Psychostudien unter der Lupe

Psychostudien unter der Lupe

Die früher genannten Studienergebnisse bei Vergleichen von Psychotherapie mit Placebobehandlungen und Unbehandelten sollen im Folgenden noch etwas genauer betrachtet werden.

Das Beispiel

Als Ausgangs- und Orientierungspunkt soll dabei ein Ergebnis der schon erwähnten NIMH-Studie [1] dienen. Dort ging es um die Behandlung von Depressionen mit verschiedenen Methoden.

Die Hamiltonskala

Zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung und des Behandlungserfolgs werden den Patienten zu Begin und am Ende der Behandlung einige vorgegebene Fragen gestellt und die Antworten dann von den Befragern nach einem Punkteschema bewertet. Dabei wurde eine Version der weit verbreiteten sog. Hamilton-Skala (HRSD) benutzt. Aus den Punkteergebnissen wurde dann jeweils ein Skalenwert ermittelt, der die Schwere der Depression des betreffenden Patienten repräsentieren soll. Höhere Werte stehen dabei für eine schwerere Depression, d.h. niedrigere Werte sind „besser“. Ein Resultat von 15 bis 18 wird als milde bis mittelschwere Depression gewertet. Schwer depressive Patienten erreichen üblicherweise einen Wert von 25 oder mehr.

Die Ergebnisse

Dabei ergaben sich folgende Ergebnisse:

tabelle-1

* Imipramin ist ein trizyklisches Antidepressivum

Die angegebenen Werte sind jeweils die Mittelwerte der einzelnen Gruppen.

Durch die Behandlung mit Psychotherapie verbessern sich die Teilnehmer durchschnittlich um einen Wert I. Erfolgt diese Verbesserung wiederum mit einer gewissen zufälligen Variabilität, wird die Streuung der Ergebnisse dabei größer, d.h. die Standardabweichung wird größer (vgl. obige Tabelle).

Die Standardabweichung „s“ ist ein Maß für die Schwankungsbreite der Ergebnisse in den einzelnen Gruppen. Bei dem Ergebnis m ± s liegen 68,3% der Einzelergebnisse zwischen (m – s) und (m + s). Dabei ist „m“ der Mittelwert. Je kleiner s ist, desto dichter liegen die Einzelergebnisse beisammen.

Die nachfolgende Graphik zeigt die Studienergebnisse (die ersten vier Zeilen der Tabelle) als normalverteilte Wahrscheinlichkeitsdichten. Je höher die Kurve, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in der Gruppe den zugehörigen HRSD-Punktewert hat. Farben wie in der Tabelle.

Tabelle 2

Die Effektstärke

Um die Ergebnisse verschiedener Studien vergleichen zu können, verwendet man häufig die sogenannte Effektstärke (meist mit „d“ oder „ES“ abgekürzt) , die je nach beabsichtigter Genauigkeit oder Perspektive auf verschiedene Weise berechnet werden kann.

Im einfachsten Fall nimmt man d = (m1-m2)/s2 (Glass’s Delta). Dabei ist m1 der von der betrachteten Versuchsgruppe erreichte Mittelwert nach der Behandlung, m2 der von der Kontrollgruppe (hier die Placebogruppe: m2=8,8) erreichte Mittelwert und s2 die Standardabweichung von der Kontrollgruppe (hier s2=5,7).

Im vorliegenden Fall erhält man formal eine negative Effektstärke, wenn die Therapiegruppen besser als die Vergleichsgruppen sind, weil weniger HRSD-Punkte „besser“ sind. Konventionell zählt man die Effektstärke aber in Richtung der „Verbesserung“ positiv. In diesem Fall würde man also d statt d berichten.

Klinische Relevanz der Effektstärke

Nach der Konsensempfehlung des (englischen) Nationalen Instituts für klinische Exzellenz (National Institute for Clinical Excellence (NICE)) sind für einen klinisch relevanten Effekt mindestens 3 Punkte auf der Hamilton-Skala oder alternativ eine Effektstärke von d = 0,5 erforderlich [2].

Bei entsprechend hoher Standardabweichung können die absoluten Unterschiede trotz nicht vorhandener klinischer Relevanz nach dem Kriterium d < 0,5 recht hoch sein. Umgekehrt können die entsprechenden absoluten Unterschiede bei sehr kleiner Standardabweichung trotz klinischer Relevanz gemäß d % 0,5 sehr klein sein. Daher die zusätzliche Forderung, dass der Effekt mindestens 3 Punkte auf der Hamilton-Skala ausmachen muß.

Ein Wert auf der Hamilton-Skala von 6 oder besser wird in Studien oft als Grenzwert genommen, ab dem ein Patient als „geheilt“ gilt.

Die Behandlung ist nicht wirklich besser als das Placebo

Befürworter der Psychotherapie, insbesondere solche, die selber Psychotherapie machen, führen als Beleg für die Effizienz von Psychotherapie gegenüber Placebobehandlungen oder Nichtbehandlung häufig die Ergebnisse der Metastudie von Lambert und Bergin [3] an, in der 15 Metastudien ausgewertet wurden. Dort kam man auf Werte für die Effektstärke von:

„Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“: d = 0,82

„Psychotherapie“ gegenüber „Placebo“: d = 0,48

„Placebo“ gegenüber „keine Behandlung“: d = 0,42

(D.h. für den Fall „Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“: der Unterschied zwischen den Durchschnittsergebnissen für die „Psychotherapie“-Gruppe und die „keine Behandlung“-Gruppe beträgt das 0,82-fache der Standardabweichung der „keine Behandlung“-Gruppe, das sind 0,82×5,7 = 4,7 HRSD-Punkte.)

Der Unterschied zwischen Psychotherapie und Placebo beträgt also nach Effektstärken 0,48 (zweite Zeile).

Nach der oben angegebenen Formel für die Effektstärke d = (m1-m2)/s2 folgt aus dem ersten und dritten Wert jedoch eine Differenz zwischen den Ergebnissen von Psychotherapie und Placebo von nur 0,40 Standardabweichungen der „keine Behandlung“-Gruppe. Der Unterschied rührt möglicherweise daher, dass die Standartabweichung für „keine Behandlung“ größer war als die für „Placebo“. Eine andere bzw. zusätzliche Möglichkeit besteht darin, dass eine leicht abweichende Formel zur Berechnung der Effektstärke verwendet wurde.

Wie auch immer man jedoch rechnet: Die Placebogruppe ist zwar etwas schlechter als die Therapiegruppen, der Unterschied in den erreichten Mittelwerten ist nach dem NICE-Standard jedoch klinisch nicht relevant.

