Notizen aus der schönen neuen Welt

Zwischen 1996 und 2005 erhöhte sich die Rate der mit Antidepressiva behandelten Menschen in den Vereinigten Staaten von 5,84% auf 10,12% der Bevölkerung. Zu den vermuteten Gründen zählt man eine Verbreiterung des Konzepts der Bedürftigkeit für eine Behandlung hinsichtlich der seelischen Gesundheit. [1]

Psychopharmaka haben Nebenwirkungen und werden häufig unnötig verschrieben 

Die Anzahl der Leute, die neu mit Depression diagnostiziert werden, ging jedoch in den 11 Jahren von 1993 bis 2004 zurück. Dennoch verdoppelte sich in dieser Zeit die Anzahl der Rezepte über Antidepressiva von 2,8 auf 5,6 pro Patient. 

Der dramatische Anstieg in der Zahl der Rezepte über Antidepressiva ist auf eine jährlich ansteigende Zahl von Menschen zurückzuführen, die langfristig Antidepressiva nehmen. [2] 

Suizidgefahr bei Kindern nach Antidepressiva 

Behördliche Warnungen im Oktober 2003 über eine erhöhte Suizidgefahr bei Kindern, die Antidepressiva nehmen, hat zu unbeabsichtigten und anhaltenden Veränderungen in der Diagnose und der Behandlung von Depressionen bei Kindern und Erwachsenen geführt.  Unmittelbar nach dieser Mitteilung trat eine hiermit nicht beabsichtigte Abnahme in der Zahl der neu diagnostizierten Fälle ein. 

Depressionen immer häufiger diagnostiziert

Zwischen 1999 und 2004 stieg die Zahl der diagnostizierten depressiven Episoden in allen Altersgruppen stetig an. Nach 2004 fiel die Zahl der Diagnosen bei Kindern deutlich. Dieser Abfall nach der behördlichen Warnung dauert an, so dass die Quote der neuen Fälle pro 1000 Versicherten auf den Wert von 1999 zurückging. Bei Fortschreibung des vorher bestehenden Trends hätte die Quote bei jungen Erwachsenen 2007 bei 15,6 und bei Erwachsenen bei 20,3 von 1000 liegen müssen. Die tatsächlich beobachteten Quoten waren jedoch 9,6 bzw. 12,4 pro 1000. 

Es gibt ein gewisses Überspringen auf andere Altersgruppen. Die Hausärzte diagnostizierten 44% weniger Depressionen bei Kindern, 37% weniger bei jungen Erwachsenen und 29% weniger bei Erwachsenen. [3] 

Wenn es ein Medikament gibt, wird eine Krankheit diagnostiziert 

Anm. des Autors: Die Studie legt die Vermutung nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Medikamenten und der diagnostischen Praxis gibt. Dies stützt indirekt die eigenwillige These, dass deutlich mehr MCS-Fälle diagnostiziert werden würden, gäbe es eine behördlich empfohlene Pille gegen MCS. Da Antidepressiva in den meisten Fällen keine pharmakologische Wirkung auf die Depression haben, sollte die Erfindung eines solchen Medikaments die Pharmaindustrie eigentlich vor keine größeren Schwierigkeiten stellen. 

In Spanien suchte man jüngst nach den Gründen für den gestiegenen Psychopharmakagebrauch. Dort nehmen 24% der Frauen Antidepressiva und 30% Tranquilizer. 

Psychopharmaka werden oft in Zusammenhang mit familien- und arbeitsplatz-bezogenen Problemen genommen. Daher untersuchte man, ob es wirklich eine Verbindung zwischen dem Psychopharmakakonsum und tatsächlich in irgendeiner Hinsicht dysfunktionalen Familien gibt.

Obwohl man vermuten sollte, dass ein Zusammenhang zwischen Psychopharmakakonsum und familiären Konflikten besteht, fand die Studie mit 121 Frauen keinen derartigen Zusammenhang. [4] 

Depressionen sind nicht leicht zu diagnostizieren

Eine Metaanalyse von mehr als 50.000 Patienten hat gezeigt, dass Allgemeinärzte große Schwierigkeiten haben, zwischen Menschen mit und ohne Depression zu unterscheiden. Die Anzahl der falsch als nicht depressiv bzw. depressiv diagnostizierten Patienten ist ausgesprochen substanziell. Die Ärzte identifizieren bei der Erstuntersuchung deutlich mehr Leute falsch positiv oder falsch negativ als richtig positiv 

