Ein Jahr UN Behindertenkonvention – Nullrunde für Behinderte mit MCS – Multiple Chemical Sensitivity

Ausgrenzung statt Barrierefreiheit für Chemikaliensensible

Alle Menschen- und Bürgerrechte gelten uneingeschränkt auch für Menschen mit Behinderungen. Das ist auch für Deutschland völkerrechtlich verbindlich, seit die UN-Behindertenkonvention im März 2009 in Kraft trat.

Als Vertragsstaat verpflichtete sich die Bundesrepublik, allen Behinderten eine gleichberechtigte Teilhabe an Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu ermöglichen.

Entgegen dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ sind Menschen mit der Erkrankung MCS – Multiple Chemical Sensitivity in der Bundesrepublik weiterhin benachteiligt:

Artikel 17 wird nicht umgesetzt:

MCS Kranke sind im täglichen Leben überall Trigger-Chemikalien ausgesetzt. Selbst eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus sind für MCS Patienten kein sicherer Ort. Für MCS Kranke gibt es hierzulande kein Recht auf Achtung der körperlichen Unversehrtheit.

Artikel 25 wird nicht umgesetzt:

MCS Kranken werden Gesundheitsversorgung und Gesundheitsleistungen, insbesondere geeignete Wohnumgebung, Luftreiniger, Sauerstoff, geeignete Nahrungsmittel und Nahrungsergänzung vorenthalten.

Artikel 26 wird nicht umgesetzt:

Rehabilitationsdienste und -programme für MCS Kranke gibt es in der Bundesrepublik nicht. Mithin versäumt die Medizin hierzulande, MCS im frühestmöglichen Stadium zu diagnostizieren. Vielmehr haben die meisten Kranken eine jahrelange Ärzteodyssee hinter sich, bevor sie von ihrer Erkrankung erfahren.

Artikel 9 bzw. Artikel 19 und Artikel 20 werden nicht umgesetzt:

Eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen, gleichberechtigter Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln ist bei MCS Kranken durch die ubiquitäre Gegenwart von Alltagschemikalien, insbesondere Duftstoffen, nicht gegeben.

Für MCS Kranke gibt keine gemeindenahen Unterstützungsdienste, noch nicht einmal hinsichtlich benötigter Pflege.

Die persönliche Mobilität MCS Kranker ist nicht sichergestellt, da keine MCS-gerechten Verkehrsmittel, noch nicht einmal Krankenwagen, bereitstehen.

Artikel 24 und Artikel 30 werden nicht umgesetzt:

MCS Kranke, insbesondere Kinder und Jugendliche, werden in der Bundesrepublik daran gehindert, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu können. Ein gleichberechtigter Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung bleibt MCS Kranken versagt.

Die Teilnahme am kulturellen Leben, Besuche in Theatern, Museen, Kinos, Sporthallen etc. ist durch die überall vorfindbaren Alltagschemikalien, insbesondere Duftstoffe, für MCS Kranke nicht möglich.

Artikel 27 wird nicht umgesetzt

Obgleich MCS Kranke in vielen Fällen unter geeigneten Bedingungen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit sichern könnten, gibt es keinerlei Rechtsvorschriften, die hilfreich sein könnten. Auch im öffentlichen Sektor können MCS Kranke keine Beschäftigung finden.

Artikel 28 wird nicht umgesetzt:

Angemessene, das heißt geeignete Ernährung, Bekleidung und Wohnung sind für die Mehrzahl MCS kranker Menschen nicht gewährleistet. Spezielle Wohnungs-bauprogramme und Altersversorgung gibt es nicht.

Traurig aber wahr: Auch ein Jahr nach Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention hat sich die Lage MCS Kranker in der Bundesrepublik nicht verbessert.

Autor: Juliane für CSN – Chemical Sensitivity Network, 12. Mai 2010 – Internationaler Tag für MCS, CFS, FMS.

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Wie es in anderen Ländern aussieht:

8 Kommentare zu “Ein Jahr UN Behindertenkonvention – Nullrunde für Behinderte mit MCS – Multiple Chemical Sensitivity”

  1. Alex 12. Mai 2010 um 18:40

    Danke Juliane,

    Dein Blog bringt ans Licht dass es komplett aus dem Ruder läuft. Womit ist zu entschuldigen, dass nichts aber auch überhaupt nichts für MCS-Kranke getan wird?