…und der Vorsprung schwindet

Dabei ist weiter zu bedenken, dass wichtige unspezifische Faktoren wie die Überzeugtheit des Therapeuten hinsichtlich seiner Behandlung bei Placebobedingungen nicht vorhanden sind und auch weitere unspezifische Kontextfaktoren fehlen können.([4], S. 46)

„Weinberger [6] ging so weit zu sagen, dass der Unterschied in den verschiedenen Behandlungsformen darin liegt, welche generellen Faktoren [= unspezifische Faktoren] benutzt und welche generellen Faktoren vernachlässigt werden.“([4], S. 82)

Einige Studien haben versucht, den Überzeugungs- bzw. Loyalitätseffekt abzuschätzen. Dabei fand man, wenn der Therapeut von seiner Behandlung überzeugt ist, eine Effektstärke von 0,95. Ist der Therapeut nicht überzeugt, wie bei einer Placebobehandlung anzunehmen, lag die Effektstärke nur bei 0,66.

Bei Gültigkeit der obigen Formel für die Effektstärke, liegt der Unterschied aufgrund des Überzeugungseffekts in den Ergebnissen für das jeweilige Meßinstrument bei 0,29 Standardabweichungen. Die entsprechende Differenz in der oben genannten Studie von Lambert und Bergin lag bei 0,48. D.h. allein dieser Faktor reduziert den Unterschied zwischen Therapie und Placebo auf 0,19 Standardabweichungen (das entspräche in obigem Beispiel ca. 1,1 Punkte auf der Hamilton-Skala) und führt so praktisch zu einem Ausgleich.

In einer anderen Studie von Bergmann et. al. (1985) ([4], S. 59) kam man gar auf einen Überzeugtheitseffekt von 0,65. Ein Effekt in dieser Größe würde den Unterschied zwischen Therapie und Placebo sogar mehr als ausgleichen.

(Weiter unten wird an einer Stelle der Mittelwert von (0,29+0,65)/2 = 0,47 verwendet.)

Weitere Therapeuteneffekte

Auch sind die Erfolgsraten verschiedener Therapeuten systematisch unterschiedlich hoch. Die davon in Studien ausgehenden Effekte führen in Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Therapiemethoden oft zu einer Übertreibung von Unterschieden. Korrigiert man diese Effekte, so verschwinden allfällige Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Therapieformen. Schätzungen kommen auf durch unterschiedlich erfolgreiche Therapeuten bedingte Unterschiede in Ergebnissen von Studien zum Vergleich von Therapiemethoden auf Effektstärken bis zu 0,6 ([4], S. 77) (vermutlich „gute“ gegenüber „schlechte“ Therapeuten). Diese Effektstärke überwiegt wiederum die gefundenen Unterschiede zwischen „echten“ Therapien und „Placebos“. D.h. im Einzelfall kann es wichtiger sein, einen „guten“ Therapeuten zu haben, als eine „echte“ Therapie zu bekommen.

Blatt et.al. kamen in einer Analyse der NIMH-Studie zu dem Ergebnis: „Die Analyse der Daten läßt auf einen existierenden signifikanten Unterschied innerhalb der therapeutischen Wirksamkeit unter Therapeuten schließen, sogar unter den best trainiertesten und erfahrensten Therapeuten in dieser Studie… [Die Unterschiede bestehen] nicht in Abhängigkeit von der allgemeinen klinischen Erfahrung der Therapeuten oder der Erfahrung in der Behandlung von depressiven Menschen. Jedoch werden die Unterschiede in der therapeutischen Wirksamkeit mit der grundsätzlichen klinischen Ausrichtung assoziiert… Die effektivsten Therapeuten hatten in Bezug auf den klinischen Prozeß eher eine psychologische denn eine biologische Orientierung…“ ([4], S. 78)

Luborsky et. al. fanden [5]: „Trotz dieser Schritte, die die Fähigkeiten [der Therapeuten] maximieren sollten und die Unterschiede minimieren, reichte der Range [die Variationsbreite] der prozentualen Verbesserung der Klienten bei den 22 Therapeuten in den sieben Studien von geringfügig negativer Veränderung bis zu 80% Verbesserung.“ ([4], S. 79)

„Die Person des Therapeuten ist offenbar der kritische Faktor, wenn es um den Erfolg einer Therapie geht.“([4], S. 82)

Wie wirksam ist Psychotherapie?

Zur Beurteilung der absoluten Wirksamkeit von Psychotherapien hilft die Effektstärke jedoch nicht weiter. Dazu muß man die absoluten Verbesserungen betrachten.

Aus obiger Tabelle geht hervor, dass die beste Psychotherapie eine mittlere Verbesserung von 12,2 Punkten auf der Hamiltonskala brachte, bei einem Ausgangswert von 19,2. Das ist eine sehr deutliche Verbesserung.

Psychotherapie ist also durchaus wirksam. Die Placebobehandlung erbrachte jedoch eine fast genau so große Verbesserung um 10,3 Punkte bei einem Ausgangswert von 19,1. Der Unterschied von 1,9 Punkten ist klinisch nicht relevant.

Eine Behandlung ohne spezifische Inhalte, die nach gängigen theoretischen Vorstellungen unwirksam sein sollte, bringt also ein fast genauso gutes Ergebnis.

Die Differenz ist praktisch vollständig durch Überzeugtheitseffekte der Therapeuten sowie ggf. weitere Kontexteffekte erklärbar.

Ein hypothetischer Fall

Nun folgt noch ein hypothetischer Vergleich mit dem Fall, dass die NIMH-Studie noch eine weitere der „keine Behandlung“-Bedingung entsprechende Kontrollgruppe gehabt hätte, die statistisch ein im Sinne der Metastudie von Lambert und Bergin repräsentatives Verhalten zeigt.

Aus Lambert und Bergins Ergebnis einer Effektstärke von 0.82 von „Psychotherapie“ gegenüber „keine Behandlung“ ergäbe sich rein rechnerisch nach obiger Formel für die Effektstärke als Ergebnis für den Fall „keine Behandlung“ gegenüber der besten Psychotherapie (Interpersonale Therapie) der Studie immer noch eine Verbesserung um 7,3 Punkte von 18,9 auf 11,6 Punkte (dabei wurde s = 5,7 angenommen).

Die nachfolgende Graphik zeigt das Ergebnis zusammen mit den Studienergebnissen für die Interpersonale Therapie:

Tabelle 3

Es gibt also auch eine nennenswerte Spontanremission.

