auf Tierhaare
- 55,1% Allergien gegenüber Hausstaub und Hausstaubmilben
- 3, 0% Reaktionen auf Schimmelpilze
- 44,9% Reaktionen auf andere natürliche Allergene
Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen oder psychogene Ursache
Da in wissenschaftlich nicht begründeten Berichten immer wieder darauf verwiesen wird, Chemikaliensensibilität sei eine psychogene Erkrankung, hielten es die Wissenschaftler der University of Georgia für besonders wichtig, diesen Aspekt gründlich abzuklären. Das Ergebnis zeigte, dass nur 1,4% der Studienteilnehmer über Depressionen, Angstzustände oder andere emotionale Probleme berichteten, bevor ihre Symptome auf Alltagschemikalien anfingen. 37,7% der Befragten gaben jedoch an, dass sich psychische Beschwerden nach Krankheitsbeginn manifestierten.
Der Unterschied zwischen psychischen Symptomen vor und nach Beginn der Erkrankung, schwächt die Behauptung MCS sei psychogen oder Hypersensibilität auf Alltagschemikalien ein Produkt emotionaler Störungen, erheblich. Die Ergebnisse zeigen vielmehr, dass körperliche Beschwerden zuerst eintreten und emotionale Probleme sich erst in Folge einstellen. Es ist plausibel, dass die Hypersensibilität auf Alltagschemikalien so zerstörend wirken kann, dass sie beträchtlichen mentalen Stress, aufgrund des Versuchs des Betroffenen, mit den limitierenden Umständen umzugehen, verursacht.
Eine weitere Erklärung der Wissenschaftler ist, dass toxische Substanzen das Gehirn in den Funktionen, die mit Gemüt und Emotion zusammenhängen, beeinträchtigen könnten. Die Erforschung dieses Bereichs fordern verschiedene Wissenschaftler schon seit längerem.
Umstellung im täglichen Leben durch Chemikaliensensibilität
Da Chemikaliensensible auslösende Substanzen meiden müssen, um symptomfrei zu bleiben, verlangt dies zahlreiche Umstellungen in ihrem Alltag und täglichen Leben von ihnen. Einige der Teilnehmer mussten den Wohnort wechseln, in ein anderes Haus ziehen oder ihr Haus ihren Bedürfnissen entsprechend umbauen.
- 13% Auszug aus dem Haus
- 34,8% Veränderung im Wohnumfeld (Entfernen von Teppichboden / Möbelstücke)
- 76,8% Umstellung von Reinigungs- und Körperpflegemittel, Hygieneartikel
- 15,9% Umstellung von Gasversorgung auf Elektroversorgung.
- 33,3% anderweitige Veränderungen im Haus
- 47,8% Installierung von Luft- und Wasserfiltern
Viele Betroffene litten unter gesundheitlicher Beeinträchtigung durch Handlungen Dritter, die sie in ihrem Alltag gesundheitlich schwer beeinträchtigten.
- 39,1% Rauch aus dem offenen Kamin des Nachbarn, Grillrauch
- 33,3% Zigarettenrauch anderer
- 14,5% im Stand laufendes Auto
- 31,9% Pestizid- und Herbizidanwendung des Nachbarn
- 18,8% Verwendung von duftenden Waschmitteln
Zusammenfassendes Ergebnis der Studie der University of Georgia
Die Studie kam zum Ergebnis, dass bis zu 15% der Amerikaner, ca. 5,2 Millionen, eine Hypersensibilität auf bestimmte Chemikalien im Niedrigdosisbereich haben. Dies bestätigt eine erste Aussage über die Häufigkeit von Chemikaliensensibilität durch die NAS – National Academy of Sciences 1981. Bei den meisten Chemikaliensensiblen liegt der Beginn ihrer Erkrankung zwischen dem 20. und 36. Lebensjahr.
Vielen Chemikaliensensiblen war der Auslöser ihrer Erkrankung bekannt. Die häufigsten Auslöser der Chemikaliensensibilität waren Pestizide und Lösemittel. Die Betroffenen reagierten zumeist direkt nach Exposition gegenüber einer Alltagschemikalie. Fast alle Betroffenen reagieren auf Reinigungsmittel, Pestizide und Parfüm mit neurologischen Symptomen wie Kopfschmerzen und Schwindel. Die Reaktion dauert bei fast allen mehrere Stunden bis Tage, bis sie abklingt. 52,2% der Chemikaliensensiblen beurteilten ihre Reaktionen als schwer bis sehr schwer.
Die meisten der Betroffenen leiden zusätzlich unter Allergien auf natürliche Substanzen. Psychische Krankheiten lagen vor Beginn der Erkrankung bei nur extrem wenigen Betroffenen (1,4%) vor, traten aber durch die Schwere der Erkrankung und die Begleitumstände (z.B. durch Verlust des Hauses oder Arbeitsplatzes) im weiteren Verlauf bei über einem Drittel ein.
Chemikaliensensibilität erfordert von schwer Betroffenen, große Umstellungen in ihren Lebensgewohnheiten und große kostenintensive Veränderungen im Wohnumfeld. Fast die Hälfte der Betroffenen benötigt Luft- und Wasserfilter, um beschwerdefrei leben zu können. Ca. 13,5% der Hypersensiblen verlieren aufgrund der MCS ihren Arbeitsplatz. Medizinische Behandlung erhält nicht einmal die Hälfte der Betroffenen.
Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, Juli 2008
Literatur:
- Caress SM, Steinemann AC.,A national population study of the prevalence of multiple chemical sensitivity.Arch Environ Health. 2004 Jun;59(6):300-5.
- Caress SM, Steinemann AC., Prevalence of multiple chemical sensitivities: a population-based study in the southeastern United States.Am J Public Health. 2004 May;94(5):746-7.
- Caress SM, Steinemann AC, Waddick C.Symptomatology and etiology of multiple chemical sensitivities in the southeastern United States.Arch Environ Health. 2002 Sep-Oct;57(5):429-36.