ES GIBT KEINEN ORT – Eine Sekundengeschichte

Das Paar freut sich über die neue Wohnung im Dachgeschoß des mehrstöckigen Hause. Sie wirkt hell, die Lage verspricht immer einen angenehmen Luftzug, so dass die Luft sauber bleiben dürfte. Ein Fahrstuhl erspart das Treppensteigen, das mit vollen Einkaufsbeuteln sicher beschwerlich sein würde. Der alte textile Fußboden- belag riecht nicht mehr nach Chemie und die Wände wirken trotz des alten Farbanstriches sauber. Vor allem aber ist die Wohnung trocken. Die jetzige Wohnung des Paares hat hingegen stets über 55 Prozent Luftfeuchtigkeit, oft nahe achtzig. Selbst nach fast einem Jahr riecht deshalb das Parkett noch dem Versieglungslack, weshalb die chemikaliensensible Frau nur das geflieste Bad für längere Aufenthalte nutzen kann. In der Küche – ebenfalls gefliest – kann sie sich nur kurz zum Kochen aufhalten, weil Spanplattenmöbel, der Lack der Küchentür und die Gummidichtungen der Fenster und Türen ihr fast den Atem rauben und sie am Rande der Ohnmacht bringen.

Nun diese neue Wohnung, die endlich Ruhe verspricht…

… aber ihr Versprechen nicht hält. Nach kurzer Zeit des Einzuges stinkt es wiederum nach Chemikalien, Zigarettenrauch, Teppichkleber, Duftstoffen aus den Wanddurch- brüchen für Rohrleitungen und aus den Entlüftungsschächten. Die extreme Hypersensibilität der MCS-Kranken lässt sie jedes Duftmolekül eines Schadstoffes wie einen Nadelstich spüren.

Auch dieser Umzug war wiederum umsonst und das Paar kommt sich wie Flüchtlinge vor, die niemand aufnehmen will… Für diese Kranken gibt es keinen Ort.

Die Leprakranken wurden früher zwangskolonisiert, damit sie niemanden anstecken konnten. Die MCS-Kranken würden sich am liebsten selbst kolonisieren, damit sie von Niemand durch Duftstoffe und Chemikalien noch kränker gemacht werden.

Es gibt Naturschutzgebiete, denkt die Frau, aber für uns Umweltkranke keine Menschenschutzgebiete…

Autor: Gerhard Becker, CSN – Chemical Sensitivity Network, Nov. 2010

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9 Kommentare zu “ES GIBT KEINEN ORT – Eine Sekundengeschichte”

  1. Mia 8. November 2010 um 15:18

    Gerhard hat die Notlage vieler MCS-Kranken sehr gut beschrieben! Dieses Alleingelassenwerden mit dieser Krankheit macht ratlos und wütend zugleich.

    Ich empfinde es so, dass manche Tiere besser geschützt geschützt werden als Bürger mit Umwelterkrankungen, die von manchen Ärzten verspottet, von einigen Mitmenschen belächelt und von der verursachenden Wirtschaft und Industrie bekämpft werden.

    Zumindest den Status eines Hundes hätte ich gern. Dafür würde ich auch wie sie einen Chip tragen; einen Chip,der die Mitmenschen warnt, wenn sie mir mit ihren parfümierten Cremes, Haarsprays, Duftkerzen, super-weichgespülter Kleidung usw.usw. zu nahe kommen und von sich aus Abstand halten müßten. Ich habe nichts gegen Hunde und Haustiere, wohlgemerkt, aber warum werde ich mit MCS, ahnunglos in die Falle der Chemieindustrie getappt, so verdammt damit alleingelassen und keine Behörde oder Institut hat ein schlechtes Gewissen?

    Warum können viele von uns nicht einmal anständig wohnen und ein Stück Lebensqualität damit wiederbekommen? Wohnen ist ein Grundrecht oder sollte es zumindest sein. Wohnen ist Leben. Wohnen ist Überleben.

