Analyse: „Selbstberichtete MCS“ statt MCS ICD-10, T78.4 in einer Multicenter-Studie

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Ganz gleich, ob man als gewissenhafter Arzt beruflich mit der Erkrankung MCS zu tun hat oder ob man als Privatperson mit MCS konfrontiert ist: Man kann es wirklich nicht mehr hören, das Unwort „selbstberichtet“ in Zusammenhang mit MCS  – Multiple Chemical Sensitivity, Multiple Chemikalien-Sensitivität, ICD-10: T78.4.

Soll uns das Wort „selbstberichtet“ bei MCS suggerieren, es gäbe keine Diagnosemöglichkeiten für diese Erkrankung? Doch MCS ist diagnostizierbar, sowohl an Hand von Diagnosekriterien, als auch durch diagnostische Messwerte.

Soll „selbstberichtete MCS“ suggerieren, es gäbe die Erkrankung MCS mit direkten körperlichen Reaktionen auf Chemikalien nicht? Auch das ist durch diverse Studien widerlegt und festgehalten im ICD-10 für MCS: T.78.4.

Und wie sollen wir uns eigentlich einen Kranken mit „selbstberichteter MCS“ vorstellen? Als einen Spinner, der einem verdutzten Arzt die Worte an den Kopf wirft: „Ich habe MCS“? So etwas macht man ja bei anderen Erkrankungen schließlich auch nicht, außer man wird gebeten, einen Anamnesebogen auszufüllen.

Was hat es mit der Wortschöpfung „selbstberichtet“ auf sich?

Soll sie etwa Journalisten verwirren, wie kürzlich in der „Österreichischen Ärztewoche“ geschehen? Da wird doch aus dem Multicenter-Unwort „selbstberichtete MCS“ (Englisch „self-reported MCS“) unbemerkt die Wortneuschöpfung „self related MCS“ erfunden und gleich anschließend auch noch selbst und falsch interpretiert als Hinweis auf psychiatrische Aspekte.

Genug der Spekulationen!
Nehmen wir den aktuellen Vorfall in der „Österreichischen Ärztewoche“ zum Anlass, den Begriff „selbstberichtete MCS“ in der oben angesprochenen deutschen Multicenter-Studie etwas genauer zu durchleuchten.

Die deutsche Multicenterstudie sollte als Pilotstudie einen groben Überblick über die Erkrankung MCS geben. Durchgeführt im Jahr 2000 (ergänzt im Jahr 2003) rekrutierte man die Studienteilnehmer aus den allgemeinen Patienten der Umweltambulanzen und versuchte, diese Umweltambulanzbesucher bereits vor Studienbeginn in zwei Gruppen aufzuteilen: MCS-erkrankt, ja oder nein.

Wie wurde die Aufteilung in Gruppen im Jahr 2000 durchgeführt?
1) Einteilung in 2 mögliche Gruppen: sMCS / Nicht-sMCS:
„Auf der Ebene 0 (Studieneingangsebene) wurde die Selbsteinstufung der Patienten zugrunde gelegt und die Gruppe der Patienten mit selbstberichteter MCS (sMCS) den übrigen Umweltambulanzpatienten (Nicht-sMCS) gegenübergestellt.“
S.18 unten und S.19 oben in 1.Teil der Studie.

2) Wann und wie gelangte man zu der Selbsteinstufung des Patienten?
„Beim Erstkontakt oder spätestens beim ersten Ambulanztermin wurde eruiert, ob der Patient schon etwas über MCS gehört hatte und ob er vermutete, selbst an MCS erkrankt zu sein (sog. selbstberichtete MCS = sMCS).“
S.70 in 1.Teil der Studie

3) Wie wurde die Selbsteinstufung des Patienten eruiert?
Frage im EKB (Erstkontaktbogen), EKB S.21 im Anlagenband:

„Bezeichnete sich der Patient beim Erstkontakt als „MCS erkrankt“?

  • Ja (selbstberichtete MCS = sMCS)
  • Nein
  • Nicht erfragt

(Anmerkungen: 1) Die Antwortmöglichkeit „diagnostizierte MCS“ ist nicht gegeben.
2) Jeder Erkrankte ist automatisch „selbstberichtet“ erkrankt.)