Sie macht in diesem hypothetischen Fall bei der besten Psychotherapie im Mittel etwa 63% der absoluten Verbesserung auf der Hamilton-Skala aus. Zudem überschreitet die beste Therapie im Vergleich zu dem hypothetischen Fall „keine Behandlung“ die Schwelle von 3 Punkten auf der Hamilton-Skala für klinische Relevanz nur um 1,7 Punkte (dies wie gesagt bei einer Standardabweichung von 5,7).

Das lässt die folgende Interpretation zu:

Fast zwei Drittel der Wirkung von Psychotherapie beruht auf Regressionseffekten bzw. Spontanremission (vgl. Teil 2).

Unter Regressionseffekten und Spontanremission sollen dabei alle Effekte zusammengefasst werden, die nicht aus einer Behandlung oder einer Scheinbehandlung stammen.

Alles in allem ist die Wirksamkeit von Psychotherapie also selbst im Vergleich zu dem „keine Behandlung“-Fall alles andere als beeindruckend. Die Schwelle zur klinischen Relevanz wird im hypothetischen Beispiel gerade so eben überschritten.

Im nächsten Beitrag soll die Interpretation der Effektstärken genauer betrachtet werden.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 28. Juli 2009

Teil I – IV

Teil I: Psychische Beeinträchtigung als Folge von Chemikalien-Sensitivität

Teil II: Die „Lösungen“ der Mainstream Medizin, auch bei MCS Psychotherapie und Psychopharmaka

Teil III: Psychopharmaka: Wirksam? Unwirksam? Schädlich? Placebo?

Teil IV: Psychotherapie – Das größte Placebo des 20. Jahrhunderts?

Weitere Artikel zum Thema

Literatur:

[1] Elkin et. al. (1989). NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: General Effectiveness of Treatment, Archives of General Psychiatry 46:971-82.

[2] National Institute for Clinical Excellence: Depression: management of depression in primary and secondary care. Clinical

practice guideline No 23. London: NICE; 2004.

[3] Lambert & Bergin (1994). The Effectiveness of Psychotherapy, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4th ed., ed. Bergin & Garfield, 143-190, John Wiley & Sons.

[4] Reiband, Nadine (2006). Klient, Therapeut und das unbekannte Dritte, Carl-Auer Verlag.

[5] Luborsky et. al. (1997). The Psychotherapist Matters: Comparison of Outcomes across twenty-two Therapists and seven Patient’s Samples, Clinical Psychology: Science and Practice, 42, 602-11.

[6] Weinberger (1995). Common Factors aren’t so common: The common Factors Dilemma. Clinical Psychology: Science and Practice, 42, 45-69.

Psychotherapie – Die Rolle von Erwartungen

Psychotherapie = Placebo

Häufig genügt es, Hoffnung zu wecken, um Verbesserungen zu bewirken. Luborsky [1] fand in mehreren Studien, dass „die beste Basis für die Voraussage späterer Verbesserungen – die in den ersten Sitzungen geäußerte [Erwartung] schneller positiver Ergebnisse ist“. ([2], S. 107)

Lazarus [3] behandelte Patienten, die eine Hypnose wollten, statt dessen mit einer Standardentspannungstechnik. Die Patienten zeigten eine größere subjektive und objektive Verbesserung, wenn er wo immer möglich statt der Worts „Entspannung“ den Begriff „Hypnose“ gebrauchte.

Die Einstellungen und Erwartungen von Therapeut und Patient können großen Einfluss haben. Um diesen Effekt zu nutzen und Erwartungen zu koordinieren, kann man die Therapie mit einem „role-induction interview“ (ein Gespräch, in dem die gegenseitigen Erwartungen besprochen werden) beginnen. In mehreren Studien verbesserte dies das Ergebnis. In einer Studie über die Behandlung benachteiligter Menschen, die in Regel weniger mit der Kultur der Psychotherapie vertraut sind, verbesserten sich zwei Drittel, wenn Therapeut und Patient eine solche Vorbereitung erfahren hatten. Wenn nur der Patient oder der Therapeut entsprechend vorbereitet wurde, sank die Quote auf die Hälfte und bei Fehlen der Maßnahme auf ein Drittel. Bei McHugh gehört ein solches Gespräch zur handwerklichen Standardvorgehensweise. ([2], S. 45, [4])

Wer ist für Placebos empfänglich?

Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Empfänglichkeit für Placebobehandlungen stark von Aspekten der unmittelbaren Situation abhängt, und weniger von dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. im Sinne der Big Five). In einer Studie von Frank ([2], S.144) wurde ein Teil der psychoneurotischen Patienten mit Placebos behandelt. Im Mittel ergab sich eine deutliche Verbesserung. Bei einigen hatte sich drei Jahre später ein Rückfall eingestellt, worauf hin die Behandlung wiederholt wurde. Die mittlere Verbesserung war wieder so groß wie beim ersten Mal, es gab jedoch keinen nennenswerten Zusammenhang zwischen der aktuellen Empfänglichkeit der Patienten für die Placebobehandlung (d.h. dem Ausmaß der erreichten Verbesserung) und der von vor drei Jahren.

Es gibt aber wohl einen Zusammenhang mit dem, was in der Literatur „locus of control“ (Kontrollüberzeugung) genannt wird. Menschen, die meinen, ihr Schicksal hänge vorwiegend von ihnen selbst ab, sprechen deutlich schlechter auf Placebobehandlungen an, als Menschen, die sich eher von durch von ihnen nicht kontrollierbare äußere Einflüsse bestimmt fühlen. ([2], S. 170)

Die Studie des National Institute of Mental Health (NIMH)

(„Nationales Institut für geistige Gesundheit“, öffentl. US-Einrichtung)

Eine weitere Möglichkeit, ein Analogon für eine Placebogruppe zu konstruieren, verfolgte die bekannteste, ambitionierteste und wichtigste Studie zur Effektivität von Psychotherapie, eine NIMH-Studie über die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsansätze bei Depressionen [5]. Der Hauptzweck bestand in einem Vergleich von interpersonaler Therapie und kognitiver Verhaltenstherapie. Als Vergleichsgruppen dienten eine Gruppe, die mit trizyklischen Antidepressiva behandelt wurde und eine weitere, die stattdessen ein Placebo bekam. 239 Patienten wurden nach einem Zufallsverfahren auf diese vier Gruppen aufgeteilt. 28 Therapeuten nahmen teil. Nach einer 16-wöchigen Behandlungszeit hatte sich der Zustand der Teilnehmer aller Gruppen nach allen der angelegten Kriterien verbessert. Dabei verbesserte sich die Medikamentengruppe am schnellsten. Bei Nachuntersuchungen nach 6, 12 und 18 Monaten wurden kaum Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt: „Obwohl es eine signifikante Verbesserung zwischen der Zeit vor und nach der Behandlung gab, fanden sich überraschend geringe Unterschiede zwischen den Behandlungsregimen bei Beendigung.“

Das Fehlen von Unterschieden lag dabei weniger an einem schlechten Abschneiden der Therapiegruppen, als an dem guten Ergebnis der Placebogruppe. Die Mitglieder der Placebogruppe hatten im Übrigen die niedrigste Rückfallquote.

