Mit Chemikalien-Sensitivität leben und nicht aufgeben

Mit Chemikalien-Sensitivität leben und nicht aufgeben

In den letzten zwei  Teilen dieser Beitragsserie soll noch einmal Pamela Reed Gibson zu Wort kommen. Sie geht in ihrem Buch „Multiple Chemical Sensitivity, a Survival Guide“ ausführlich auf das Thema Psychotherapie ein und gibt einige Tipps dazu und zur Selbsthilfe.

Ist das Glas nicht doch halb voll?

Nach Pamela Reed Gibsons Beobachtungen fordert MCS oft Unmögliches von den Betroffenen, während die Krankheit ihnen in ihrem Verlauf ihre Ressourcen wegzunehmen droht. Ein erster Schritt bei der Bewältigung der Herausforderungen besteht darin, den eigenen bisherigen Erfolgen Anerkennung zollen zu können.

Man halte sich vor Augen:

  • Was hat man bisher gut gemacht?
  • Welche Veränderungen hat man vorgenommen, um die MCS-bedingten Probleme zu bewältigen und eine weitere Verschlechterung zu verhindern?
  • Welche schwierigen Situationen hat man mit Kreativität und persönlicher Stärke meistern können?

Wenn man den bisherigen Leistungen mit Anerkennung begegnen kann, ist es leichter, weiter auf seinem Weg voranzuschreiten und neue Herausforderungen anzunehmen.

Andere Probleme nicht vernachlässigen

Obwohl MCS keine psychogene Erkrankung ist, schließt das die Möglichkeit nicht aus, dass der eine oder andere davon unabhängige psychische Lasten mit sich herumträgt, die auch bewältigt sein wollen. Das tun wir alle. Solange derartige Probleme ungelöst sind, können sie mit den krankheitsbedingten Herausforderungen interagieren und zusätzlichen Kummer bereiten. Sich um derartige unabhängige psychische Lasten zu kümmern, kann die seelische Gesamtbelastung reduzieren und zusätzliche Energie für die Bewältigung von MCS bereitstellen. Dass man lernt, wie MCS mit den eigenen psychischen Verwundbarkeiten interagiert, kann einem dabei helfen, das eigene Leben erfolgreicher zu bewältigen.

Durchsetzungsvermögen

Sind Sie ein Mensch, der typischerweise eher schüchtern und sensibel ist und nun vor der undankbaren Aufgabe steht, sich selbstbewusst für spezielle Anpassungen einsetzen zu müssen, um überleben zu können? Wenn Ihr persönlicher Stil bisher eher ein passiver war, d.h. etwas von sich zu geben, zu tun, was verlangt wird und sich nie zu beschweren, kann es sehr schwer sein, den Punkt zu erreichen, an dem man seine Not und Bedürfnisse selbstbewusst artikulieren und vertreten kann, ohne sich unwohl zu fühlen. Ob nun wegen des persönlichen Stils, Gewohnheit, Unbehagen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen oder der Überzeugung, keine „besondere Behandlung“ zu verdienen, die Aufgabe, das eigene soziale Leben positiv zu gestalten, wird ohne wenigstens etwas Arbeit im Bereich der Psyche schwieriger sein.