    Vieles wäre durch Anweisungen und Regelungen auf dem „kleinen Dienstweg“ machbar und MCS-Kranke könnten teilnehmen. Nicht einmal Kosten würden entstehen z.B. durch ein Duftverbot in Schulen und Krankenhäusern. Durch Veränderungen die MCS-Kranken Barrierefreiheit verschaffen, würden alle anderen Mitmenschen unter dem Strich in nicht unerheblichem Maße profitieren – für ihre Gesundheit.

    Aber nichts geschieht, man sitzt aus…Und dann die Schikanen, denen die MCS-Kranken ausgesetzt sind – alles nicht entschuldbar.

  2. Maria 12. Mai 2010 um 21:40

    Liebe Juliane,

    auch ich sage Danke für Deinen sachkundigen Artikel, der die nach wie vor bestehende missliche Lage von Behinderten, die an MCS erkrankt sind, verdeutlicht. Vieles wäre machbar, wenn man wollte. Es kann nicht alles auf einmal umgesetzt werden, doch es ist überhaupt kein Wollen zu erkennen.

    Duftstofffreie Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Arztpraxen wie auch Öffentliche Gebäude etc., könnte man mit Sicherheit umsetzen, es müssten nur die notwendigen Vorgaben und Rahmenbedingungen geschaffen werden.

    Dass es sich bei Duftstoffen um Chemikalien handelt, die zudem als hochallergen eingestuft sind, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Im Medizinsektor, an Schulen und in Kinderkrippen sollten überflüssige Chemikalien grundsätzlich verboten sein. Die Gesundheit aller dort verkehrenden Personen würde es danken.

    Die Teilhabe am öffentlichen Leben sollte / muss für alle Behinderte gleichermaßen als Zielsetzung gelten. Es darf nicht zweierlei Maß angewandt werden, das verstößt gegen das Grundgesetz.

    Es gibt noch viel zu tun und wir MCS-Kranke werden nicht klein bei geben, sondern wir werden weiter gemeinsam für unsere Rechte kämpfen.

    Herzliche Grüsse
    Maria

  3. Gerhard Becker 13. Mai 2010 um 11:16

    Hallo Juliane,

    ein Superartikel, der in jeder Tageszeitung gehört.

    Die Lage für MCS-Kranke wird durch den noch verschwiegenen europäischen Domino-Bankrott wohl leider nicht besser. Zwar kann Betroffenen auch ohne viel Geld wirksam geholfen werden, wie es im obigen Kommentar heißt, aber das interessiert nicht. Je weniger Duftstoffe verbraucht werden, desto geringer deren Verkauf und desto geringer Steuereinnahmen. Dass der Ausfall von erheblich viel Arbeitskraft aber noch viel mehr, auch finanziellen, Schaden anrichtet, wird besserwisserisch und mit viel Ignoranz ähnlich übersehen, wie lange Zeit die Folgen desa Rauchens. Da meinte man auch, der Wegfall der Steuereinnahmen durch weniger Verkauf von Tabakwaren sei größer wie die Behandlungskosten von raucherbedingten Krankheiten. Ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis man ehrlich gegen den Tabakkonsum vorging, wenn auch immer noch viel zu lasch.

    Da Chemikalien so allgegenwärtig wie Metall, Glas und Beton im Alltag geworden sind, lässt sich ausmalen wie sich zähflüssig die notwenige Einsicht kommen wird…

    Gruß Gerhard

  4. Amazone 13. Mai 2010 um 12:12

    Hallo Juliane,

    danke, dass du dieses Thema von mir aufgegriffen hast, über das wir uns vor einiger Zeit schon mal ausgetauscht hatten.

    Nicht unerheblich sind m.E. auch eindeutige Verstöße gegen Artikel 4 und 5.

    Artikel 4
    Allgemeine Verpflichtungen
    (1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten,
    a) alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen;
    b) alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen;
    c) den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in allen politischen Konzepten und allen Programmen zu berücksichtigen;
    d) Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass die staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln;
    e) alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen zu ergreifen;
    f) Forschung und Entwicklung für Güter, Dienstleistungen, Geräte und Einrichtungen in universellem Design, wie in Artikel 2 definiert, die den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen mit möglichst geringem Anpassungs- und Kostenaufwand gerecht werden, zu betreiben oder zu fördern, ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern und sich bei der Entwicklung von Normen und Richtlinien für universelles Design einzusetzen;
    g) Forschung und Entwicklung für neue Technologien, die für Menschen mit Behinderungen geeignet sind, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien, Mobilitätshilfen, Geräten und unterstützenden Technologien, zu betreiben oder zu fördern sowie ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern und dabei Technologien zu erschwinglichen Kosten den Vorrang zu geben;
    h) für Menschen mit Behinderungen zugängliche Informationen über Mobilitätshilfen, Geräte und unterstützende Technologien, einschließlich neuer Technologien, sowie andere Formen von Hilfe, Unterstützungsdiensten und Einrichtungen zur Verfügung zu stellen;
    i) die Schulung von Fachkräften und anderem mit Menschen mit Behinderungen arbeitendem Personal auf dem Gebiet der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu fördern…

    Artikel 5
    Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung
    (1) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben.
    (2) Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.
    (3) Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten.