Es gab jedoch deutliche Unterschiede in der Wirksamkeit in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung. Bei schwer Erkrankten war die medikamentöse Behandlung klar besser und das Placebo klar schlechter. Die Psychotherapien lagen etwa in der Mitte dazwischen. Weniger schwer Erkrankte sprachen auf alle Behandlungen gleich gut an, inklusive Placebos. Die relative Vorteilhaftigkeit medikamentöser Behandlung bei schweren Depressionen fand sich auch in vielen anderen Studien.

Die gefundenen Unterschiede gehen vermutlich auf die höhere Anfangswirksamkeit der Psychotherapien und insbesondere des Antidepressivums zurück. Bei den Patienten, die die Behandlung beendet hatten, waren die Unterschiede der Placebogruppe zu den anderen Gruppen praktisch vernachlässigbar. Je mehr Frühabbrecher einbezogen wurden, desto schlechter war die Placebogruppe im Vergleich.

Die Erfolgsquote nach der Behandlung lag bei den Therapiegruppen zwischen 51 und 70%. Die Quote war dabei von dem verwandten Kriterium für „Erfolg“ abhängig. Bei der Placebogruppe lag sie etwas niedriger, bei 29 bzw. 51%. Die erreichten Durchschnittswerte für den Zustand der Patienten nach der Behandlung unterschieden sich in der Placebogruppe jedoch praktisch nicht von den Therapiegruppen.([5],S. 201 ff., [6])

Weitere Metastudien

Lambert und Bergins Zusammenfassung verschiedener Metastudien [7] ergab ebenfalls keinen nennenswerten Vorteil von Psychotherapie gegenüber Placebos bei nicht zu schweren Fällen: dem typischen Psychotherapiepatienten geht es in 79% der Fälle besser als jemandem ohne Behandlung, bei Placebobehandelten lag die Quote bei 66%.[5]

Die „optimistische“ Sicht

Verfechter der These, Psychotherapien seien besser als Placebos, interpretieren derartige Ergebnisse jedoch „optimistischer“. Ihrer Ansicht nach zeigen sie, dass echte Therapien deutlich besser wirksam sind als Placebobehandlungen oder allgemeine unterstützende Maßnahmen. (Einige Details zu diesen Interpretationsfragen lest ihr im nächsten Beitrag.) So kommt Lambert auch zu dem Schluss, dass Psychotherapie bei 75% der Fälle hilfreich ist. 75% „gesunden“ sogar wieder, dies aber erst nach 55 Sitzungen. Nach 20 Sitzungen kam er auf eine Wirksamkeit von 50% (Wir erinnern uns: bei der NIMH Studie von oben erreichte die Placebogruppe je nach Kriterium für „Gesundung“ eine Wirksamkeit von 29 bzw. 51% nach durchschnittlich 16,2 Sitzungen und unterschied sich im Mittelwert der Verbesserung nicht von „echten“Therapien.).

Die von Lambert beobachtete höhere Wirksamkeit bei langer Behandlungsdauer könnte auch auf einen Regressionseffekt zurückzuführen sein (s. Teil 2). Denn die durchschnittliche Dauer derartiger Krankheitsepisoden (Depressionen und Angsterkrankungen) beträgt nach Schätzungen aufgrund epidemiologischer Daten [8] [9] etwa zwischen ein und zwei Jahren. Wenn man bedenkt, dass die Betroffenen erst nach einer gewissen Zeit um professionelle Hilfe nachsuchen und diese meist erst nach einer gewissen Wartezeit auch erhalten, spricht hier viel für einen signifikanten Regressionseffekt. Das erklärt auch zumindest teilweise die immer wieder gefundene höhere Wirksamkeit von Langzeittherapien gegenüber kürzer dauernden Interventionen (jüngst z.B. wieder in).

Die offizielle Sicht der von den US NIMH geförderten Initiative Therapyadvisor für evidenzbasierte Therapien ist:. Darstellung Demnach liegt die Wirksamkeit von Therapien bei 75%, von Placebos bei 40% und ganz ohne Behandlung ist man bei ca. 18% Verbesserung (über die empirischen Grundlagen dieser Statistik findet man dort leider keine nachvollziehbaren Hinweise).

Die Qualifikation der Therapeuten spielt kaum eine Rolle…

Darüber hinaus spielt auch die Erfahrung und Ausbildung des Therapeuten praktisch keine Rolle: professionelles Training hat nur einen geringen Einfluss auf die Behandlungsergebnisse.

Smith, Glass und Miller [11] fanden in ihrer Übersichtsuntersuchung, dass Therapeuten mit Ph.D. oder M.D. bzw. ohne weiterführende Titel vergleichbare Ergebnisse produzierten. Eine andere umfassende Studie [12] fand ebenfalls keine derartigen Zusammenhänge. Professionell ausgebildete Therapeuten und Paraprofessionelle bzw. Laientherapeuten erzielten vergleichbare Erfolge. Weitere Studien von Hattie et.al. [13] sowie die Metaanalyse von Reinecker et.al. [14] erhärten das Ergebnis.

Es gibt jedoch Therapeuten, die systematisch erfolgreicher sind als andere, d.h. „bessere“ und „schlechtere“. Dies hat jedoch wenig mit der Ausbildung zu tun.