Ein Therapeut kann einem helfen, sich mit selbstbewusstem Durchsetzungsverhalten wohler zu fühlen. Es gibt auch diverse gute Selbsthilfebücher, die dabei helfen können. Eine andere Möglichkeit besteht darin, etwas zu praktizieren, was George Kelly, einer der wichtigen Persönlichkeitstheoretiker, „Fixed Role Therapy“ genannt hat. Dabei schreibt der Therapeut eine kleine Skizze oder einen Entwurf von einer Person, die die Qualitäten verkörpert, die der Klient entwickeln möchte. Also in diesem Falle würden Sie eine Seite lange Beschreibung einer Person anfertigen, die eine gute Durchsetzungsfähigkeit hat. In dieser kleinen Skizze sollten Sie sowohl die Gedanken als auch das Verhalten der Person beschreiben. Z.B.: „Sally findet es einfach, ihre Bedürfnisse zu beschreiben, da ihr klar ist, dass ihre Gesundheit davon abhängt. Negative Reaktionen von anderen regen sie nicht auf, da sie weiß, dass es normal ist, dass Leute, die anders sind, schlecht behandelt werden.“ Nach Besprechung der geschriebenen Skizze macht der Klient ein Rollenspiel mit dem Therapeuten, in dem er die ideale Person verkörpert. Weiter behält der Klient diese Rolle die nächsten zwei Wochen bei und bespricht bei einigen zwischenzeitlichen Terminen mit dem Therapeuten, wie es dabei vorangeht. Sie können mit diesem Ansatz auch selbst experimentieren und sehen, wie es sich anfühlt, in einem Lebensbereich einen anderen Verhaltensstil auszuprobieren. Wenn Sie es versuchen, sollten sie die Skizze mit sich tragen, oft darauf zurückgreifen und sich darüber klar werden, wie es ist, ein neues Verhalten auszuprobieren.

Eine andere Taktik, Durchsetzungsvermögen zu üben, wäre etwa, sich mit einem Tier zu identifizieren, zu dem man eine Beziehung hat, dass durchsetzungsfähig ist und das man bewundert (aber man lasse Vorsicht walten, bei der Auswahl der Personen, denen man davon erzählt. Manchen fehlt das nötige Verständnis). Sie könnten beispielsweise ein Löwe sein, der sich, sein Revier und seine Jungen zu beschützen weiß. Oder ein rauflustiger Dachs, der nicht zögert zuzubeißen, wenn er bedroht wird. Sich durchzusetzen bedeutet, seinen größten Ängsten ins Auge zu blicken –  z.B. zurückgewiesen zu werden. Meistens werden es die Leute jedoch respektieren, wenn Sie sich für sich selbst einsetzen, und wahrscheinlich wird man wenigstens den einen oder anderen Unterstützer haben.

Selbstachtung und Selbstwert

Probleme mit dem Selbstwert und der Selbstachtung können auftreten, wenn man schlecht behandelt wird, während man sich für seine Belange, etwa Bitten um Anpassungen, einsetzt. Menschen mit geringer Selbstachtung oder solche, die in der Vergangenheit oft schlecht behandelt worden sind, empfinden derartige Situationen oft als sehr schlimm, während Leute mit einer „dickeren Haut“ davon weniger mitgenommen werden. Zu lernen, wie man „hart im Nehmen“ wird und unabhängig von dem Verhalten anderer, wird einem helfen, bei den Anstrengungen, seine Bedürfnisse durchzusetzen, auf Kurs zu bleiben. Derartige Probleme können mit einem geeigneten Selbsthilfegruppen, Selbsthilfebüchern oder Selbsthilfegruppen angegangen werden. Es ist oft sehr nützlich zu hören, wie „dickhäutige“ Menschen über die Reaktionen anderer denken. Sie haben oft großartige Möglichkeiten entwickelt, um die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen, die Dinge nüchtern zu registrieren und dann den eigenen Weg weiterzugehen. Beispielsweise bei einer negativen Rückmeldung anzunehmen, man habe es mit einem Idioten zu tun, anstatt sich selbst in Frage zu stellen.

Leistungsorientierung

Sind Sie sehr leistungsorientiert? Beweisen sie sich Ihren Wert durch Leistung, schaffen, machen, machen und sich dabei übernehmen? Ist Ihre Dynamik die eines Workaholic? Dann ist eine Erkrankung, die Ihre Produktivität reduziert, etwas extrem Schmerzhaftes, da sie Ihre gewohnte Art und Weise, mit Problemen umzugehen, aushebelt. Wenn ihre Selbstachtung auf dem Erreichen wichtiger Ziele beruht und ihre Leistungsfähigkeit halbiert wird oder ganz verloren geht, müssen Sie entweder mit der halben (oder ganz ohne) Selbstachtung auskommen oder aber den Maßstab, an dem Sie Ihren Wert messen, ändern. Viele Menschen beziehen ihre Selbstachtung über ihre Arbeit. Sie können versuchen, ihre Karriere an ihre neuen reduzierten Möglichkeiten anzupassen, beispielsweise zu Hause arbeiten oder zu anderen Zeiten oder in einer anderen Gegend. Oder sie müssen eine andere geeignete Arbeitsmöglichkeit finden. Jeder hat irgendwelche Möglichkeiten, sich zu engagieren, und Ihre Produktivität muss nicht auf ewige Zeiten immer nur abnehmen.

