In Gedenken an Brigitte S.

Dieser Blog erscheint mit Absicht am Tag und zur Stunde der Trauerfeier. Er soll uns daran erinnern, dass das Leiden von Brigitte S. und ihr Tod nicht umsonst sein dürfen.

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Es beginnt

Brigitte arbeitete seit ihrer Lehre als Zahntechnikerin. Dabei hatte sie Kontakt mit einer Reihe von Stäuben, Metallen, Desinfektionsmitteln, Kunststoffen, Klebern, Lösungsmitteln u.v.m. Sie hatte keine Ahnung von den Gefahren ihres Berufs, wusste nichts über die Auswirkungen auf ihren Körper. Sie beobachtete psychische Veränderungen an ihren Arbeitskollegen, viele waren cholerisch. Aber sie erkannte den Zusammenhang zwischen der Arbeitsumgebung, der Arbeitsbelastung und dem Verhalten ihrer Kollegen nicht als krankheitsauslösend. „Beruflicher Stress“ war die gängige Erklärung.

Bis Ende 2003 zwang Brigitte sich zum Durchhalten im Job, dann zeigte ihr Körper sehr deutlich seine Grenzen: Gewichtsabnahme, Schmerzen am ganzen Körper, Tinnitus, Übelkeit, Schlaf- und Sehstörungen, Müdigkeit, Gedächtnisabfall und Desorientierung. Die Symptome traten nicht alle gleichzeitig auf. Immer mal eines, dann ein anderes. Ihr Körper veränderte sich, das spürte sie ganz deutlich.

Wie jeder Kranke ging Brigitte von Arzt zu Arzt: Hausarzt, Augenarzt, HNO, Internist… Sie bekam Einzeldiagnosen auf die Symptome und Medikamente. Nur wirksame Hilfe bekam sie nicht. Sprüche hörte sie häufiger: „So viele Allergien wie Sie kann kein einzelner Mensch haben.“ Kein Arzt durchschaute die Zusammenhänge, untersuchte mögliche Ursachen, nichts. Interdisziplinäre Konsultationen – was ist das denn?

Die Psychiatrisierung

Anfang 2004 begann das, was MCS-Kranke nur zu gut kennen: Erst eine ambulante psycho-therapeutische Behandlung, dann ein mehrmonatiger Klinikaufenthalt.

Für Brigitte muss die Zeit in der Klinik schwer gewesen sein. Stationäre Aufnahme bedeutete für sie: Keine Außenkontakte zum Ehemann oder Verwandten, nur am Wochenende Besuch, Medikamentengabe bar jeder Verträglichkeitsprüfung, Umnebelung, Ruhigstellung,…Wer aufmuckte, oder sich beschwerte, wer seiner Verzweiflung über die sich nicht ändernde Krankheitssymptome zum Ausdruck brachte, wer den Druck nicht aushielt, der wurde auffällig und machte sich unbeliebt. Die Medikamentengabe führte zu einer Sedierung, die Umnebelung nahm zu, Bauchkrämpfe traten auf, und einen klaren Gedanken fassen konnte sie nur selten.

Der Klinikaufenthalt hat schlussendlich an den zahlreichen körperlichen Symptomen nichts geändert. Brigitte wurde mit der gleichen Diagnose entlassen, mit der sie ihren Aufenthalt begann. Behandlungsvorschlag für die Zeit danach: „…vor allem Antidepressivabehandlung unbedingt sinnvoll, aktuell keine Rehaindikation, derzeit auch noch keine erhebliche Minderung der Erwerbstätigkeit.“

Auf sie wirkten kurze Zeit später die Worte eines Gutachtens wie Hohn. Zitat:

„… Sie erlebte die Klinikzeit wie einen Neubeginn des Lebens, wo sie wünschen und wollen darf, statt nur zu funktionieren und zu gehorchen. Ihre körperlichen Schmerzen begannen, sich in seelische Schmerzen zu verwandeln….“

Kann das wahr sein? Schmerzen bleiben Schmerzen, egal welche Ursache sie haben! Brigitte wurde aus medizinischer Sicht auf Zeit als arbeitsunfähig eingestuft. Andererseits schloss man eine Erwerbsminderung aus. Verstehe das, wer will.

Die wahre Diagnose: MCS

Im September 2004 besuchte Brigitte einen Qi Gong-Kurs. Voller Hoffnung hatte sie daran teilnehmen wollen, um etwas Ablenkung von ihren Sorgen und Schmerzen zu bekommen, um ihrem Körper etwas Gutes zu tun. Doch schon die Autofahrt dorthin, obwohl nicht sehr lang, machte ihr Schwierigkeiten. Im Laufe der Übungen traten vermehrt Schmerzen auf.

Durch eine andere Kursteilnehmerin mit MCS erfuhr Brigitte zum ersten Mal, dass ihre Krankheitssymptome auch ganz andere Ursachen haben könnten. Im Oktober 2004 besuchte sie zusammen mit ihrem Ehemann zum ersten Mal Dr. Binz in Trier. Im Februar 2005 lagen die kompletten Untersuchungsergebnisse vor:

„Schwere Neuropathie, schwere Myopathie, Ataxie, Hörminderung, Überempfindlichkeit gegenüber lauten Tönen, schwere Störung der Leistungen in der Psychometrie, schwere und vielfältige chemische Überempfindlichkeit, schwere Störung der Glukose-Utilisation im PET nach insgesamt 35 Jahren Arbeit als Zahntechnikerin.“ Mit anderen Worten: Brigittes Gehirn war auch noch schwer geschädigt. Und es war eine Erklärung für viele Beeinträchtigungen der Sinnesorgane.

Was dann?

Jetzt hatte Brigitte zwar eine exakte Diagnose, wusste, dass sie nie mehr arbeitsfähig sein würde und einen Rentenantrag stellen sollte – mehr aber nicht. Der Begriff „Expositionsvermeidung“ sagte ihr nicht viel. Noch schlimmer – sie bezog es auf die alte Arbeitsumgebung. Arbeiten konnte sie nicht mehr – also war alles gut. Auf die Idee, dass noch etwas anderes damit gemeint sein könnte, kam sie nicht. Die „Überprüfung der Lebensbereiche nach möglichen weiteren Auslösern“ ging in anderen, für sie wichtigeren Aktivitäten unter. Es gab und gibt keine Schulung, die Menschen mit dieser Diagnose auf ihre neuen Lebensumstände vorbereitet. Keine Stelle erklärte die Zusammenhänge, die notwendigen Veränderungen in der Lebensführung, und all das Notwendige zur Verbesserung der eigenen Situation.