…aber das Vertrauen

Abschließend sei noch eine Studie zitiert, die erkennen lässt, wie die Reaktion auf ein Placebo von dem Vertrauen in den behandelnden Arzt abhängt ([2], S. 145,[10]). Dabei gab man einem Teil der Patienten („Psychoneurotiker“) Pillen-Placebos als Behandlung und sagte ihnen ausdrücklich, worum es sich dabei handelte. Die genauen Instruktionen lauteten: „Vielen Leuten mit ihrer Erkrankung wurde mit etwas geholfen, was man manchmal Zuckerpillen nennt, und wir glauben, dass auch Ihnen eine sogenannte Zuckerpille helfen könnte. Wissen Sie, was eine Zuckerpille ist? Eine Zuckerpille ist eine Pille, in der überhaupt kein Medikament drin ist. Ich denke, diese Pille wird Ihnen helfen, wie sie schon so vielen anderen geholfen hat. Wollen Sie diese Pille ausprobieren?“

Den Patienten wurde gesagt, sie sollten die Pille dreimal täglich über eine Woche nehmen. Danach würde dann eine endgültige Empfehlung für eine Behandlung gegeben. Von den vierzehn Patienten, die wiederkamen (der fünfzehnte wurde von dem Spott seines Ehepartners über die inaktive Pille davon abgebracht) berichteten alle über Verbesserungen.

Das mag zum Teil auf das Versprechen einer speziellen Behandlung nach einer Woche zurückzuführen sein. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die, die sich sicher waren, ein Placebo bzw. ein Medikament zu nehmen, über eine größere Verbesserung berichteten, als die, die Zweifel hatten. Die, die sich in der einen oder anderen Richtung sicher waren, knüpften ihre Sicherheit an ihre Überzeugung, dass der Arzt ihnen damit helfen wollte. Ähnliche Ergebnisse existieren auch für klassisch medizinische und chirurgische Behandlungen.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 21. Juli 2009

Teil I, II, III und IV sowie weitere Artikel zum Thema:

Literatur:

[1] Luborski, L. (1976). Helping Alliances in Psychotherapy in: Claghorn J. L., Successful Psychotherapy, S. 92-118. Brunner/Mazel.

[2] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins Univesity Press.

[3] Lazarus, A.A. (1973). „Hypnosis“ as a Factor in Behavior Therapy, Int. J. Exp. Hypn. 21:25-31.

[4] Jacobs et. al. (1972). Preparation for treatment of the disadvantaged patient: Effects on disposition and outcome, Amer. J. Orthopsychiatry 42:666-74.

[5] Horwitz, Allen V. (2002), Creating Mental Illness, University of Chicago Press.

[6] Elkin et. al. (1989). NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: General Effectiveness of Treatment, Archives of General Psychiatry 46:971-82.

[7] Lambert & Bergin (1994). The Effectiveness of Psychotherapy, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4th ed., ed. Bergin & Garfield, 143-190, John Wiley & Sons.

[8] Shepherd & Gruenberg (1957). The Age of Neuroses, Millbank Memorial Fund Quarterly 35: 258-65.

[9] Ingram & Smith, Mood Disorders, in: Maddux & Winstead (ed.) (2008). Psychopathology, Routledge/Taylor &Francis.

[10] Park & Covi (1965). Non-blind Placebo Trial: An Exploration of Neurotic Patients – Responses to Placebo when its inert Content is Disclosed, Archives of General Psychiatry 12:336-45.

[11] Smith, Glass, Miller (1980). The Benefits of Psychotherapy, Jons Hopkins University Press.

[12] Berman, Norton (1985). Does Professional Training Make a Therapist More Effective?, Psychological Bulletin 98:401-7.

[13] Hattie, J. A., et al. (1984): Comparative effectiveness of professional and paraprofessional helpers. Psychological Bulletin, Vol. 95, 534-541.

[14] Hans Reinecker in: Jürgen Margraf, Silvia Schneider (Hg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie: 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen, Springer, 2008, S. 95.

Psychotherapie – Das größte Placebo des späten 20. Jahrhunderts?

Psychotherapie – Das größte Placebo des späten 20. Jahrhunderts?

Zunächst soll der Begriff des Placebos in der Psychotherapie noch genauer geklärt werden.

Placebos – Eine Frage der Perspektive
Das Konzept des Placebos beruht auf dem meist sogenannten „medizinischen Modell“ von Krankheit und Heilung. Hierbei wird einem Symptom analog zu mechanischen Vorgängen auf eindeutige Weise eine physiologische Ursache zugeordnet, die das Symptom hervorbringt. Das logische Verhältnis ist das eines logischen Konditionals zwischen einer Wirkung (Krankheit, Symptom) und ihrer spezifischen Ursache. Die Behandlung der Krankheit bzw. des problematischen Symptoms erfolgt durch einen physikalischen oder chemischen Eingriff in den Mechanismus, der die Beseitigung der Ursache zum Ziel hat. Kann die Ursache dabei entfernt werden, verschwindet dem Modell gemäß auch das Symptom. Dieser Eingriff stellt die für die Wirksamkeit verantwortliche spezifische Komponente der Behandlung dar. Alle anderen Umstände (z.B. wer die Behandlung durchführt, dessen Stimmung, wo die Behandlung durchgeführt wird, Farbe und Name des Medikaments) werden für den Erfolg der Behandlung als belanglos angesehen. Es wird angenommen, dass sie keinen Einfluss auf das Ergebnis haben. Diese „sonstigen Umstände“ sollen im Folgenden auch als „Kontext“ der Behandlung bezeichnet werden.

Der Doppelblindversuch
Um nun die Wirksamkeit des spezifischen Faktors der Behandlung zu untersuchen, ersetzt man denselben durch einen anderen als wirkungslos geltenden. Um sonstige Ursachen für den Behandlungserfolg auszuschließen, muss alles andere, d.h. der Kontext, unverändert bleiben. Insbesondere darf der Austausch der vermeintlich wirksamen Komponente für Patient und Behandler nicht erkennbar sein. Das Ganze nennt man dann einen Doppelblindversuch (weil Patient und Behandler nicht um die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der spezifischen Komponente wissen).

Das Placebo
In der Praxis stellt man oft fest, dass es auch den mit einer als unwirksam geltenden spezifischen Komponente behandelten Patienten nach der Behandlung mehr oder weniger viel besser geht. Offenbar hat auch der als unwirksam angenommener Kontext der Behandlung eine Wirkung. Diese kann mit einem Doppelblindversuch von der Wirkung einer aktiven spezifischen Komponente getrennt beobachtet werden und wird als Placebowirkung bezeichnet. Die Placebowirkung ist also die Wirkung des Kontexts der Behandlung. Dieser umfasst alle Umstände derselben mit Ausnahme des aktiven, spezifischen Bestandteils.