    Es gibt viel zu tun. Packen wir’s an.

    Viele Grüße
    Amazone

  5. K. Fux 13. Mai 2010 um 13:52

    Das sehe ich ebenso, vieles wäre machbar, aber es fehlt ganz klar am Willen der Verantwortlichen. Da bei uns in D alles um MCS so wunderbar kleingehalten wird und man uns in der Öffentlich gerne nach wie vor als Hypochonder darstellt, läuft unser Staat Gefahr, dass irgendwann einmal nichts mehr geht.

    Allen Behinderten sollten die gleiche Rechte eingeräumt werden. Wir MCS Kranken könnten durch entsprechende Aufklärung und Maßnahmen weitaus mehr Lebensqualität erfahren und wir könnten somit am gesellschaftlichen Leben wenigstens ein Stückchen teilnehmen, wenn man einige Dinge zu Gunsten aller, verbessern würde. Denn die Gesundheit aller Menschen würde davon profitieren. Stattdessen ignoriert man unsere Belange und macht weiter, als gäbe es uns nicht.

    Neulich war ich beim Umweltarzt, er meinte gegen Ende des Gesprächs, MCS-Kranke werden immer mehr.

  6. Kira 14. Mai 2010 um 08:26

    Liebe Juliane,
    du hast verdammt gute Arbeit geleistet, danke.

    Auch wenn der Respekt gegenüber schwer toxisch Geschädigten gewachsen ist, Anzeichen international für eine wachsende Akzeptanz in der Gesellschaft zu sehen , zu hören und dagestellt wird, begegnet man hier in Deutschland nach wie vor im Alltag, in Schule, in Beruf und im Sport/Freizeit offener und verborgener Ablehnung gegenüber schwer toxisch geschädigter Menschen.
    Um diese politische Forderung nach der Gleichstellung und -behandlung sichtbar zu machen,sollten wir handeln und deinen Artikel, als auch den Beitrag von Amazone als Beschwerde an die
    http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Menschenrechtskonvention
    weiterleiten.
    Ein Versuch wäre es allemal wert.

  7. Maria 15. Mai 2010 um 18:43

    Diese Pressemitteilung habe ich soeben entdeckt:

    „Ärztetag: UN-Behindertenrechtskonvention konsequent umsetzen

    Berlin (ots) – Die Delegierten des 113. Deutschen Ärztetags haben die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland gefordert. Es müsse sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung zur Verfügung steht…

    …Damit eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung für Menschen mit Behinderungen in Deutschland tatsächlich umgesetzt werden kann, „müssen konkrete Vorschläge realisierbarer Maßnahmen aufgezeigt werden“, heißt es in dem Ärztetagsbeschluss. Diese sollten sich an den in der Stellungnahme zur UN-Konvention der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (BÄK) hervorgehobenen Bereichen orientieren. Vor allem in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten sollte das Thema behandelt, Anreize für eine behindertengerechte Ausstattung von Praxen und Klinken sowie assistive Technologien und eine spezifische Versorgungsforschung gefördert werden…

    Bundesärztekammer“

    http://www.presseportal.de/pm/9062/1614076/bundesaerztekammer/rss

    Auch hier sollten wir ansetzten und zur Umsetzung unser berechtigten Ansprüche, dort vorstellig werden.

  8. X-Faktor 17. Mai 2010 um 07:47

    Es ist schon ein Armutszeugnis, was sich für uns MCS Erkrankte als Behinderte ergibt. Die Teilhabe am öffentlichen Leben ist unmöglich, doch es könnte weitaus besser um uns stehen, gäbe es die Bereitschaft, sich für unsere Belange einzusetzen und bereit sein, für Veränderungen. Unsere Ansprüche finden keinerlei Würdigung.

    Da haben die Herrschaften vom Ärztetag bzw. der Ärztekammer sicher noch einiges an Hausaufgaben zu machen. Hier steht es nun schwarz auf weiß, „behindertengerechte Ausstattung von Praxen und Kliniken…“, man sollte sie öfter an ihr Vorhaben erinnern.

    XXX

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