4) War dies schon alles bezüglich Selbsteinstufung?
„Alle Auswertungen, denen die Gegenüberstellung von sMCS und Nicht-sMCS zugrunde liegen, basieren auf den Angaben zur Frage 54 des BDB.“ S. 81 in 1.Teil der Studie.

5) Die Frage 54 des BDB (Ärztlicher Basisdokumentationsbogen) ist gerichtet an den Arzt und lautet:

„Einstufung auf der Studien-Eingangsebene (E 0 ), S.136 im Anlagenband:
War der Patient aus Ihrer Sicht in die sMCS-Gruppe einzuordnen (= selbstberichtete MCS-Erkrankung)? ja / nein“
(Anmerkung: „Nein“ hieße: nicht an MCS erkrankt.)

Wenn wir nun Punkt 4) und 5) in Einklang bringen bzw. zusammen betrachten, so lässt sich feststellen: Ausschlaggebend für die Gruppenzuordnung und damit für die Diagnosestellung war letztlich also die ärztliche (!) Beurteilung darüber, ob der Patient an MCS erkrankt ist oder nicht.

Somit wollen wir zu sMCS festhalten:
„Selbstberichtet MCS“, sMCS, bedeutet: Sowohl nach Einschätzung des Patienten als auch, und das ganz ausschlaggebend, nach Einschätzung des Eingangsarztes liegt die Erkrankung MCS vor.

Bei dieser einstimmig ermittelten Diagnosestellung müsste sich aber ein weit besserer Krankheitsname finden lassen als „selbstberichtete MCS“. Wie wäre es, ganz einfach, mit MCS:

Multiple Chemical Sensitivity, Multiple Chemikalien-Sensitivität, ICD-10: T78.4


Autor: Annamaria für CSN  – Chemical Sensitivity Network, 6. Mai 2009

Weitere CSN Blogartikel zum Thema MCS ICD-10:

11 Kommentare zu “Analyse: „Selbstberichtete MCS“ statt MCS ICD-10, T78.4 in einer Multicenter-Studie”

  1. Henriette 6. Mai 2009 um 12:53

    Danke für diesen Beitrag, er spricht mir aus der Seele. Das, was in der großangelegten Multicenterstudie mit MCS Kranken veranstaltet wurde, sucht Seinesgleichen im Gesundheitssystem. Bei keinem anderen Krankheitsbild, wird so diffamierend verfahren, als mit MCS Kranken. Es ist purer Hohn, was man als schwer kranker Mensch alles erdulden muss. Daher bin ich äußerst erfreut, über das Engagement im MCS – Aufklärungsmonat Mai, der dazu beiträgt, dass solche Vorgehensweisen hoffentlich beendet sind. Das hier beschriebene Studiendesign ist meiner Meinung nach strafbar und das ALLERLETZTE.

    Ich bin an MCS – Multiple Chemikalien-Sensitivität, ICD-10: T78.4 erkrankt und zwar laut meinen Befunden und nicht weil ich mich selbsternannt habe. Das ist kaum in Worte zu fassen, was mit uns veranstaltet wird.

    Danke an Annamaria für diesen tollen Blog.

    Herzliche Grüsse
    Henriette

  2. K. Fux 6. Mai 2009 um 14:07

    Dem bisher Gesagten kann ich mich nur anschließen, genauso denke ich auch. Es ist eine Unverfrorenheit, wie man mit uns MCS Kranken in Deutschland umgeht. Nicht nur das Falschgutachten in Renten- und Sozialverfahren bei MCS Patienten die Normalität darstellen, und man uns dadurch um unsere Ansprüche prellt, sondern dass nunmehr ganze Studien diese Handschrift tragen, ist besorgniserregend und eine Ungeheuerlichkeit, die man kaum überbieten kann.

    Dass wir so krank sind und eine Multiple Chemikalien Sensitivität entwickelt haben, dafür können wir ja nichts, aber die Fehlpolitik der Verantwortlichen, die es nach wie vor zulassen, dass toxische Produkte in den Handel kommen und die ahnungslosen Verbraucher Gefahr laufen, das gleiche Schicksal zu erleiden wie wir, ist schon mehr als bedenklich.