In der Psychotherapie gibt es keine echten Placebos
Da der Behandler bei einer Psychotherapie immer weiß, ob seine Behandlung die vermeintlich wirksame spezifische Komponente (hier eine bestimmte meist von einer bestimmten Persönlichkeitstheorie abgeleitete Behandlungstechnik) enthält, ist hier grundsätzlich kein Doppelblindversuch möglich.

Der Placeboersatz
Als Placebobedingung zum Vergleich mit der „richtigen“ Therapie, die die spezifische Komponente enthält, werden oft Formen minimaler Behandlung (mit oder ohne Placebopille), unterstützende Beratung, nicht-direktive Beratung, Entspannungstechniken, Aufmerksamkeitskontrolle oder andere als unwirksam geltende Alternative Behandlungen herangezogen, d.h. solche, die nach den theoretischen Annahmen der Studienautoren keine „spezifischen“ Inhalte haben.

Stellvertretend für „unbehandelte“  Patienten nimmt man oft Leute, die auf einer Warteliste für eine Therapie stehen. Menschen, die eine Therapie machen, sind jedoch gewöhnlich hoch motiviert, was den Unterschied zur Wartelistengruppe verstärken kann, da die Erwartungen der Mitglieder der Wartegruppe zunächst enttäuscht werden. Studien mit solchen Kontrollgruppen liefern systematisch bessere Ergebnisse für die Therapiegruppe.[1]

Unterschiede zu „echten“ Placebos
Tatsächlich ersetzt man bei Verwendung von Placebogruppen in der Psychotherapieforschung nicht nur eine als wirksam angenommene spezifische Komponente durch eine unwirksame, sondern ändert auch Aspekte des Kontexts. Insbesondere weiß der Behandler, dass er eine unwirksame Behandlung durchführt, was allein schon einen deutlichen Einfluss auf die Wirksamkeit hat. Aber auch andere Inhalte, wie z.B. eine dem Patienten eventuell plausibel erscheinende Erklärung seiner Symptome wird durch etwas Anderes ersetzt, was dem Patienten vielleicht weniger einleuchtet. Weiter können die Behandlungsdauer und die Behandlungshäufigkeit unterschiedlich sein, etc.. Alle diese Faktoren können das Ergebnis beeinflussen.

Haben Therapien überhaupt spezifische Inhalte?
Ein mittlerweile sehr gut gesichertes Ergebnis der Psychotherapieforschung ist, dass die Natur der spezifischen Komponente (z.B. Verhaltenstherapie, Kognitive Therapie, Psychoanalyse etc.) praktisch keinen Einfluss auf das Behandlungsergebnis hat.

Hinsichtlich der Effektivität unterschiedlicher Therapieverfahren fand z.B. Luborski [2] wie schon Eysenck keine oder nur geringe Unterschiede zwischen Gruppen- oder Einzeltherapie, zeitlich begrenzten oder nicht begrenzten, klientenzentrierten oder traditionellen Therapien bzw. Verhaltens- oder anderen Therapien. Es gab auch ein „erstaunliches“ Fehlen von Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Therapieformen, den behandelten Erkrankungen und der therapeutischen Effizienz. Mit zwei Ausnahmen: Psychotherapie mit medikamentöser Behandlung war bei Patienten mit psychosomatischen Symptomen besser als ohne Medikamente und Verhaltenstherapie war bei Phobien besonders effektiv. Es gibt unzählige weitere Studien, die dieses Ergebnis im Prinzip bestätigen (Dodo-Bird Effekt).

Selbst Beck, der Erfinder der kognitiven Therapie, kommentierte desillusioniert: „die Verfechter der kognitiven Therapie für Depression sind immer noch Belege dafür schuldig, dass etwas über unspezifische Prozesse Hinausgehendes die beobachteten Veränderungen bewirkt.“ [3]

Wampold [4] untersuchte die geringen gelegentlich gefundenen Unterschiede weiter und konnte sie vollständig auf (durch systematisch „gute“ oder „schlechte Therapeuten bedingte) Therapeuteneffekte reduzieren: „Wenn also Therapeuteneffekte richtig in Betracht gezogen werden, dann ist die Effektstärke“ [dazu später mehr] „von 0,2 komplett als Artefakt zu betrachten“ ([5], S. 97). „In Wirklichkeit ist der Behandlungseffekt offensichtlich null.“ (Wampold, [4], S. 200)

Empirisch lassen sich offensichtlich keine spezifisch wirksamen Bestandteile finden. Die spezifischen Bestandteile, die von der Theorieschule A für wirksam gehalten werden, gelten darüber hinaus bei Schule B als unwirksam und umgekehrt. Das legt den Verdacht nahe, dass die vermeintlichen spezifischen Inhalte der Psychotherapien über keine eigenständige Wirksamkeit verfügen und lediglich den Status weiterer Kontextbestandteile haben.

Das Kontextmodell
Konsequenterweise hat das zur Entwicklung des sogenannten „Kontextmodells“ geführt (z.B. [6]), das annimmt, dass die Wirkung von Psychotherapien allein aus Kontextkomponenten resultiert. Innerhalb eines solchen Modells kommt das Konzept eines Placebos nicht mehr vor. Es gibt hier keine isolierbaren technischen Bestandteile, die allein für die Wirksamkeit verantwortlich sind bzw. sein sollen.

Zwei Sichtweisen
Vom medizinischen Modell aus betrachtet ist eine Psychotherapie also ein Placebo („Vielleicht ist Psychotherapie das größte Placebo des späten 20. Jahrhunderts“, Shapiro [7]), im Kontextmodell dagegen nicht, da es dort keine Placebos gibt.

Die Studienpraxis
Obwohl das Konzept des Placebos im Zusammenhang mit Psychotherapiestudien nicht recht brauchbar ist, werden Psychotherapiestudien meist mit Placebovergleichsgruppen durchgeführt.

Wie oben schon angedeutet, ist die Vergleichbarkeit jedoch etwas problematisch. Generell wurde in diesen Gruppen im Vergleich zur Therapiegruppe ein mehr oder weniger großer Bestandteil des Behandlungskontexts ersetzt bzw. entfernt.

Es wurde der Psychotherapieforschung also generell das medizinische Modell zugrunde gelegt, das auch weiterhin dominiert.

Psychotherapiestudien
Die Wirksamkeit von Psychotherapien wurde zuerst von Eysenck (1952 und 1965) im Rahmen von Übersichtsstudien näher untersucht. Er fand bei etwa zwei Dritteln der Neurotiker eine spontane Remission (d.h. sie erholten sich von selbst). Die Erfolgsrate bei den untersuchten Therapieverfahren, darunter insbesondere die Psychoanalyse, lag etwa auf demselben Niveau. Dabei schnitten die untersuchten Therapieverfahren alle gleich ab, mit Ausnahme der Verhaltenstherapien, die in beiden Studien etwas besser als andere Verfahren waren.