Das Pragmatische – der Rentenantrag – wurde gestellt und führte zu neuen, seelischen Belastungen. Weil die Diagnose von Dr. Binz so nicht anerkannt wurde, musste Brigitte zur Begutachtung zum Medizinischen Dienst. Wie sie dort behandelt wurde, welche zum Teil dreisten und überflüssigen Fragen gestellt wurden, brachte sie fast zur Verzweiflung. Die Krönung: Ihrem Rentenantrag wurde Monate später nur aufgrund des Entlassungsberichtes aus der stationären psychotherapeutischen Behandlung stattgegeben. Mit der Diagnose MCS allein wäre der Antrag nicht bewilligt worden. Aber zu welchem Preis: Brigitte erlebte, dass sie als MCS-Kranke stigmatisiert und einmal mehr psychiatrisiert wurde.

Sie fühlte sich allein gelassen, ohne Unterstützung und Hilfe. Ein Neurologe vor Ort, den Sie wegen der langen Fahrt zu Dr. Binz als Alternative kontaktierten, zog alle Diagnosen in Zweifel und verdammte diese als Scharlatanerie. Als Höhepunkt bekam sie ein Rezept über Psychopharmaka in die Hand gedrückt.

Neue Umgebung

Zu diesem Zeitpunkt begannen sie und ihr Mann die Suche nach einem neuen Zuhause. Nach sechs Monaten Suche fanden sie eine aus ihrer Sicht geeignete Mietwohnung. Die mit der Wohnungssuche verbundenen Belastungen wie Besichtigungen, altes Haus ausmisten, Kartons packen, Kartons in die neue Wohnung fahren, neue Wohnung einrichten, altes Haus herrichten und verkaufen, all das für Nicht-Kranke Übliche, waren für Brigitte zu viel. Regenerationskuren folgten, aber nachhaltige Linderung brachten sie nicht.

Ein behandelnder Arzt stellte zu den vorhandenen Symptomen eine „Potenzierung der psychischen und toxischen Schäden“ fest. Dazu kamen diverse Nahrungsmittelunverträglichkeiten, weitere Minderung des Hörvermögens und der Durchhaltefähigkeit, Medikamentenunverträglichkeiten u.w.m.

Verschlimmerung

Brigittes Zustand in der neuen Wohnung verschlechterte sich kontinuierlich. Sie verstand nicht warum. Die neu eingerichteten Räume sahen gut aus: Parkett- und Linoleum-Böden, Flur, Küche und Bad gefliest. Vinyltapeten frisch gestrichen. Sie putzte die Wohnung, hielt alles in Ordnung. Sogar für einen Computerkurs fand Sie Zeit. Sie fing an, sich bei CSN und auf anderen Webseiten über MCS zu informieren, aber ihre geringe mentale Aufnahmefähigkeit verhinderte, dass sie verstand, was sie las. Sie konnte die Zusammenhänge nicht dauerhaft erkennen, manches wurde schlichtweg vergessen.

Nebenher unterstützten Brigitte und ihr Mann Bewohnerinnen des gegenüberliegenden Seniorenheimes. Sie lasen ihnen vor, unterhielten sich mit ihnen, gingen zusammen spazieren. Sie versuchten ein ihren Vorstellungen entsprechendes Leben zu führen, soweit Brigittes Krankheit es eben zuließ.

So merkte sie lange Zeit nicht, dass verschiedene Ausdünstungen zur Vernebelung des Geistes beitrugen. Sie ahnte nicht, dass die Weichspülerdüfte aus der gemeinsamen Waschküche ihr zusetzten. Sie wusste zwar, dass es Elektrosensibilität gibt. Sie sah die Sendemasten für Mobilfunk, maß ihnen aber zunächst keine Bedeutung bei. Später einmal wird Brigitte schreiben: „Ich habe die Krankheit lange nicht verstanden und jetzt im Schnelltempo erleben müssen, was es heißt.“

Der Zusammenbruch

Der örtliche Wasserversorger musste im Jahr 2008 seine Talsperre sanieren. Die Stadt, in der sie wohnte, stellte die Versorgung auf Grundwasserbrunnen um. Keime im Wasser führten dazu, dass das Trinkwasser gechlort abgegeben werden musste. Brigitte nutzte dieses Wasser täglich: Waschen, duschen, kochen, trinken.

Zudem war Brigitte mitten in die Einflugschneise des Köln-Bonner Flughafens gezogen. Tag und Nacht flogen die Flugzeuge über ihr Haus. Da der Flughafen über ein radargesteuertes automatisches Landesystem (ILS) verfügt, kam zum Funkverkehr und übermäßigem Lärm eine ständige Radarbelastung hinzu.

Im Herbst 2008 besuchten Brigitte und ihr Mann ein Konzert in Siegburg. Der Saal war voll, Besucherinnen trugen Parfüm, die Männer umwaberte Deogeruch. Das Konzert war großartig, mit einer Bühnenshow, die als Höhepunkt ein Lichtgewitter, Nebelschwaden und ein Minifeuerwerk vorsah. Mitten in diesem Höhepunkt musste Brigitte schlagartig den Saal verlassen. Sie konnte den Gestank, den Rauch, einfach alles nicht mehr auszuhalten!

In den nächsten Tagen und Wochen fühlte sich Brigitte einfach nur schlecht. Die Schlafstörungen nahmen zu, das Brennen im Körper, ihr Körpergewicht reduzierte sich. Alles tat weh. Ohnehin schon lärmempfindlich sorgte der Fluglärm für eine Kakophonie in Brigittes Ohren.

Nur ganz langsam konnte sie sich mit Hilfe ihrer Freundin, die ebenfalls MCS hatte, mit Abwehrmaßnahmen beschäftigen: Gegen die Weichspüler-Düfte wurde ein Untertürschutz angebracht. Das DECT-Telefon wurde zunächst gegen ein Eco-DECT-Telefon ausgetauscht, dann nochmals gegen ein ISDN-Tastentelefon. WLAN wurde komplett abgeschaltet und der Internetzugang per Kabel hergestellt; Energiesparbirnen gegen normale Glühlampen ausgewechselt. Doch Brigittes Zustand stabilisierte sich nicht. Sie spürte die Batterie in einer Armbanduhr. Außenkontakte wurden eingestellt. Nur die Freundin durfte sie noch besuchen, weil sie „nach nichts roch“.

Ihr Ehemann sah die Veränderungen, aber er verstand sie nicht. Im nagelneuen Auto konnte er Brigitte nicht mehr zu einem der wenigen, verständigen (!) Umweltärzten fahren, die es in Deutschland gibt und die vielleicht noch hätten helfen können.