Zur Illustration stelle man sich einen typischen Allgemeinarzt in einer ländlichen Praxis vor, der versucht, Depressionen zu erkennen, und in fünf Tagen 100 Patienten sieht. Wenn alle Patienten mit Depression auf einmal kämen, würden sie die Praxis für einen halben Tag füllen (also etwa den Mittwoch). Der Arzt würde jedoch nur die Hälfte der Depressionen erkennen. An den anderen vier Tagen sieht der Arzt Patienten mit anderen Beschwerden. Davon würde er ein Fünftel als depressiv diagnostizieren. Dass entspräche fast der Anzahl, die er an einem ganzen normalen Arbeitstag sieht. 

Falsch diagnostizierte Fälle sind häufiger als richtig diagnostizierte

Konkret kommen auf 100 Patienten, die der Allgemeinarzt zum ersten Mal sieht, durchschnittlich 10 korrekt als depressiv diagnostizierte Patienten, 15 fälschlich als depressiv diagnostizierte und 10 nicht erkannte Fälle von Depression. 

Damit kommen auf eine richtige Diagnose 2,5 falsche Diagnosen. [5] 

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 27. November 2009 

Referenzen:

[1] Mark Olfson, Steven C. Marcus, National Patterns in Antidepressant Medication Treatment, Arch Gen Psychiatry 2009; 66[8]:848-856.

[2] Michael Moore et. al., Explaining the rise in antidepressant prescribing: a descriptive study using the general practice research database, British Medical Journal  2009;339:b3999.

[3] Anne M. Libby et.al., Persisting Decline in Depression Treatment After FDA Warnings, Arch Gen Psychiatry. 2009;66 [6]:633-639.

[4] Sonsoles Pérez Cuadrado et.al., Consumo de psicofármacos y disfunción familiar,  Atención Primaria; 41(3):153-157 marzo de 2009.

[5] Alex J Mitchell et.al., Clinical diagnosis of depression in primary care: a meta-analysis, The Lancet, Volume 374, Issue 9690, Pages 609-619, 22 August 2009

Auch interessant, die von Karlheinz geschriebene Serie:

Psychiatrisierung bei MCS ein Irrweg Teil I – XII

4 Kommentare zu “Notizen aus der schönen neuen Welt”

  1. yolande 27. November 2009 um 14:32

    Ein Problem unsrer Zeit ist, dass die Gesellschaft mithilft. Wenn es für alles eine Pille gibt, ja warum dann lernen Probleme auf menschlicher Ebene zu lösen? Pille rein und fertig, man wird wieder „ordnungsgemäss“ nach den Gesellschaftsnormen funktionnieren.

    Das ans System angepasst sein müssen (vermeintlich sein zu müssen) hilft natürlich diesen Trend weiter in Schwung zu halten. Um den Kreis zu unterbrechen bräuchte man dann aber wieder das, was man nicht hatte um die Probleme auf menschliche Art zu lösen…
    Es wäre an der Zeit zu begreifen, dass der Mensch dennoch auch hier entweder mitmachen kann oder auch nicht. Die Selbstverantwortung und das Lernen von Problemlösungen erfordert allerdings den Willen dazu haben zu wollen, zu mobilisieren – was nicht gratis zu haben ist.
    Da beginnt dann das, was die Pille sehr viel einfacher schafft – auf den ersten Blick – denn jede Pille hat auch Nebenwirkungen und das ist die einzige Sicherheit die man bei jeder Pille hat, mit Verzögerung – kaum wahrnehmbar zuerst oder aber schnell merkbar.
    Warum also nicht den leichteren Weg gehen und den Willen einsetzen die eigentlichen Probleme zu lösen als den sehr viel schwereren Weg zu gehen Pillen zu schlucken und danach noch sehr viel mehr Willen aufbringen müssen um davon wieder los zu kommen – was tlw. fast nicht mehr möglich ist.
    Diese Reflexion betrifft nur den Pillenschlucker, dem Hersteller sind diese Aspekte zwar nicht ganz egal – man stelle sich vor zuviele würden ihren Willen einsetzen und auf Pillen verzichten! – doch eigentlich zählen hier nur die Zahlen – ALLE.

    Was hier nicht zur Debatte steht, sind die tatsächlich an Depressionen erkrankten Menschen.