Sachen aufschieben

Wenn Sie andererseits eher jemand sind, der Dinge, die zu erledigen sind, aufschiebt, liefern die Gesundheitsprobleme, die Sie haben, eine unendliche Menge an Gründen, um alles immer weiter aufzuschieben. Dann sollten Sie vielleicht zu „To Do“-Listen und einem Terminplan Zuflucht nehmen. Am besten mit eingebauten Belohnungen für das Erreichen wichtiger Ziele.

Persönlichkeitsstil

Der individuelle Persönlichkeitsstil kann bestimmen, woran man besonders leidet, wenn man MCS hat. Extrovertierte haben z.B. wahrscheinlich größere Probleme mit Isolation als Introvertierte. Introvertierte haben nun vielleicht mangels Gelegenheit größere Probleme, ihre Bedürfnisse mitzuteilen, und sich in Beziehungen zu schützen. Obwohl dies sehr schwierig sein kann, müssen Extrovertierte unbedingt erfinderisch und kreativ bei der Suche nach Kontaktmöglichkeiten mit anderen sein. Obwohl MCS einen ziemlich weit runterziehen kann, sollte man nicht vergessen, dass es dennoch ein paar Dinge gibt, die man tun kann, um sich nicht völlig zu isolieren.

Autor: Karlheinz, CSN – Chemical Sensitivity Network, 14. September 2009

Literatur: [1] Pamela Reed Gibson(2006). Multiple Chemical Sensitivity, a Survival Guide (second edition), Earthrive Books.

Serie: Psychiatrisierung bei MCS ein Irrweg Teil I – X

6 Kommentare zu “Mit Chemikalien-Sensitivität leben und nicht aufgeben”

  1. Gerhard Becker 14. September 2009 um 14:45

    Hallo Karlheinz,

    eine sehr gelungene und hilfreiche, da praxisnahe Darstellung über den oft notwenigen „Umbau“ der eigenen Persönlichkeit um das Leben mit MCS meistern zu können. Obwohl MCS eine schwere organische Erkrankung ist, hat sie solche enormen psychische Auswirkungen wie kaum eine andere Krankheit und erfordert daher eine eigenverantwortliche, konsequente und beständige Stablisierung, Pflege und flexible Anpassung der Psyche. Wie das geht, hast Du sehr gut verständlich beschrieben. Danke!

    Gruß Gerhard

  2. Energiefox 14. September 2009 um 14:46

    Karl Heinz,
    „Selbstachtung und Selbstwert“
    ein wenig finde ich mich da wieder, es hat sehr
    gelitten durch den frühen Verlust des Arbeitsplatzes. Dazu kommt noch, wie ja wohl Ihr in anderer Beziehung, wenn fast nur Nackenschläge kommen, wenn man sich für eine gute Sache einsetzt (Umweltschutz) ja dann leidet das Selbstwertgefühl.
    Was Du da schreibst ist mir zum Teil bekannt, nur
    Theorie und Praxis sind 2 paar Schuhe, die man manchmal schwer unter einem Hut bekommt.
    Ein prima Bericht von dem ich noch viel lernen kann und zum Glück auch gut verständlich. Medizinsche Berichte mit vielen Fachausdrücken sind nämlich nicht so mein Ding.
    Gruß Energiefox

  3. Henriette 14. September 2009 um 22:13

    Dieser Blog kann sehr hilfreich sein, danke dafür, Karlheinz!

    Meine MCS Erkankung hat mich eigentlich stärker und selbstbewusster gemacht, als ich vorher war. Dadurch, dass ich mir vieles erkämpfen musste, habe ich gelernt, was tatsächlich in mir steckt. Man sollte sich immer vor Augen halten, wir sind krank und brauchen uns von Behörden etc. nicht demütigen zu lassen. Mittlerweile denke ich, die wollen ihr Ding durchsetzen und ich meins. Für mein Ding bin ich bereit zu kämpfen.