Mitte 2009 wog Brigitte nur noch 46 Kilogramm. Die Symptome hatten Sie fest im Griff. Sie konnte sich nicht allein waschen, kam nicht in die Badewanne hinein, geschweige denn hinaus. Dazu die ständigen Schmerzen, die Hoffnungslosigkeit, jemals aus dieser Wohnung herauszukommen. Kein Fenster durfte mehr geöffnet werden, wenn Brigitte im Raum war, die Haustür nur ganz kurz für ein schnelles Raus/Rein. Jedes kleinste Geruchsmolekül wurde von Brigitte wahrgenommen, jedes elektrische Gerät. Die Atemschutzmaske war ihr ständiger Begleiter.

Silvia Müller telefoniert mit ihr, schickte Sauerstoff und Keramikmaske. Dazu weitere Ratschläge. CSN half! Kein Arzt, keine Krankenkasse, kein Nachbar, kein Angehöriger und schon gar keine andere Stelle.

Ganze Tage hat sie ihr Schlafzimmer nicht verlassen. Die Hypersensibilisierung nahm zu. Zwei neue Schränke rochen zu stark. Also raus mit den Schränken, Nachbarn aus dem Ort konnten sie gebrauchen.

Brigittes stellte ihre Nahrung um und zog einen Baubiologen hinzu: Er fand heraus, dass im Mietshaus ein DECT-Telefon 1000-fach (!!!) über dem Normwert strahlte. Die Wohnung lag im Mittelpunkt der Radarstrahlen. Die Fußböden aus Linoleum gasten ebenso aus wie die Vinyltapeten und der Kleber des Parketts. Die Katastrophe war perfekt. Wohin mit der total geschwächten Brigitte?

Erste Verlegung

Der Baubiologe empfahl ein Seminarhaus mit Netzfreischaltung in Hessen. Sofort wurde Kontakt aufgenommen, ein Doppelzimmer reserviert, sich nach der Netzfreischaltung erkundigt. Die Wartezeit bis ein Zimmer frei war, dauerte zu lange. Per Telefon setzte sie verzweifelt ihren Hilferuf ab: „Ich halte es hier nicht mehr aus! Holt mich dringend ab! Mit jedem Flugzeug zittert mein Körper und es hört nicht auf.“ Brigitte war schreiend vor Schmerzen zusammengebrochen. Was tun? Kurzfristig wurde sie zu ihrer Freundin gebracht, wo sie nur eine Nacht verbrachte. Die Wohnung war auch nicht perfekt, aber in Bezug auf den Elektrosmog besser und sie lag nicht mehr in der Einflugschneise. Laut war es immer noch.

Am 23. Mai startete die Verlegung nach Hessen. Alles sah nett aus. Das Haus von außen schön, das Zimmer innen einfach, sauber, für Nichtkranke keine übermäßigen Gerüche. Doch welch ein Schock! Es wurde gebaut. Ein Teil der Baustelle lag direkt unter dem Zimmer und das wurde bei der Reservierung nicht erwähnt. Für Brigitte war es zu laut, der Schulweg und die Waldschule in unmittelbarer Nähe, der Bauer mähte und fuhr mit dem Trecker dauernd hin und her. Brigitte kam nicht mehr aus dem Zimmer, der total geschwächte Körper ließ nur wenige Schritte zu. Das Essen war auch nicht richtig, die Angestellten rochen nach Parfüm,…Wiederholte sich die Katastrophe?

Zweite Verlegung

Mit einem Wort – Ja! Zwei Tage brauchte es, um für Brigitte einen neuen Aufenthaltsort zu finden. Es gibt in Thüringen einen Platz, an dem sich Elektrosensible aufhalten können. Kein Strom auf dem Zimmer, nicht auf der Etage, nur in den Servicebereichen des Hauses. Damit auch: Kein Radio, kein Fernsehen. Noch wichtiger: Kein Radar und in unmittelbarer Nähe keine Landwirtschaft. Mobilfunkverbot im Haus, keine großen Straßen, kein Fluglärm, ein Naturschutzgebiet.

27. Juni 2009: Zum Glück liegt der neue Ort nur eine knappe Autostunde entfernt. Wieder hoffte Brigitte, dass diesmal alles klappen würde. Aber tief drinnen hatte sie Zweifel, die sie ihrer Freundin im letzten Telefonat schilderte. Sie lebte mit einem immer schwächer werdenden Körper und der ständigen Zunahme der Empfindsamkeit.

Die letzten Tage

Jetzt war ihr Ehemann noch mehr gefordert. Kochen, einkaufen, sie nach draußen begleiten. Drei Wochen lang versuchte er alles für sie zu tun. Auf dem Zimmer lagen am ersten Tag kleine Seifenstückchen. Voller Verzweiflung forderte Brigitte, dass diese entfernt werden.

Dennoch hatte sie stundenlange Zitteranfälle, Sprach- und Schlafstörungen. Sie wurde gereizter und aggressiver. Brigitte war nicht mehr Herrin ihrer selbst. Vor allem nachts traten schreckliche Halluzinationen auf. Mehrfach konnte ihr Mann verhindern, dass sie sich aus dem Fenster stürzte.

Alle Mühen waren vergebens. Die Hypersensibilität schlug erbarmungslos zu.

Brigittes letzte Worte waren:

„Liebe Freundin!

Ich erleide Höllenqualen, ich bin verzweifelt, habe unendliche Schmerzen. Mein Körper richtet sich gegen sich selbst. Meine eigenen Berührungen lösen Schmerzen aus. […] jedes Geräusch bedeutet Schmerzen. Selbst wenn ich esse, habe ich Schmerzen.

Ich habe Heimweh wie verrückt, aber ich habe kein Zuhause mehr, ich weiß nicht einmal wohin. Ohne Maske kann ich nicht raus. In den Wald kann ich nicht, soweit kann ich nicht gehen.

[…] Ich kann mit niemanden sprechen, tut auch schon weh und alle haben irgendeinen Duft an sich.

Nachts läuft die Hölle auf Hochtouren. Panik! Dann stehe ich im Fensterrahmen und will springen. Ich kann nichts dagegen tun, es läuft automatisch ab. Zittern ohne Ende und Schmerzen. Schreien ins Kissen, weil ich es nicht mehr aushalten kann. […]“

Brigitte schied am 21. Juli 2009 gegen 11:00 Uhr aus dem Leben.

Autoren: Bea und Michael Muth für CSN – Chemical Sensitivity Network, 30. Juli 2009

Psychische Beeinträchtigung als Folge von Chemikalien-Sensitivität – MCS

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Teil 1: MCS – plötzlich ist alles anders

Wer an MCS erkrankt ist, darf seinen Körper ganz neu kennen lernen. Plötzlich spielen bisher unbekannte Organsysteme und Körperteile verrückt. Die Zeiten, in denen einfach alles „funktioniert“ hat, sind vorbei, obwohl man erst zwanzig ist. Das Leben ist vorbei, bevor es richtig losging. Davon bleibt auch der Teil, den man gemeinhin Geist oder Seele nennt, nicht verschont. In der Fachliteratur wird dieser Teil der Wirklichkeit der Betroffenen meist in psychiatrischen Kategorien diskutiert, auf diese Weise muss man die Kranken nicht weiter Ernst nehmen. Eine Ausnahme ist Pamela Reed Gibson, sie ist Professorin für Psychologie an der James Madison University in Harrisonburg, Virginia und beschäftigt sich hauptberuflich mit MCS.