Ein Vergleich mit Placebos
Jerome Frank behandelte zwölf Patienten, die mit einer Psychotherapie behandelt worden waren und nach zwei bis drei Jahren eine Verschlechterung erlebt hatten, zwei Wochen lang mit Pillen-Placebos. Die mittlere absolute Verbesserung war dabei genauso groß, wie zuvor (bei der Erstbehandlung vor zwei bis drei Jahren) nach sechs Monaten Psychotherapie. ([6], S.148)

Die Ergebnisse von Metastudien
Smith und Glass [8] fanden später in einer Metaanalyse von 375 Studien, dass Mitglieder der Gruppen, die Psychotherapie erhielten, besser abschnitten, als Mitglieder der Vergleichsgruppen. Jemand, der nach der Behandlung zufällig aus der Therapiegruppe ausgewählt wurde, hatte eine zwei zu eins Chance besser abzuschneiden, als jemand, der zufällig aus der Kontrollgruppe ausgewählt wurde.

Allerdings bedeutet dies auch, dass sich die Situation einzelner im Laufe einer Therapie auch relativ verschlechtern kann. Eine Psychotherapie hilft zwei Dritteln der Teilnehmer mehr als die Kontrollbedingung, während es etwa einem Drittel danach schlechter geht, als wären sie in einer Kontrollgruppe ohne Psychotherapie gewesen. ([9], S. 141)

Die Ergebnisse  von Smith und Glass werden heute von den meisten Psychotherapieforschern anerkannt. Sogar der sonst recht kritische Robyn Dawes ließ sich überzeugen, die Effekte seien sogar größer als bei den meisten medizinischen Verfahren. ([9], S. 51)

Insbesondere Eysencks Spontanremissionsrate von zwei Dritteln gilt als fragwürdig [1]. McHugh geht allerdings wiederum ebenfalls von einer Spontanremissionsrate von etwa 70% aus (Rachman in „Handbook of Abnormal Psychology“, 1973) ([10], S. 244).

Fortsetzung folgt.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 15. Juli 2009.

Teil I, II und III, sowie weitere Artikel zum Thema:

Literatur:
[1] Horwitz, Allen V. (2002), Creating Mental Illness, University of Chicago Press.
[2] Luborski et. al. (1975). Comparative Studies of Psychotherapies: Is it True That „Everyone Has Won and All Must Have Prizes“, Archives of General Psychiatry 32:995:1008.
[3] Hollon & Beck (1986). Cognitive and cognitive-behavioral Therapies, in Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 3rd ed., ed. Bergin & Garfield, 443-482, John Wiley & Sons.
[4] Wampold B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Lawrence Erlbaum Associates
[5] Reiband, Nadine (2006). Klient, Therapeut und das unbekannte Dritte, Carl-Auer Verlag.
[6] Frank, JB, Frank J. (1991). Persuasion and Healing: a Comparative Study of Psychotherapy, Johns Hopkins Univesity Press.
[7] Shapiro (1997). The Powerful Placebo: From Ancient Priest to Modern Physician, Johns Hopkins University Press.
[8] Smith, Mary L.; Glass, Gene V. Meta-analysis of psychotherapy outcome studies. American Psychologist. Vol 32(9), Sep 1977, 752-760.
[9] Dawes, R.M. (1994). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: The Free Press. Paperback, September 1996.
[10] McHugh, Paul R. (2005), Try to Remember, Dana Press.

Psychopharmaka: Wirksam? Unwirksam? Schädlich? Placebo?

Psychopharmaka, generelle Hilfe in Frage gestelltNeben der Psychotherapie ist auch die medikamentöse Therapie bei psychischen Problemen, oder was man dafür hält, heute weit verbreitet. Von deren Verfechtern erfährt der Kranke nichts über sein verdrängtes Sexualleben sondern wird über die Defizite seiner Hirnchemie aufgeklärt. Auch hier kommt ihm der kulturell gelernte Glaube an die Effektivität von Medikamenten und die Macht und Autorität der Wissenschaft zu Gute. Um derartige Effekte zu berücksichtigen, wird die Wirksamkeit in doppelt blinden Placebo Vergleichsstudien ermittelt, was bei Psychotherapien leider nicht geht. (Auf Probleme im Zusammenhang mit Nebenwirkungen soll in diesem Beitrag nicht eingegangen werden.)

Psychosen

Medikamente zur Behandlung für Psychosen (Neuroleptika) schneiden dabei für die spezifische Behandlung ebenderselben recht gut ab und sind heute ein wichtiges Instrument bei der Behandlung derartiger Erkrankungen. Bei diesen Erkrankungen nimmt man an, dass biologische Fehlfunktionen vorliegen. Es geht dabei im Wesentlichen um das, was man heute als Schizophrenie und als bipolare Störung bezeichnet. Das betrifft jedoch nur eine Minderheit der Personen, die man heute als „psychisch krank“ einstuft.

„Neurosen“

Medikamente für andere Erkrankungen als Psychosen werden i.a. als Antidepressiva bezeichnet und haben sich nach gängiger Meinung als mäßig wirksam erwiesen. Bei Depressionen etwa bei zwei Dritteln der Betroffenen.

Die Studienpraxis

In der Vergangenheit wurden jedoch von den Studien, die Bestandteil des Zulassungsverfahrens bei der amerikanischen FDA waren, meist nur solche veröffentlicht, die positive Ergebnisse für die Wirksamkeit der Psychopharmaka fanden. In einer Metaanalyse von 2008 [1] waren von 74 Studien 38 positiv und 36 negativ bzw. nicht positiv. Von den positiven waren alle bis auf eine veröffentlicht worden, von den negativen dagegen nur drei, 11 weitere wurden so präsentiert, dass der Eindruck eines positiven Ergebnisses erweckt wurde, während die restlichen 22 nie publiziert wurden.

Aufgrund der publizierten Literatur musste so der Eindruck entstehen, dass 94% der Studien positive Ergebnisse brachten, während es in Wirklichkeit nur 51% waren. Die „publizierte Wirkung“ war größer als die tatsächliche. An der herkömmlichen Meinung hinsichtlich der Erfolgsrate einer solchen Behandlung muss also gezweifelt werden.