  2. Seelchen 8. November 2010 um 19:52

    Hallo Gerhard!
    Danke, du hast es treffend beschrieben. Im Moment suchen wieder sehr viele nach Wohnraum..sie wären wie Rocco mit 1 kleinen cleanen Zimmer zufrieden, aber es gibt keines…und da kann man mutlos werden und verzweifeln…
    Es muss!!!!! sich etwas tun..wie soll man diese Not, wie auch von Mia beschrieben, noch aushalten und vor allem, was soll man den einzelnen Betroffenen in höchster Not sagen?
    Sagt doch alle mal was..was man da noch sagen oder schreiben soll ??????????????????????????????????????

  3. Gerhard Becker 8. November 2010 um 22:58

    Ihr Lieben

    gesagt ist eigentlich schon alles. Bekannt sind die Fakten denen, die sie wissen sollten auch.

    Es fehlt die Einsicht und der Willen der Verantwortlichen und derer, die die menschliche und behördliche Aufgabe haben, das Leben von schwer chronisch kranken Menschen zu schützen.

    Aber eine Tatsache ist möglicherweise noch nicht bekannt genug: Die Umweltverschmutzung bis zu den Lebensmitteln, Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden und der Luft zum Atem hin, ist soweit fortgeschritten, dass nicht nur die Anzahl von normalen Allergiker immer weiter zunimmt, sondern auch die Anzahl der Umweltkrankheiten MCS, CFS und Elektrosensibilität. Das bedeutet, dass diese Umweltkrankheiten in naher Zukunft nicht nur ein Problem der besonders sensiblen Menschen (mit mangelhafter Entgiftungsleistung u.a. gesundheitlcher Schwächen) sein wird, sondern von Millionen anderer, die sich noch gesund wähnten. Schon jetzt zeigt sich, wie die kranke Umwelt radikal die Fruchtbarkeit von Männer und männlichen Tieren zerstört und das ist nur ein Beispiel. Je eher man sich den jetzt Umweltkranken ernsthaft widmet, desto eher wird man fähig sein, die Bedrohung durch Umweltkrankheiten für alle Menschen abzuwenden. Mit anderen Worten: Eine weitere Ignoranz und Leugnung solcher Krankheiten wird sich so extrem rächen, dass selbst Bitterkeit als angenehm süß empfunden würde. Wer die Augen offen hält, findet hierfür mehr als genug Anzeichen.

    Die Industriestaaten sind gut beraten dieses Problem ernst zu nehmen, bevor es die Gesellschaft unheilbar lähmt, denn dieses Problem sägt an dem Lebensnerv der Weltgemeinschaft. Das „Plastikplankton“ der Weltmeere, fünfmal so gross und schwer wie das Natürliche, sind ein Zeichen, das selbst Blinde nicht übersehen sollten…

    Gruss Gerhard

  4. weazer 9. November 2010 um 01:48

    Dr. Bartram riet mir, das Rhein/Main – Gebiet zu verlassen, in eine schadstoffarme/freie Gegend zu ziehen, in eine schadstofffreie Wohnung.

    Ich frage mich dann natürlich, wie viele andere auch, wohin?????

  5. Gerhard 9. November 2010 um 10:43

    Inzwischen sind nicht einmal die Antarktis und die Gletscher der Hochgebirge schadstofffrei.
    Wohin könnte man ziehen? In den Regen- oder Urwälder der Erde? In den Wüsten oder Steppen Asiens oder Afrikas? In das Innere von Grönland oder Australiens?

    Klingt zynisch, ist aber nur so zynisch, wie sich der Mensch gegenüber der Umwelt und den Umweltkranken verhält.

    Es gibt ein altes Kampflied mit der Aufforderung: „Wacht auf Verdammter dieser Erde…“

    Verdammt ist in naher Zukunft die gesamte Weltbevölkerung, ein Aufwachen dann nicht mehr möglich (die biblische Hoffnung einmal ausgeklammert).

