Umweltkrankheiten: Hinschauen oder wegsehen?

Erneut erschien ein Artikel der MCS-Aktivistin und Autorin Eva Caballé im spanische Kunst- und Kulturmagazin Deliro. Das Motto der aktuellen Ausgabe lautet „KINO.

Die zum Nachdenken anregende Geschichte von Eva Caballé handelt über Schadstoffe und Multiple Chemical Sensitivity. Sie trägt den Titel „Das Fenster zum Hof“ und ist ein Tribut an den großartigen Filmemacher Alfred Hitchcock. Die Fotos dazu stammen von Evas Mann David Palma.

Das Fenster zum Hof

Von Eva Caballé

Der Raum ist fast leer; nichts als ein Bett und ein alter Nachttisch ohne Dekor oder Vorhang, alles in hellen Farben. Es scheint ruhig. Die Frau sitzt auf dem Rand des Bettes vor dem Fenster und schaut ins Sonnenlicht, das orangefarben durch den Sonnenuntergang ist. Sie wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster und beobachtet etwas ganz genau, wobei sie ihren Hals dreht, als ob sie nach etwas sucht. Sie dreht sich um und spricht mit der jungen Frau, die gerade den Raum mit einem ironisch besorgten Lächeln betritt.

Frau: Siehst du nicht, wie jeder verschwindet? Es ist kein Zufall! Sie haben begonnen, den Park zu sprühen, Tag für Tag, während die Kinder spielten und die Eltern und Großeltern in der Sonne saßen und redeten, während sie die Kinder beobachteten.

Die junge Frau stützt ihre Hand auf ihre Taille mit einem müden Blick und reagiert, mit der anderen Hand gestikulierend, während sie schnaubend impliziert, dass sie müde ist, immer über die gleiche Sache zu reden.

Junge Frau: Du sieht nur Verschwörungen, für Dich ist alles sehr einfach. Wie kannst Du so sicher sein, wenn Du das Haus nicht verlassen kannst? Du lebst nur durch Dein Fenster! Statt stundenlang Pamphlete zu schreiben, von denen ich sicher bin, dass sie niemand liest, und Fotos zu machen, solltest Du Dich nicht lieber auf Dein nächstes Buch konzentrieren?

Der Gesichtsausdruck der Frau wird ernst, sie wendet sich wütend um und antwortet mit einigem Unwillen.

Frau: Aber es ist offensichtlich! Es braucht keinen Sherlock Holmes! Der Hund des Nachbarn im ersten Stock starb wenige Tage nach der ersten Begasung. Sie sagen, dass er durch etwas, was er gefressen hat, vergiftet wurde … Vor ein paar Tagen kam ein Krankenwagen und nahm mitten in der Nacht die alte Frau mit, die im Obergeschoss wohnt, und sie ist noch im Krankenhaus, während ich sie in den 40 Jahren, die ich hier lebe, noch nie mit einer Erkältung gesehen haben! Und was ist mit den Kindern vom vierten Stock? (Sie macht eine Pause zum Atmen, ihre Stimme überschlägt sich fast, so dass sie fast den Atem verliert.) Jeden Tag sehe ich sie mit dem Inhalator und alle zwei Minuten in der Notaufnahme! Ihre Nachbarin hat Krebs und seit sie Chemotherapie bekommt, kann sie Parfums mehr nicht länger ertragen und jetzt muss sie eine Maske tragen, wenn sie für einen Spaziergang die Straße entlang geht. (Jetzt fast schreiend.) Man sagt, dass sie hat Multiple Chemical Sensitivity (MCS) und die Ärzte kümmern sich nicht um sie!

Die Frau schneidet Gesichter und parodiert den Vortrag der junge Frau, denn sie bereits erwartet hat und auswendig kennt.

Junge Frau: Du bist ein wenig ein Panikmacher! Es gibt nur wenige Menschen, die unter MCS leiden, es gibt keinen Grund zur Sorge. Und heute hat fast jeder Allergien oder Asthma und die Behörden warnen davor, dass jeder vierte Mensch in seinem Leben Krebs haben wird. (Sie geht rückwärts, und spricht vom Flur aus, sich dabei an die Tür anlehnend). Das ist das moderne Leben. Vor irgendetwas müssen wir ja schließlich sterben!

Die Frau dreht sich um und antwortet entrüstet vom Bett aus.