In einer ebenfalls auf FDA-Daten gestützten Metastudie über Antidepressiva der neuesten Generation (SSRIs) [2] erreichten die Psychopharmaka nur bei extrem depressiven Patienten einen klinisch bedeutsamen Vorteil gegenüber Placebos. Dies jedoch nicht im Sinne einer besseren Wirkung der Medikamente, sondern wegen eines Rückgangs der Placebowirkung.

Die Auswahl der Probanden

In einer neuen umfassenden Studie [3] wird über verzerrende Effekte durch die Auswahl der Probanden bei für die Zulassung durch die FDA eingereichten Studien berichtet. Dort betrug die Remissionsrate bei Depressionen in der für die Studien ausgewählten Gruppe 34,4% gegenüber nur 24,7% bei Depressionspatienten, die man nicht für geeignet hielt. Der Anteil der Patienten, die auf die getesteten Medikamente ansprachen, lag in der Studiengruppe bei 51,6%, in der „nicht geeigneten“ dagegen nur bei 39,1%. Auch hier liegt eine Quelle von Verzerrungen vor, die zu einer systematischen Überbewertung der Wirksamkeit dieser Medikamente führt.

Unspezifische Effekte

Andere empirische Ergebnisse lassen vermuten, dass ein großer Teil des (ja auch bei den aktiven Medikamenten wirksamen) Placeboeffekts in Studien über Antidepressiva schlicht von der Anzahl der Patientenkontakte während der Studien abhängt. Wenn die Patienten öfter zu den Ärzten einbestellt werden, ist der Erfolg größer, unabhängig davon, ob sie ein Placebo oder ein Medikament erhalten haben. Es fand sich eine Verbesserung um 0,6 bis 0,9 Punkte auf der Hamilton Skala zur Messung der Depressionsintensität für jeden zusätzlichen Besuch während der Studien.[5]

Die Biologie

Unser wachsendes biologisches Verständnis zeigt, dass Depression eine extrem komplexe Verhaltensvariante ist, die von einer großen Anzahl von biologischen Mechanismen, Umwelteinflüssen und genetischen Dispositionen reguliert wird, von denen jeder nur einen kleinen Beitrag zum Krankheitsbild leistet. Von Medikamenten, die vermutlich nur einen einzigen Mechanismus beeinflussen (z.B. die SSRIs das Serotonin), kann man daher auch nur einen kleinen Einfluss auf die Gesamtheit der Biologie der Depression erwarten. Es sind von daher im Mittel von vornherein auch nur kleine Effekte zu erwarten. [5]

Unspezifische Wirkung

Antidepressiva zeigen vergleichbare Wirkungen bei Kranken wie auch bei gesunden Menschen und tun dies generell unabhängig von der vorliegenden Erkrankung. Sie wirken also nicht krankheitsspezifisch, was den (und in der Literatur auch strittigen) Krankheitsstatus der damit behandelten Zustände in Frage stellt. Es wurde daher auch schon vorgeschlagen, derartige Substanzen statt als Antidepressiva als generelle „psychische Energetisierer“ zu bezeichnen.[4]

Fragwürdige Praxis

All dies lässt die generalisierte Anwendung von Antidepressiva fragwürdig erscheinen. Auch werden sie zu einem großen Teil Menschen verschrieben, die nicht den Populationen angehören, an denen klinische Studien vorgenommen wurden. Hier fehlt jede empirische Grundlage für die Wirksamkeit. Die Behandlungsdauer liegt häufig über der in klinischen Studien untersuchten. Nebenwirkungen werden meist nur am Rande erwähnt und nicht systematisch untersucht.[5]

Der Nutzen

Aufgrund des oben Gesagten sind Antidepressiva wahrscheinlich nur bei ausgewählten Patienten mit schwerer Depression angezeigt. Vermutlich vorzugsweise nur bei solchen, die schwere Symptome haben und sonst auf nichts anderes angesprochen haben. Für die meisten Patienten mit gewissen depressiven Symptomen, die gegenwärtig Antidepressiva nehmen, wären Antidepressiva nicht die bevorzugte Option gewesen. Placebos wären praktisch genau so gut, wenn nicht besser, und wären toxisch unbedenklich und kostenlos.[5]

Die Moral von der Geschichte?

Loannidis wirft die Frage auf, ob es wirklich unmoralisch wäre, den Mythos dieser Pillen zu zerstören, angesichts der Tatsache, dass der größte Teil der Wirkung von Antidepressiva nur den Placeboeffekt widerspiegelt und die meisten Patienten nur so viel profitieren, wie der Placeboeffekt erlaubt. Man könnte sagen, dass eine Bevölkerung, die darüber informiert ist, dass Antidepressiva nicht wirklich wirksam sind, uns der Vorteile beraubt, die wir durch den Placeboeffekt bekommen, wenn wir diese Medikamente verabreichen. Ist es jedoch nicht andererseits unmoralisch, die Patienten zu belügen, und ihnen vorzuspiegeln, eine Behandlung sei wirksam, wenn sie es in Wahrheit nicht ist? Darüber hinaus: Wenn wir den Placeboeffekt benutzen wollen, wodurch ist es dann gerechtfertigt, dass das die Gesellschaft insgesamt mehr kostet als fast jede andere (wirklich wirksame) pharmakologische Behandlung für irgendeine andere Krankheit? Es ist schon etwas verrückt, für unsere Gesellschaft zu akzeptieren, dass jemand ein Vermögen mit dem offiziellen Verkauf von Placebos macht. [5]

Die Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapien (über Placeboeffekte hinaus) sind jedoch nicht besser. [5]

Was man darüber weiß, erfahren wir in Teil Vier.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 11. Juli 2009

Teil I und II, sowie weitere Artikel zum Thema:

Literatur:

[1] Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, Rosenthal R: Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008, 358(3):252-60.

[2] Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, Moore TJ, Johnson BT: Initial severity and antidepressant benefits: a metaanalysis of data submitted to the Food and Drug Administration.PLoS Med 2008, 5(2):e45.

[3] Wisniewski S, et. al. „Can phase III trial results of antidepressant medications be generalized to clinical practice? A STAR*D report“, Am J Psychiatry 2009; 166: 599-607. http://www.medpagetoday.com/Geriatrics/Depression/14209

[4] Horwitz, Allen V. (2002), Creating Mental Illness, University of Chicago Press.

[5] John PA Ioannidis (2008). Effectiveness of antidepressants: an evidence myth constructed from a thousand randomized trials?, Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 2008, 3:14.