  2. Analytiker 28. November 2009 um 11:18

    Zitat: „Wenn es ein Medikament gibt, wird eine Krankheit diagnostiziert

    Anm. des Autors: Die Studie legt die Vermutung nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Medikamenten und der diagnostischen Praxis gibt. Dies stützt indirekt die eigenwillige These, dass deutlich mehr MCS-Fälle diagnostiziert werden würden, gäbe es eine behördlich empfohlene Pille gegen MCS. Da Antidepressiva in den meisten Fällen keine pharmakologische Wirkung auf die Depression haben, sollte die Erfindung eines solchen Medikaments die Pharmaindustrie eigentlich vor keine größeren Schwierigkeiten stellen.“

    Gäbe es ein Medikament zur Behandlung von Chemikalien Sensitivität, würde man MCS auch ganz selbstverständlich diagnostizieren. Allerdings weisen die meisten MCS Betroffenen eine ausgeprägte Medikamentenunverträglichkeit auf, sprich die Pharmaindustrie hat nichts zu verdienen. Abgesehen von dem Wörtchen „Chemie“ in der Krankheitsbeschreibung, ist diese weitere Tatsache ein nicht unerheblicher Aspekt, warum MCS nach wie vor ein Schattendasein bei der Diagnosestellung spielt und auch weiter spielen wird. Schließlich ist das Gesundheitssystem mittlerweile ein Gesundheitsmarkt. MCS stellt für den Gesundheitsmarkt kein lukratives in Aussicht. Aber da man in Deutschland weiterhin über die WHO-Klassifizierung von MCS als organische Erkrankung hinwegsieht und MCS psychogenen Ursachen zuschreibt, schließt sich der Kreis und der Gesundheitsmarkt floriert auch auf diesem Sektor. Psychiater, Psychotherapeuten, Reha-Kliniken und auch die Pharmaindustrie schaffen sich somit Marktanteile durch systematische Fehldiagnosen.

  3. Maria Magdalena 30. November 2009 um 17:14

    Danke Karlheinz,

    dass Du dieses brisante Thema aufgreifst. Es ist nicht zu übersehen, dass die Zahl der Depressiven immer dramatischer steigt. Für manche- ein lohnendes Geschäft, für andere- eine Reise in die Tiefe.

    Doch ist der Mensch dazu geschaffen worden, ein Pillen schluckender Zombie zu sein? Und wie viele Vergewaltigungen an Mensch und Natur sind noch nötig, bis das Kartenhaus zusammenbricht? Bis die Krebsgeschwulst keinen Raum mehr hat?

    Der Hoffnungsschimmer: Eines Tages wird es eine andere- gesündere- Welt geben, einen Neuanfang nach dem Untergang. Die Erneuerung, die ständig im schöpferischen All stattfindet.

  4. Maria Magdalena 30. November 2009 um 23:53

    Die Medikamente Prozac (Fluctin), Zoloft (Sertralin) oder Paxil (Seroxat), die gegen psychische Krankheiten wie Depressionen eingesetzt werden, erhöhen bei den Patienten offenbar das Selbstmordrisiko.

    Das zeigt eine Untersuchung des Ottawa Health Research Institute in Zusammenarbeit mit der McGill University in Montreal und der University of Wales.

    Patienten, die diese so genannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) konsumierten, zeigten ein zweifach höheres Selbstordrisiko wie Patienten, die Scheinmedikamente nahmen oder auf andere Weise behandelt wurden.

    Anders war es allerdings bei den so genannten trizyklischen Antidepressiva, die bereits länger auf dem Markt sind. Der Studie zufolge ist das Risiko hier genauso hoch wie bei den SSRIs.

    Selbstmord bei Kindern
    Erst kürzlich hatte eine Studie der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA ergeben, dass die Mittel bei Kindern Selbstmordgedanken und die Tendenz zum Selbstmord verstärken.

    Dieser Verdacht bestand bereits seit 15 Jahren. Von Pharmaunternehmen und vielen Fachleuten war er jedoch nicht ernst genommen worden.

    Die kanadischen Forscher überprüften insgesamt 702 klinische Studien mit 87.650 Patienten, die unter anderem an Depressionen, Angststörungen oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) litten, auf die Zahl der Selbstmordversuche und Selbstmorde hin.

    Wie die Wissenschaftler um Dean Fergusson jetzt im British Medical Journal berichten, zeigte die Untersuchung „einen Zusammenhang zwischen Selbstmordversuchen und dem Einsatz von SSRIs“. (BMJ, Vol. 330, S.396 2005)

    Quelle:
    http://www.sueddeutsche.de/wissen/570/324436/text/

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