In ihrem Buch „Multiple Chemical Sensitivity, a Survival Guide (second edition)“ [1] beschreibt sie einige ihrer Ergebnisse. Viele ihrer Studienteilnehmer berichteten von erlittenem schwerem Leid und Traumatisierungen aufgrund der Veränderungen in ihrem Leben und der Verluste, die sie als Ergebnis ihrer Erkrankung hinnehmen mussten. Viele leben ohne die nötigsten Dinge, wie eine Wohnung, medizinische Versorgung und Zugang zu öffentlichen Versorgungs- und Dienstleistungen. Anderen stand das Nötigste zur Verfügung, aber sie erlebten Verluste andere Art, wie zerstörte Karrieren, nicht mehr zugängliche Bildungsmöglichkeiten, Reisen, Hobbies und verlorene soziale Integration. Weitere persönliche Demoralisierung resultierte aus dem Mangel an Aufmerksamkeit und Sorge für dieses Gesundheitsproblem von Seiten der medizinischen Berufe und der allgemeinen Öffentlichkeit. Manch einer wurde von diesen Missständen überwältigt und niedergedrückt. Ein Fünftel der Studienteilnehmer der Phase I ihrer Studie hatten ernsthaft einen Suizid erwogen, 8% hatten einen konkreten Plan gemacht und 3% tatsächlich einen Versuch unternommen.

Folgen von MCS – Verluste

Die Folgen fasst Professor Pamela Reed Gibson schließlich in drei Worten zusammen: Verlust, Verlust und nochmals Verlust. Es wirkt traumatisch, den Zugang zu fast allem zu verlieren, was man je angestrebt, wofür man gearbeitet hat und was man eines Tages für sein Leben zu erreichen hoffte.

Sie teilt die psychischen Reaktionen in direkte und sekundäre ein.

Direkte Reaktionen

Als direkte Reaktionen zählt sie dabei solche, die direkte Effekte chemischer Expositionen auf das psychische System sind. Dazu gehören Depressionen, Angst, Panik-Attacken, Irritierbarkeit, Unruhe, Verwirrung, Aggressivität oder auch äquivalente kognitiver Defizite.

Prof. Gibson betont, dass es wichtig ist, möglichst viele dieser direkten Wirkungen zu erkennen, um sie von den wahren eigenen Emotionen unterscheiden zu können. Es sei wichtig, umweltbedingte Ursachen auszuschließen, bevor man sich in der Angelegenheit mit sich selber auseinanderzusetzen versucht, oder bei anderen Rat sucht. Direkte Reaktionen fühlen sich oft wie nicht kontrollierbar an. Die Herausforderung besteht dann darin, nicht zuzulassen, dass derartige Reaktionen dazu führen, dass man seinen eigenen ethischen Maßstäben entgegen handelt. Es ist in solchen Situationen von großem Nutzen, wenn man eine nahe stehende Person hat, die zu erkennen vermag, wenn man in Verwirrung gerät, und einen dann aus der Gefahrenzone bringen kann. Letzten Endes bleibt es jedoch unsere eigene Aufgabe, die Verantwortung für uns zu übernehmen und uns zu kontrollieren.

Sekundäre Reaktionen

Sekundäre Reaktionen resultieren aus dem Erfordernis, mit den direkten Reaktionen umgehen und langfristig damit leben zu müssen. Prof. Gibson führt dabei folgende Problemfelder auf:

Verlust

MCS kann den Betroffenen den Arbeitsplatz, Freunde, Bildungsmöglichkeiten und die soziale Integration rauben. Auch attraktive Wahlmöglichkeiten hinsichtlich Kleidung, Kosmetik und Wohnungseinrichtung gehen oft verloren. Die Verluste können drastisch sein und tief gehen und erfordern Trauerarbeit und große Flexibilität, um trotzdem gut zurecht zu kommen.

Isolation

Die physische Isolation, die daraus resultiert, dass man viele öffentliche Örtlichkeiten nicht mehr toleriert, und die geistige Isolation, die daher rührt, dass man eine Krankheit hat, die niemand versteht, können drastische oder gar als katastrophal empfundene Belastungen sein. Dies insbesondere dann, wenn sie zu dem Stress durch die Krankheit an sich und den häufigen existenzbedrohenden finanziellen Verlusten hinzukommen. Ignoranz und Fehlverhalten anderer können den Druck und die Isolation weiter erhöhen.

Ständige Alarmbereitschaft

Das Leben mit MCS erfordert permanente Wachsamkeit, insbesondere, wenn die Reaktionen stark behindernd oder lebensbedrohlich sein können. Die Betroffenen müssen nun Orte fürchten, die früher eine Quelle der Freude waren. Warenhäuser, Kinos, Partys können nicht mehr so ohne weiteres aufgesucht werden, wenn man jeden Moment bereit sein muss, sich aus der Gefahrenzone zu bringen, wenn man auf Parfüm oder Rauch stößt. Daraus resultierend kommen schließlich noch Zukunftsängste dazu, insbesondere, wenn sich die Sensitivitäten ausbreiten und immer mehr Chemikalien dazukommen.

Ärger und Frustration

Ärger und Frustration sind normale Reaktionen auf Verlust, missverstanden werden und körperliche Beeinträchtigungen durch Expositionen, Diskriminierung und Fehldiagnosen. Man muss einen Weg finden, damit umzugehen, wenn man sich davon nicht bestimmen lassen will.

Vermeintlich obsessiv-zwanghafte Verhaltensweisen

Das Vermeiden von Symptomauslösern in der Umwelt resultiert in Verhaltensweisen, die obsessiv-zwanghaften Merkmalen ähneln können, insbesondere für solche Leute, die nicht verstehen, wie wichtig die Vermeidung der Auslöser für die Betroffenen ist. Vorsichtsmaßnahmen können rigide erscheinen und Spontaneität vermissen lassen. Z.B. immer aufzupassen, ob jemand eine Zigarette anzündet oder eine mögliche Pestizidkontamination eines Gebäudes vor einem Besuch desselben telefonisch abzuchecken. Das Vermeiden einer großen Anzahl von Nahrungsmitteln oder das auslüften der Post, um das Risiko, Parfüm zu begegnen, zu reduzieren. Oder aber das grundsätzliche mehrmalige Auswaschen neuer Kleidung mit Soda. All dies kann Außenstehenden seltsam vorkommen. Wenn der Charakter danach beurteilt wird, kann einem versehentlich eine obsessiv-zwanghafte Störung attestiert werden.