    Auch ich habe MCS, und zwar laut Arztberichten, gestützt auf meine vielfältigen auffälligen Laborwerte und Beschwerden, und ich kannte MCS vor Diagnosestellung überhaupt nicht. Was soll das mit der ständigen selbstberichteten MCS, wo leben wir eigentlich???

  3. Mary-Lou 6. Mai 2009 um 15:06

    Mir geht es ebenso wie meinen Vorrednern!

    Ich durchlebte eine jahrelange Ärzteodyssee, bis ich endlich an einen kompetenten Umweltmediziner gelangte, der endlich feststellte, dass ich an Multipler Chemikalien Sensitivität erkrankt bin. Hätte ich diese Diagnose früher erhalten, könnte ich vielleicht heute noch Arbeiten, aber so, durch die vielen verflogenen Jahre, ist meine MCS Erkrankung so weit fortgeschritten, dass dies nun nicht mehr möglich ist. Mir geht der Hut hoch, wenn ich „Selbstberichtete MCS“ lese. Mein Arzt hat bei mir MCS diagnostiziert mich über diese Umwelterkrankung informiert, ich kannte MCS bis dahin nicht.

    Die Art und Weise, wie vielfach mit MCS Patienten verfahren wird, wie schon zuvor von K. Fux und Henriette erwähnt, ist absolut nicht hinnehmbar, sondern entwürdigend und verletzend.

    MCS Kranke sind Patienten wie andere auch, nur sollte man sie auch als solche behandeln.

    Ein großes Dankeschön an Annamaria und CSN für diesen Blogbericht.

  4. Juliane 6. Mai 2009 um 16:28

    Liebe Annamaria,

    gut, dass Du hier Tacheles redest!

    „Wie wäre es, ganz einfach, mit MCS:

    Multiple Chemical Sensitivity, Multiple Chemikalien-Sensitivität, ICD-10: T78.4“

    In der Tat, wie wäre es , sich an die Regeln zu halten?

    Was ist das überhaupt für ein Land, wo man auf Internetseiten einer RKI nahen gGmbH lesen kann:

    „Sie haben sich entschlossen, einen umweltmedizinisch tätigen Arzt aufzusuchen? Der folgende Text hilft Ihnen, sich auf den Besuch vorzubereiten und sagt Ihnen, worauf Sie achten müssen.

    Es kann sein, dass während des Erstgesprächs deutlich wird, dass der Arzt und Sie als Ratsuchender/Patient recht unterschiedliche Auffassungen darüber haben, woher Ihre Beschwerden kommen können, wie man sie am besten diagnostiziert und therapiert. Oft geht es hier um Vorgehensweisen der wissenschaftlich orientierten Medizin einerseits und alternative Untersuchungs- und Behandlungsverfahren andererseits. Ein erfahrener Umweltmediziner wird in diesem Fall die unterschiedlichen Sichtweisen offen ansprechen und im Bündnis mit Ihnen das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen festlegen.

    Dieses „Arbeitsbündnis“ ist auch und gerade dann sinnvoll, wenn im Verlauf des Gesprächs der Arzt die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Ihre Beschwerden psychosomatisch oder psychisch bedingt sein können, während Sie davon überzeugt sind, dass sie aus der Umwelt herrühren. Hier ist die Verständigung zwischen dem Arzt und Ihnen als Ratsuchenden/Patienten darüber, dass umweltbedingte Gesundheitsstörungen sowohl eine körperliche als auch eine psychische Komponente haben können, wichtig. In diesem „Arbeitsbündnis“ können der Arzt und Sie gemeinsam festlegen, dass zu einem geeigneten späteren Zeitpunkt eine psychotherapeutische Untersuchung und Betreuung sinnvoll sein kann.“

    „Literatur:
    Beyer, A. und A. D. Kappos (2002): Praktische Hinweise für die Arzt-Patienten-Kommunikation. Anhang: Checkliste für das ärztliche Gespräch im Rahmen des umweltmedizinischen Untersuchungsganges. In: Folgelieferung 1/2002 zum Springer Loseblatt-System „Praktische Umweltmedizin”. Hrsg.: A. Beyer, D. Eis. Springer Verlag, Sektion 11.03

    Kommission „Methoden und Qualitätssicherung in der Umweltmedizin“ (2001): Untersuchungsgang in der Umweltmedizin. Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 44:1209-1216″

    http://www.allum.de/service-links-checkliste_umweltmedizin.html

  5. Astrid 6. Mai 2009 um 18:37

    Danke Annamaria!
    Super recherchiert hast Du.