Frau: Und, erscheint es normal für Dich? Wirklich? Und wenn es Dich betrifft, denkst Du dann immer noch genauso?

Die junge Frau verlässt schließlich den Raum und ihre Stimme, die vom Flur aus noch zu hören ist, klingt vom Ton her zwischen sarkastisch und müde.

Junge Frau: Also, wir sehen uns nächste Woche. Hör auf, Deine Nachbarn zu bespitzeln, weil Du sonst am Ende noch verrückt wirst. Du solltest Dich lieber amüsieren und aufhören zu fantasieren.

Die Frau antwortet und hebt dabei ihre Stimme, während die junge Frau die Vordertür schließt und das Haus verlässt.

Frau: Mach dir keine Sorgen, meine Einstellung bietet keine Lösung. (Und endet damit ärgerlich vor sich hinsprechend.) Und auch nicht Deine Dummheit.

Die Frau starrt immer noch entrüstet und mit einem besorgten Gesicht aus dem Fenster und denkt laut dabei.

Frau: Realisiert es irgendeiner? Ich sehe alles so klar, dass es mich erschreckt. Es drängt mich dazu, das Fenster zu öffnen und es von den Dächern zu schreien, aber will mich irgendjemand hören? Warum wollen sie nicht hören, selbst wenn es sie alarmiert? (Mit einem sarkastischen Ton.) Keine Zeit dafür, und die Geschwindigkeit des Lebens klingt wie billige Ausreden für mich. (Sie steht auf und nähert sich dem Fenster.) Es ist ganz einfach. Wir sind schlimmer als Esel geworden, denn es ist nicht einmal notwendig, dass sie uns Scheuklappen aufsetzen, um zu verhindern, dass wir unseren Blick vom ausgetretenen Weg abwenden. Wir haben nicht mehr den Drang dazu, es zu tun! Wir fürchten uns davor, was wir sehen, weil wir dann nämlich reagieren müssten. (Die Sonne ist untergegangen und sie beginnt die Fensterläden zu schließen.) Es muss daran liegen, dass ich keine Angst habe hinzuschauen oder daran, weil ich nichts zu verlieren habe. Es scheint, als sei mein Fenster anders…

Autor: Eva Caballé, No Fun Blog, Februar 2011

Originalartikel: LA VENTANA INDISCRETA, artículo sobre tóxicos y Sensibilidad Química Múltiple publicado en la revista DELIRIO

Übersetzung: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network

Weitere Artikel von Eva Caballé, die in der Kunst- und Kulturzeitung Deliro erschienen:

3 Kommentare zu “Umweltkrankheiten: Hinschauen oder wegsehen?”

  1. Eva Caballé 11. März 2011 um 18:55

    Thank you so much Silvia for the German translation and for publishing my article.
    Big hugs,
    Eva

  2. PappaJo 12. März 2011 um 15:38

    @Eva
    Das ist eine Geschichte wie diese (so ähnlich) wohl einige von uns erlebt haben. Wir, die wissenden Beobachter, sehen was geschieht, reden oder redeten uns den Mund fusselig und das einzige was an Resonanz kam war genau dieses. Ein Herunterspielen von Fakten und man selbst wurde als Spinner abgestempelt. Sobald man dieses Thema anschneidet, hört der Gegenüber vieleicht noch hin aber es kommt nicht an. Die Leute verdrängen einfach die Tatsachen und den Wahnsinn im Alltag, weil sie nichts von Wissen wollen, solang sie selbst nicht betroffen sind. Es wird verdrängt, einfach so. Aber die Tatsache wird jeden einzelnen irgendwann einholen. Wie in einem Chaotischen System werden die Leute alle Zustände wiederspiegeln. Von leichten Beschwerden bis zum plötzlichen Tot. Nur wir haben in dieser Hinsicht ein wenig Glück im Unglück. Wir sind langsam krank geworden, wir konnten uns anpassen und lernen damit zu leben. Wir sind es die den Rest warnen können, doch niemand hört hin. Und wir haben keine Kraft um auf die Barrikaden zu gehen, wir können nur leise warnen. Zu leise für die anderen.

  3. Eva 26. April 2011 um 13:53

    Dear PappaJo,
    I totally agree with your comment. People choose ignorance but they don’t realize that avoiding the problem won’t keep them safe. If they want to listen to us, they would have the opportunity to not get sick that we haven’t had!

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