Selbstvorwürfe

Menschen mit Chemikalien-Sensitivität grübeln vielleicht darüber nach, wie sie bloß so krank werden konnten und ob sie irgendetwas hätten tun können, um das zu vermeiden. Und diejenigen, denen es laufend schlechter geht, quälen sich manchmal mit Fragen wie „Warum habe ich mir nicht früher einen Wasserfilter angeschafft?“ oder „Warum bin ich bloß in einem Haus mit Ölheizung geblieben?“ Medizinische Lehrmeinungen, die das Gefühlsleben für Krankheiten verantwortlich machen oder sagen, jeder bekommt, was er verdient, oder dass wir uns „unsere eigene Welt“ machen, gießen weiter in unangemessener Weise Öl in dieses Feuer.

Mangelnde Kontrolle über emotionale Reaktionen

Die meisten Menschen haben wenigstens eine gewisse Kontrolle darüber, welche Emotionen sie in der Öffentlichkeit zeigen wollen. Menschen mit Chemikalien-Sensitivität können jedoch von Reaktionen überrascht werden, die die Hirnfunktion betreffen können. Diese Reaktionen können dazu führen, dass man expositionsbedingte Irritationen, Tränen oder Nervosität in Situationen zeigt, in denen derartige sichtbare Symptome negative Folgen haben können, z.B. am Arbeitsplatz.

Mangelnde Privatsphäre in Gesundheitsdingen

Gesundheitsprobleme, die bei der Arbeit nicht beeinträchtigen, können vor dem Arbeitgeber geheim gehalten werden. Wenn die Gesundheit jedoch Anpassungen am Arbeitsplatz verlangt, geht das nicht. Insbesondere, wenn die Krankheit, die man hat, öffentlich oft als psychische Störung denunziert wird, kann das negative Folgen haben.

Mangelnde Kontrolle der eigenen Lebensweise

Die Notwendigkeiten des Überlebens diktieren oft so viele Bedingungen, die man einhalten muss, dass nur noch wenige Gestaltungsmöglichkeiten bleiben. Z.B. ein kontaktfreudiger Mensch wird gezwungen, Isolation zu ertragen, was nicht zu seinem Lebensstil passt und so zu einer weiteren Quelle von Demoralisierung wird. Ähnliches gilt für verbleibende Arbeitsmöglichkeiten, die häufig die Ausübung des gewählten Berufes nicht erlauben.

Negative Haltung gegenüber konventioneller Medizin

Menschen mit MCS müssen sich selber informieren und sich für ihre Belange einsetzen, um zu überleben. Wenn man wenig oder gar keine Hilfe von konventionellen Ärzten erfahren hat, beginnt man, von deren Seite Ablehnung und nur noch wenig Gutes zu erwarten. Wenn MCS-Kranke schließlich in Behandlung kommen, erscheinen sie potentiellen Helfern möglicherweise fälschlicherweise als aggressiv, widerspenstig oder paranoid. Die sehen dies dann eventuell nicht im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Betroffenen, in der sie nur inadäquate medizinische und psychologische Hilfe erfahren haben.

Falsche Zuordnungen aufgrund von Reaktionen

MCS-Betroffene können aufgrund einer Exposition ängstlich oder aggressiv werden, ohne zu wissen, woher die Exposition kam. Da es in unserer Gesellschaft keinen Mangel an Stress gibt, kann es passieren, dass die Person einen psychologischen Stressor dafür verantwortlich macht, obwohl er, obgleich vorhanden, nicht der Verursacher war. Die betroffene Person wird so dazu verleitet, ihre eigene Fähigkeit, psychologisch angemessen zu reagieren, in Frage zu stellen. Es ist sehr wichtig, solche Situationen zu klären, um nicht irrtümlich soziale oder arbeitsbezogene Vorkommnisse verantwortlich zu machen und so Freunde oder Kollegen zu entfremden.

Verlust einer stabilen kontinuierlichen Persönlichkeit

Anselm Strauss [2] diskutiert den Verlust einer kontinuierlichen Identität, wenn jemand chronisch krank wird. Bei jeder chronischen Erkrankung kann das Empfinden der Person für das eigene Selbst und Wohlergehen je nach dem momentanen physischen Zustand schwanken. Da Expositionen bei MCS-kranken Personen zu emotionalen Reaktionen führen können, die von dem normalen Zustand so sehr verschieden sind, erleben sie das möglicherweise als Diskontinuität in ihrem Selbstgefühl. Beispielsweise können sich manche, wenn sie gerade keine Reaktion erleiden, nicht vorstellen, wie krank sie auch sein können. Und wenn sie dann eine Reaktion haben, können sie sich nicht daran erinnern, sich gesund gefühlt zu haben, oder einen Sinn für persönliches Wachstum und Selbstbestimmung entwickeln. Diese schlechten Zeiten sind auch schädlich für Beziehungen. Das Leben anderer Leute geht unabhängig von dem eigenen Zustand weiter. Es kann schwierig sein, sozial immer wieder „aufholen zu müssen“.

Autor:

Karlheinz für CSN – Chemical Sensitivity Netwok, 29. Mai 2009

Literatur:

[1] Pamela Reed Gibson, Multiple Chemical Senisitivity, a survival guide (second edition), Earthrive Books, 2006.

[2] Anselm Strauss, Chronic illness and the quality of life, St. Louis, MO, C.V. Mosby Company, 1984.

Schadstoffkontrollierte Krankenwagen und voller Einsatz für Chemikaliensensible

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Notfallmediziner setzen sich für MCS – Multiple Chemical Sensitivity ein

Im amerikanischen Bundesstaat Ohio setzt man sich in ganz besonderem Maße für Menschen ein, die unter MCS – Multiple Chemical Sensitivity (Chemikalien-Sensitivität) leiden. Eine Patientenorganisation für Chemikaliensensible erreichte in Kooperation mit Notfallmedizinern und Feuerwehr, dass zwei Ambulanzfahrzeuge speziell umgerüstet wurden. Neun weitere Krankenwagen werden in Kürze folgen.

Fortschritte für Chemikaliensensible
In Ohio tritt die Aktion „Green Progress“ (grüner Fortschritt) für Menschen mit Multiple Chemical Sensitivity (MCS) ein, um eine verträglichere Umwelt für die MCS Kranken zu schaffen. MCS ist ein chronischer Gesundheitszustand, der durch toxische Chemikalien verursacht wird, von denen wir in unserem Alltagsleben umgeben sind. MCS Kranke entwickeln häufig neurologische, kardiovaskuläre, rheumatische, vaskuläre und pulmonale Beschwerden durch toxische Expositionen. Andere Menschen entwickeln Krebs, Asthma, Depressionen, Parkinson, Alzheimer, Geburtsdefekte und andere schwere körperliche Erkrankungen durch die gleichen Expositionen, die MCS verursachen.
Ambulanzfahrzeuge wegen MCS Kranken umgerüstet
Das Ohio Network for the Chemically Injured (ONFCI), eine gemeinnützige Organisation, tritt seit den 90zigern für Menschen mit MCS ein. Das ONFCI fördert Aufklärung über MCS, liefert Unterstützung und networking für MCS Betroffene.