    Ich wünsche mir, dass viele von Euch genauso denken und sich nicht unterbuttern lassen.

    Herzliche Grüsse,
    Henriette

  4. Seelchen 15. September 2009 um 11:08

    Auch ich habe gelernt,mit vielen Dingen anders umzugehen.Z.B.mit Diskriminierung!!!
    Jahrelang wurde ich nicht ernst genommen,auch von meinen Angehörigen und sie betrachteten mich als jemand,der sich hinter eine „Pseudo-Krankheit“verstecken möchte.Weit gefehlt!ich lebe sooo gerne und liebe die Menschen,aber wie ihnen nahekommen,wenn man danch umfällt???
    Es hat zwar Jahre gedauert,aber heute lasse ich keinen mehr in meine Wohnung,wenn er nach irgendetwas riecht,was ich nicht vertrage..die Aufklärungsarbeit habe ich mit meiner Geschichte:die Glasprinzessin und Gedichtbänden,die ich in den ersten schweren jahren der isolation schrieb vund vielen Hilfen aus dem wunderbaren CSN gemacht.
    Und heute werde ich akzeptiert,toleriert und zwar von Vielen verlassen,aber die „echten“ sind geblieben und ich habe neue gefährten auf diesem Weg gefunden.
    Es ist wichtig,dass wir zusammenhalten!

  5. Lucie 17. September 2009 um 02:36

    Mir geht es genauso. Leider wird man durch den Umgang der Gesellschaft mit uns MCS Patienten, irgendwie härter und stärker. Das ergibt sich im Laufe der Zeit zwangsweise, so meine persönliche Erfahrung.

    Wenn wir aufgeben, dann haben wir verloren und wir packen es nicht, zu überleben. Mein Durchsetzungsvermögen ist besser geworden als früher. Das war alles ein langjähriger Prozess. Durch die Begebenheiten rund um die MCS Erkrankung muss man härter werden, auch zu sich selbst.

    Es ist genau wie Du sagst Seelchen, wer beduftet ist, den lasse ich auch nicht mehr zu mir in die Wohnung. Denn die Folgen solcher Besuche, müsste ich mit tagelangen Beschwerden bezahlen und dazu fehlt mir einfach die Kraft. Mir geht es auch so schon schlecht genug. Daher kommt von mir mittlerweile ein entschiedenes „Nein“. Wer das nicht versteht, dem kann ich leider auch nicht helfen. Aber ich lebe seither etwas besser.

    Diffamierungen und Diskriminierungen mag ich nicht länger hinnehmen und so habe ich gelernt, mich besser durchzusetzen. Durch das Infomaterial von CSN konnte ich aber auch bei vielen um mich herum Verständnis bewirken.

  6. Christine 15. April 2013 um 22:28

    Hört hier alles 2009 auf? Über 10 Jahre leide ich schon. Jedes Jahr wird es mehr. Ich finde NIEMANDEN, der mir glaubt, bzw. helfen will. Meine Augenärztin hat mich heute indirekt Simulant genannt. Nachdem ich letzten Monat wegen Augentropfen in einen Zustand, ähnlich eines allergischen Schocks kam. Die gerufene Notärztin wollte mir Cortison spritzen. Mein Mann hat das zum Glück verhindert. Ich habe keinen „Allergiepass“ und außerdem ist das doch recht fragwürdig, so ich doch nicht krampfte. Von einer solchen Unverträglichkeit habe man noch nicht gehört… Irgendwann bleibe ich dabei. Ich reagiere immer heftiger, die Myalgien werden intensiver und öfter. Ich kann mich kaum noch erholen, weil dann bereits der nächste „Schlag“ kommt. Ich hätte so gerne Kontakt mit Betroffenen. Ärzte lachen mich aus, Bekannte schütteln mit dem Kopf. Ich ziehe mich immer mehr zurück, bin sehr einsam und manchmal fehlt mir jeder Mut.
    Christine

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