    Wenn der Mensch nicht zum (Umweltgift-)Berg kommt (um ihn zu beseitigen), dann geht der (Umweltgift-)Berg zu den Menschen und verschüttet ihn…
    Gruß Gerhard

  6. Konrad 14. November 2010 um 18:31

    Ans Meer ziehen. Z.B. Holland. Nordseeküste. Da der Wind meist von Westen kommt enthält die Luft fast nichts was stört. Z.B. Wohnwagen.

  7. gitte 14. November 2010 um 19:10

    ja, und dann steht dort irgendwo an der nordseeküste hier und da ein handymast…… ich denke, viele mcskranke wissen gar nicht, dass sie auch elektrosensibel sind. ich habe es auch erst jahre, nachdem ich erkannt hatte, das meine vielen beschwerden meist von chemikalien ausgelöst werden, begriffen.
    ich habe fast zwei jahre versucht, jemand eine kleine wohnung hier in meinem haus anzubieten, der mcs hat und habe gelernt, dass es nicht funktioniert, weil sie, trotz baubiol. sanierung, nicht clean genug ist…keine fliesen, holzböden etc. und geringer e-smog.
    leider fehlt uns umweltkranken einfach das geld, um alles auch perfekt zu sanieren.
    selbst meine eigene wohnung ist nicht perfekt, aber für mich noch lebenswert.
    ich darf gar nicht dran denken, wenn ich hier mal rausmuss, weil ich mit meiner rente das haus kaum halten werde können, wohin dann?
    ich fühle mich wie freiwild, dass man jederzeit abschiessen kann. und ich denke, dieses gefühl haben die meisten von uns.
    es gibt kaum noch unbelastete stellen, weil der wahnsinn an chemie fast überall drin ist.
    meine idee ist, immunsysthem stärken stärken und nochmal stärken, damit es ein bisserl besser geht. lg gitte

  8. Gerhard Becker 14. November 2010 um 20:28

    Hallo Konrad,

    so einfach ist das alles nicht:

    1. Haben die meisten Betroffenen mehrere Umzüge hinter sich, sind körperlich und finanziell ausgebrannt. Hilfe ist oft nicht vorhanden, weder staatlich noch familiär…
    2. Ist der Standort nur ein Punkt. Das nähere Umfeld (Weichspüler- und Parfümgerüche, Dect-Telefone, Handyfunktürme usw. sind weitere.
    3. Wohnwagen sind nicht billig. Sie verträglich zu gestalten ebenso. Strom- und Wasseranschluss muss vorhanden sein. Ehepaare können nicht einfach so den Standort wechseln, weil der noch arbeitende Partner an seinen Job gebunden ist. Bei Arbeitslosigkeit wird eine richtige Wohnanschrift gefordert.
    Ich weiß nicht, wieviel MCS-Kranke es in Deutschland gibt. Wenn die alle zur Nordsee ziehen…

    Hallo Gitte,

    Es besteht wirklich das Problem: Was der eine Betroffene verträgt, muss der andere noch lange nicht vertragen. Es hört sich so an, als ob Du alleinstehend bist. Evt. könntest Du Dein Problem bezüglich Deines Hauses und der Rente dahingehend lösen, dass Du eine WG anbietest, wo jeder Mitbewohner seinen individuellen Rückzugsraum hat, aber Stube(n), Küche, Bad (Bäder) gemeinsam genutzt werden. Ein bis ca. 2wöchiges Testwohnen muss möglich sein, da es sich meist nicht nach ein oder zwei Tagen schon zeigt, ob für den potentiellen Mitbewohner eine Wohnung verträglich ist oder nicht.

    Gruß Gerhard

  9. Gabriele 21. November 2010 um 22:19

    Hallo Gitte,

    in welchem Ort liegt denn Dein Häuschen, welches Baujahr hat es? Wie klein ist die zu vermietende Wohnung und wie hoch sollte die Miete sein? Gedenke, mich zu verändern.

    LG Gabriele

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