Die Organisation, die von Toni Temple geleitet wird, hat jüngst erreicht, dass zwei Ambulanzfahrzeuge in der Region umgerüstet wurden. Nachdem die Organisationsleiterin sehr sensible auf Dieselabgase reagierte und bei einem Notfall wegen massiver Herzbeschwerden durch die Dieselabgase des Rettungsfahrzeuges beinahe starb, strebte sie Änderung zum Wohle aller an.

Schwere Reaktionen durch Dieselabgase
Da Ambulanzfahrzeuge bei einem Einsatz meistens den Motor laufen lassen, ist der Patient den Abgasen voll und ganz ausgesetzt. Dieselabgase enthalten eine Vielzahl gefährlicher Chemikalien und sind dafür bekannt schwere Reaktionen bei vielen Chemikaliensensiblen auszulösen. Durch ein spezielles Abgassystem kommen in den beiden Ambulanzfahrzeugen, auch wenn das Fahrzeug mit offenen Türen steht, keine Abgase mehr in die Transportkabine hinein.

Als angenehmer Nebeneffekt für die Umwelt werden die gesamten Emissionen um 40% reduziert. Neun weitere Ambulanzfahrzeuge sollen in Kürze folgen. Wertvolle Hinweise hatte Toni Temple für ihr Projekt durch eine Umweltorganisation bekommen. Diese hatte es erreicht den Ausstoß von Dieselabgasen bei Schulbussen in den Griff zu bekommen.

Krankenhaus auch für MCS Kranke
Toni Temple bekam durch eine Überexposition mit einer gefährlichen Chemikalie, MCS und hatte größte Schwierigkeiten, wenn sie ins Krankenhaus musste. Sie reagierte dort schwer auf Reinigungs- und Desinfektionsmittel und Inventar. Ihre Reaktionen war teilweise so problematisch, dass man sie nach draußen bringen musste. Nach mehreren dramatischen Erfahrungen schrieb die Leiterin der Patientenorganisation ein Buch, das den Titel „Gesünderes Krankenhaus“ trägt und vielen MCS Patienten, Ärzten und Kliniken wertvolle Informationen im Umgang mit der Erkrankung liefert.

Spezielle Instruktionen für Rettungskräfte
Die Organisation für MCS Kranke in Ohio ist insbesondere dem Feuerwehrleiter der Region und dem Direktor für Notfallmedizin sehr dankbar für ihr herausragendes Engagement, durch das Möglichkeiten geschaffen wurden, damit Patienten mit Chemikaliensensitivität risikoärmer geholfen werden kann. Die MCS Kranken, die sehr schwer auf Dieselabgase während eines Krankentransportes reagieren, werden in erheblichem Umfang davon profitieren.

Der Direktor für Notfallmedizin gab für die Rettungskräfte der Region zusätzlich ganz spezielle schriftliche Anweisungen heraus, um MCS Patienten gesundheitliche Schädigung und Reaktionen durch bestimmte Allergene, erfahrungsgemäß schwer oder nicht zu tolerierende Medikamente und problematische medizinische Hilfsmittel während eines Rettungs- oder Krankentransporteinsatzes, zu ersparen.

Über einen weiteren Erfolg der Organisation für Chemikaliensensible in Ohio berichten wir in Kürze.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 4. Mai 2009

Reference:
Ohio Network for the chemically Injured, OHIO’s „GREEN“ SENATE BILL, GREEN LIBRARY MEETINGS, AND GREENING OF THE FLEETS HIGHLIGHT MCS AWARENESS MONTH, Press Release May 2009

MCS-Kranke brauchen Hilfe. Ist es eine Chance für Selbsthilfegruppen und Organisationen, wenn sie sich auf Abhängigkeit einlassen?

Goldfisch in Abhängigkeit

MCS- Blogfrage der Woche

MCS-Kranke brauchen Hilfe. Ist es eine Chance für sie, wenn Selbsthilfegruppen sich auf Abhängigkeit einlassen?

Die Industrie, Versicherungen und gewisse Institutionen haben großes Interesse daran, Selbsthilfegruppen zu kontrollieren und durch Manipulation zu lenken. Sollten sich Patientenverbände trotzdem auf Unterwanderung einlassen?

Können MCS-Selbsthilfegruppen sogar davon profitieren, z.B. durch großzügige Spenden und Zuwendungen?

Oder ist es ein Spiel mit dem Feuer und bringt nur Verlust der Eigenständigkeit und demzufolge Abhängigkeit, die zum Schaden für die MCS-Erkrankten führen?

Armut durch Chemikalien-Sensitivität / MCS

Sad Angel - Trauriger Engel

Jeder ist seines Glückes Schmied – so ein altes Sprichwort. Früher empfand ich diesen Spruch als realistisch, aber seitdem ich an Chemikalien- Sensitivität (MCS) erkrankt bin, bin ich zu ganz anderer Ansicht gelangt.

Es kann ganz schnell gehen, und plötzlich verliert man jeglichen Einfluss auf sein Leben. Ein Leben mit MCS weist einen urplötzlich in ungeahnte Bahnen, die man selbst nicht mehr beeinflussen kann, so war es auch bei mir und darüber möchte ich Euch erzählen:

Als sich meine Krankheitssymptome stets verschlimmerten und nichts mehr ging, verlor ich neben einigen Freundinnen letztendlich auch meine Arbeitsstelle. Das hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass ich in so frühen Jahren plötzlich nicht mehr arbeiten würde. Gut, anfangs ist man abgesichert, mit dem im Verhältnis zum früheren Gehalt niedrigeren Arbeitslosengeld / Krankengeld kommt man noch zurecht. Jedoch zusätzliche Kosten für die plötzlich lebensnotwendigen Bio Lebensmittel, waren für mich unerschwinglich.

Löcher im Portemonnaie
Zusätzliche Löcher taten sich im Portemonnaie auf, weil ich zu diesem Zeitpunkt bei meinem behandelnden Umweltarzt jede Menge Geld investieren musste, um die erforderlichen Untersuchungen, die leider keine Kassenleistung sind, zu bezahlen, geschweige denn von den Fahrtkosten und Medikamente. Nun hatte ich noch das Glück, dass sich mein Partner rührend um mich kümmerte, sich extra Urlaub nahm und mich überall hinfuhr. Alleine wären diese anstrengenden Manöver für mich undenkbar gewesen. Doch auch der soziale Geldhahn versiegt irgendwann, und dann???