    Für Jeden, der mehr wissen will, über die s-Experten, der kann im Forum von csn „Dicke Akten“ finden.

    http://www.csn-deutschland.de/forum/showboard.php?id=49

  6. G. Hinsche 7. Mai 2009 um 09:41

    Wie fast alle Betroffenen, wusste auch ich nichts über MCS.
    Da ging es mir so wie allen Ärzten mit denen ich zu tun hatte. Mein Zustand war so, daß ich Krankenhaus und Kur,
    OB überstanden habe, aber weiter arbeitsunfähig war. EU Rente gab es dann befristet. Durch einen Fernsehbericht
    habe ich dann erstmals etwas über MCS gehört und gesehen. Das „s “ vor MCS hat mich von Anfang an gestört und so habe ich ab da, zwar auf MCS hingewiesen, aber im gleichen Satz gesagt, dass ich nicht behaupte MCS zu haben.
    Mein derzeitiger Befund – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit MCS – mehr ging nicht, denn ich war mit entsprechenden
    Reaktionen schneller aus dem Behandlungsraum raus als rein. Der Befund reicht aber, Rente wurde verlängert, 50 Gdb gab es dann auch -ich kann also weiter existieren.

  7. Supergirl 7. Mai 2009 um 13:11

    Auf solche Verunglimpfungen können nur sExperten kommen!

    Es ist ein Skandal, wie man mit uns MCS Patienten umgeht.

    Danke Annamaria, dass Du der Öffentlichkeit zuträglich machst, welchen Stellenwert die Erkrankung Multiple Chemical Sensitivity – MCS, bei sExperten hat. Das ist alles unglaublich. Hätte ich kein Internet, wüsste ich überhaupt nicht, was sich hinter meinem Rücken tut, so bin ich wenigstens auf dem Laufenden, dass einige Ärzte ihren einst geleisteten Eid, wohl komplett vergessen zu haben scheinen.

  8. Holly Wood 7. Mai 2009 um 14:19

    Wie auch alle vor mir berichtet haben, bekam ich die Diagnose MCS durch einen praktizierenden Arzt gestellt, nach einer intensiven Anamnese sowie umfangreichen Laboruntersuchungen. Es kamen etliche Befunde zu Tage, die meine schwere MCS Erkrankung bestätigten.

    Die hier beschriebene Multicenter-Studie ist m. E. Vortäuschung falscher Tatsachen. Die dort tätig gewordenen Akteure, sollten überlegen, ob sie den richtigen Beruf gewählt haben, denn die Art und Weise, wie hierbei mit Kranken umgegangen wurde, ist nicht nur haarsträubend, sondern m. E. kriminell.

  9. Analytiker 7. Mai 2009 um 15:45

    Meine Meinung zur MCS-Multicenter-Studie, deckt sich mit den Ansichen ausländischer Wissenschaflter:

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/02/14/auslaendische-wissenschaftler-in-der-medizin-fragen-whats-up-in-germany/

    Zu hoffen ist, dass sich die Deutsche Wissenschaft schnellstmöglich wieder auf den Boden der Realität begibt, nicht dass der Forschungsstandort Deutschland durch diese besondere „Qualität“ der Studien, aufs Spiel gesetzt wird und Deutschland internationalen Anschluss verpasst.

    Ansonsten verkneife ich es mir an dieser Stelle, meine Meinung über die sog. sExperten und deren Vorgehen zu äußern.

  10. Wanderfalke 8. Mai 2009 um 17:14

    Immer die alte Leier, ich möchte gerne wissen, wie der Begriff „selbstberichtete MCS“ überhaupt zu Stande kam. Ob sich die Herrschaften am runden Tisch überlegt haben, wie sie uns MCS Kranke diffamieren können, oder ob es einer der Herren in weiß ins Leben berufen hat, und dann von den anderen Mitläufern übernommen wurde.

  11. Zara 24. Juli 2009 um 16:33

    Das ist hinterhältig und diskriminierend. Kein Arzt und kein Mensch käme im Entferntesten auf die Idee selbstberichteter Krebs oder selbstberichtete Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, selbstberichtetes Erbrechen zu sagen. Oder?

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