MCS – Schutzengel kennen viele Schicksale
In andere Chemikaliensensible kann ich mich gut hineinversetzen. Es ist schwer für all jene, die mit ihren Problemen völlig auf sich gestellt, klarkommen müssen. Dies trug dazu bei, dass ich ein MCS- Schutzengel wurde. Ich wollte gerne Menschen, die wie ich an MCS erkrankt sind, also mit mir das gleiche Schicksal teilen, mit Rat und Tat beiseite stehen und versuchen so gut es geht zu helfen.

Das Leben ein einziger Scherbenhaufen
Bei meinen Schutzengelgesprächen erhalte ich Einblicke in das schwere persönliche Leid von MCS Kranken. An Chemikalien- Sensitivität erkrankt zu sein, bedeutet in den meisten Fällen, sein komplettes früheres Leben zu verlieren. Oftmals kommt der Partner mit den vielfältigen gravierenden Einschränkungen, die ihn letztendlich ebenfalls betreffen, irgendwann nicht mehr zurecht und sucht das Weite. So ist nicht nur die Arbeit urplötzlich dahin, auch der Partner ist weg und langjährige Freundschaften gehen von jetzt auf gleich durch Unkenntnis von MCS, in die Brüche, und dann steht man völlig auf sich alleine gestellt, seinen massenhaft unlösbaren Problemen gegenüber.

Einschränken ist nicht endlos möglich
Neben all dem persönlichen Leid, den für Gesunde kaum vorstellbaren vielfältigen körperlichen Krankheitssymptomen, den starken finanziellen Schwierigkeiten, steht in den meisten Fällen zu allem Überfluss zwangsläufig auch noch ein Umzug in eine kleinere Wohnung an.
Wie soll man das mit MCS und ohne Einkommen alleine realisieren? Es ist völlig unmöglich. Hinzu kommt, dass das frühere Mobiliar für viele durch Schadstoffbelastung unbrauchbar geworden ist. Mir sind MCS Patienten bekannt, die sich Möbel bei der Caritas besorgen mussten, weil der Partner fast alles mitgenommen hat, sogar das Auto. Ob die Möbel von der Caritas frei von Schadstoffen sind, ist zu bezweifeln.

Jobs zum Überleben trotz schwerer Krankheit
Da das Geld hinten und vorne nicht reicht, gehen MCS- Kranke sogar mit letzter Kraft putzen und bringen dazu eigene ungiftige Putzmittel mit, um sich überhaupt etwas zu Essen leisten zu können, von Kleidung ganz zu schweigen. Andere müssen zur Tafel gehen für Nahrungsmittel, an Bionahrung können sie nicht einmal denken.

Im freien Fall aus dem sozialen Gefüge
Nach der Aussteuerung bei der Krankenkasse, konnten sich manche mangels eigener finanzieller Mittel, nicht einmal krankenversichern. Früher gut verdienende Menschen wurden zu Hartz IV Empfängern, und das geht ganz schnell. Vom Luxus in die Armut, von der MCS verträglichen Wohnung in eine Hartz IV gerechte, für MCS Patienten meist unverträgliche Wohnung, mit enormen Folgen für die Betroffenen.

Druck auf Schwerkranke statt Hilfe
Da MCS vielfach als nicht existent abgetan wird, erhalten MCS Kranke dann keinerlei staatliche Unterstützung mehr. Das Arbeitsamt schickte eine schwer kranke Chemikaliensensible sogar in Fortbildungsmaßnahmen, man nahm ihre Beschwerden nicht ernst. Als die Betreffende anmerkte, aus Gesundheitsgründen dort nicht hingehen zu können, wurde ihr das als Nichteinhaltung der Mitwirkungspflicht ausgelegt und gedroht, die Zahlungen an sie einzustellen.

Zwangsläufige Gesundheitsverschlechterung
Dadurch, dass sie nicht ausreichend Geld zur Verfügung haben und sich krankheitserleichternde Dinge wie biologische Nahrungsmittel, notwenige Medikamente / Vitaminpräparate, Luftfilter, Wasserfilter, Sauerstoffversorgung, MCS-Maske, Bio Kleidung etc. nicht leisten können, in völlig ungeeignetem Wohnumfeld leben müssen, laufen viele Gefahr, dass sich ihre Krankheitssymptome sich weiter chronifizieren, anstatt sich bessern. Sie sind in einem schier unüberwindbaren Teufelskreis angelangt.

Selbst um Recht zu bekommen braucht man Geld
Einen Antrag auf  Erwerbsminderungsrente stellen viele MCS Kranke nicht, weil sie keine Rechtschutzversicherung haben und sich keinen Anwalt leisten können. Sie haben kaum eine Chance, ihre gerechtfertigten Ansprüche gegenüber den Behörden mangels finanzieller Mittel, durchzusetzen. Wie erschütternd die Situation manchmal sein kann, möchte ich Euch anhand einer Frau erzählen, die ich als MCS Schutzengel betreute. Die ältere Dame versuchte trotz schwerer MCS an Geld zu kommen, damit sie zu Ärzten fahren konnte um ein paar Befunde zu haben, damit man ihre Rente zuerkennen würde. Für die Fahrt zu den Ärzten brauchte die schwer kranke Frau Sauerstoff. Um die erforderliche Summe zusammenzubekommen, ging sie abends im Park zu den Mülleimern und suchte Pfandflaschen heraus, um dann im Supermarkt ein paar Euro dafür zu bekommen.

Kranke helfen Not von Kranken einzudämmen
Die Menschen, die ich als MCS- Schutzengel kennen lernen durfte, standen alle mitten im Leben als es sie erwischte. In fast allen Fällen wurden sie ohne jegliches eigenes Verschulden krank. Mich bekümmert die Ungerechtigkeit daran, denn es ist alles andere als fair, dass man sie fallen lässt, wenn sie zusammenbrechen.
Auch wenn es mir oft selbst schwer fällt, ist das einer der Gründe, dass ich mich einsetze für Chemikaliensensible, denn die Ungerechtigkeit ist nicht akzeptabel und darf nicht stillschweigend hingenommen werden,

Euer MCS- Schutzengel Helene

Dieser Artikel wurde zum Thema Armut als Beitrag zum Weltblogtag 2008 geschrieben.

MCS Schutzengel Helene: Strategien zur Alltagsbewältigung

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Meine Schützlinge berichten immer wieder, dass sie sich einsam fühlen und sie unter dem eintönigen Tagesablauf leiden. Diese Schwierigkeiten holen uns MCS-Kranke allesamt früher oder später ein, traurig aber wahr. Ich will ein wenig erzählen, wie ich mit dem Problem umgehe.

Da auch ich von unfreiwilligem sozialem Rückzug betroffen bin, versuche ich täglich gegen den monotonen Alltag anzukämpfen und arbeite dabei mit kleinen Tricks. Erschwerend kommt hinzu, dass auch ich,  wie alle MCS-Patienten, mit den übrig gebliebenen „Kräften“ geschickt haushalten muss. Es gibt viele Tage, da kann ich körperlich nichts oder fast nichts tun. Um aber nicht in Trübseeligkeit und depressive Stimmung zu verfallen, versuche ich an solchen Tagen z. B. im Forum aktiver zu sein. Meist überlege ich mir, was wir noch tun können, damit MCS endlich so richtig anerkannt wird, wie wir es verdient haben. Zwischendurch telefoniere ich mit meinen lieb gewonnenen Telefonfreundinnen, die ich durch das Schutzengelprojekt kennen gelernt habe. Wir MCS-Betroffenen brauchen uns untereinander nicht großartig zu erklären, jeder weiß Bescheid, wenn man sagt, heute geht es mir besonders schlecht. Ja, durch das Betreuen von Schützlingen, sind einige liebe Kontakte zustande gekommen. Nur einmal so am Rande, das wäre für Euch bestimmt auch eine Möglichkeit…

Das Schutzengelsein ist gar nicht so aufwändig oder schwierig wie Ihr vielleicht meint. Wenn eine Anfrage kommt, man aber selbst nicht dazu in der Lage ist, auf Grund eigener schweren Symptomen oder aus anderen Gründen, ist kein Problem, ein anderer Schutzengel übernimmt dann gerne. Es ist also keine lästige Verpflichtung oder dergleichen. Manch einer von Euch denkt vielleicht, ich wäre auch gerne ein Schutzengel, aber mir geht´s selbst so schlecht. Außerdem mit meinen augenblicklichen Problemen bei meinen Sozialverfahren und durch meinen schlechten Gesundheitszustand, ich glaub, das ist jetzt nichts für mich, vielleicht später einmal! Aber glaubt mir, wenn alle so denken würden, gäbe es das Schutzengelprojekt nicht, denn bei uns Schutzengeln sieht es nicht besser aus. Aber das jetzt nur einmal so am Rande. Ich wollte Euch ja erzählen, was ich alles versuche, um den Tag so facettenreich zu gestalten wie nur möglich.

Viele Möglichkeiten habe auch ich nicht, aber ich versuche das Beste aus meiner Situation zu machen. Die leider nie endende Hausarbeit versuche ich in kleinen Etappen zu packen, unterstützt von flotter Musik, ich liebe Musik, und dann klappt es viel besser. Dann versuche ich, mich selbst zu überlisten. Z. B. erst ein wenig Hausarbeit und danach gönne ich mir dann eine Verschnaufpause am PC. Denn durch den PC erlebe ich etwas Abwechslung, die ich gerne in Anspruch nehme. Also, ich versuche es so anzugehen, dass ich mir das, was ich gerne mache, mir erst verdienen muss. So nach dem Motto: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Ihr könnt das genauso machen. Z. B. erst etwas erledigen und dann mit netten Leuten telefonieren, erst die Spülmaschine aus- und einräumen und danach eine Tasse Tee trinken und Musikhören. Mit dem saubermachen oder aufräumen beginnen und danach oder zwischendrin spazieren gehen, ganz nach körperlicher Verfassung. Dann vielleicht erst einmal kurz Ausruhen, im Anschluss daran mit der Hausarbeit und dann die E-Mails ansehen usw. Wir müssen aufpassen und dürfen unsere Ansprüche an uns nicht zu hoch stellen, sonst endet dies im Frust.

Ich versuche mich selber anzutreiben und freue mich oder staune hinterher, trotz des schlechten Gesundheitszustandes dann doch noch so Einiges gepackt zu haben, wenn auch mit kleinen Tricks. Dies trägt zum seelischen Gleichgewicht und innerer Zufriedenheit bei. Ja, auch mit MCS kann man dies versuchen zu erreichen. Wir müssen versuchen an uns selbst zu arbeiten. Denkt mal an mich und versucht es selbst einmal. Bei mir hilft´s meistens. Natürlich auch nicht immer, oft kann ich tagelang überhaupt nichts erledigen. Aber dann denke ich, okay, es kommen auch wieder bessere Tage.

Ich würde mich sehr freuen, wenn meine heutigen Ausführungen für Euch eine Möglichkeit wäre, Dinge zu schaffen, die Ihr eigentlich für unmöglich haltet. So ist es sehr oft bei mir, da ich neben MCS leider noch einige andere Krankheiten habe, praktisch alles Quälerei ist, ich mich selbst antreiben und austricksen muss, sonst läuft überhaupt nichts!

Um ein bisschen Freude in den Tag zu bringen, haben wir den ganzen Winter schon die Vögel gefüttert. Es macht sehr viel Freude ihnen zuzusehen, wie sie z. B. ihren Futterneid ausleben und sich gegenseitig wegjagen oder wenn das Rotkehlchen draußen herumhüpft. Ebenfalls bereitet mir Gartenarbeit Freude. Das bevorstehende Frühjahr ermöglicht endlich bessere Möglichkeiten im Freien. So versuche ich, je nach körperlicher Verfassung, zwischendurch ein wenig im Garten Hand anzulegen. Gerne gönne ich mir eine Pause auf der Terrasse und genieße die Sonne.

Wie gesagt, der Austausch im Forum bzw. am Telefon und manchmal ein Treffen zum Spazierengehen mit lieben Bekannten aus besseren Tagen, bringen einem sehr viel Freude und tragen zur seelischen Ausgeglichenheit bei. Von einem schönen Nachmittag zehre ich sehr lange und arbeite daran, alte Bekanntschaften neu aufleben zu lassen. Jetzt im Frühjahr haben MCS-Kranke wieder bessere Gestaltungsmöglichkeiten als in der kalten Jahreszeit. Der ein oder andere Bekannte von früher lässt vielleicht nach lieben Bitten, so gut es geht, parfümierte Kosmetika weg, wenn Ihr Euch verabredet. Man muss es eben probieren. Jedenfalls müssen wir versuchen aktiv zu werden bzw. zu bleiben und uns das bisschen, was uns geblieben ist, zu erhalten.

Ich hoffe sehr, dass ich Euch mit meinen kleinen Tricks ein wenig Mut machen kann, nicht aufzugeben, sondern dass auch ihr auch versucht, Euch den Tag mit Euren verbliebenen Möglichkeiten, so gut es geht zu gestalten und zu verschönern.

Herzliche Grüsse von

Eurer Helene