Hexenjagd auf Komplementär- und Umweltmedizin oder reiner Lobbyismus?
Die Komplementärmedizin hat in Deutschland ähnlich wie die Umweltmedizin einen schweren Stand. Verstaubte, verknöcherte Strukturen und Industrielobbyismus stemmen sich vehement gegen alles, was nicht ins Konzept passt. Arg wird es, wenn die Presse das Spiel mitspielt, statt kritisch zu recherchieren, warum man in Deutschland so gut wie gar keine Toleranz für eine neue Medizin hat, die auch Ursachenforschung betreibt. Im Spiegel, der Süddeutschen und aktuell in Die Zeit, wurde dem Leser suggeriert, dass er sich regelrecht in Abgründe begibt, wenn er sich auf Alternativmedizin einlässt.
Lobbyjournalismus
Warum solche Artikel lanciert werden, die Komplementär- und Umweltmedizin ad absurdum führen wollen, lässt sich leicht durchschauen, man braucht bloß einen Blick auf die Anzeigen zu werfen, mit denen die Blätter gefüllt sind und finanziert werden. Wer sich dann noch die Mühe macht, die Aufsichtsratspositionen und Gremien der Experten zu sichten, die herangezogen wurden, um den Artikeln dem Nimbus zu verleihen, hier spräche die Wissenschaft, wird nicht mehr länger verwundert über den Tenor der Artikel sein.
Alternativmedizin unerwünscht
Im September nahm Die ZEIT die Komplementärmedizin ins Fadenkreuz und forderte den Rückzug in den Muff der alten Zeiten, als Medizin noch „richtige Medizin“ war. Können wir uns einen Rückzug in die „richtige alte Medizin“ erlauben? Ein klares Nein, in Anbetracht der Zunahme chronischer und neurodegenerativer Erkrankungen, deren Ursache in unserer mit Chemikalien überfluteten Umwelt zu suchen ist.
Lobby-Drehtüren abschaffen, frischen Wind einlassen
Die deutschen medizinischen Fakultäten täten wahrlich besser daran, in Bezug auf Umwelt und Alternativmedizin ihre Fenster und Türen sperrangelweit zu öffnen und frischen Wind durch die Gänge wehen zu lassen, um auf internationalem Parkett nicht gänzlich den Anschluss zu verlieren – an eine moderne Medizin, die anderorts beachtliche Erfolge aufzuweisen hat und sich auf das Patientenwohl fokussiert. Unserem Gesundheitssystem und der Gesundheit unserer Allgemeinbevölkerung wäre mit einer Öffnung besser gedient, als mit dem Installieren von Lobby-Drehtüren an deutschen Universitäten, die Industrie und deren Gewinnmaximierung dienen, ohne Rücksicht auf Gesundheit und Umwelt.
Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network
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Zum Artikel “Wehe! Wehe!” von Harro Albrecht (Die Zeit, Nr. 37, 09.09.2010) schrieb die Karl und Veronica Carstens-Stiftung eine Stellungnahme:
Aber! Aber!
In den deutschen Leitmedien scheint es geradezu als schick zu gelten, Homöopathie, Akupunktur oder Ayurveda zu verteufeln. Während vom Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL die Homöopathie im Sommer noch als „Hokuspokus“ und „mystischer Käse“ abgetan wurde, bezeichnet die Wochenzeitung Die ZEIT die Komplementär- medizin nun als „magisch-mystische Lehre“, „Zauberkunst“ oder „Paramedizin“. Angesichts der Tatsache, dass die „mystische Lehre“ jetzt obendrein Einzug an deutschen Universitäten hält, kann ZEIT-Autor Harro Albrecht nur mahnen: „Wehe! Wehe!“ Wie gut waren doch die alten Zeiten, in denen noch „richtige Medizin“ gelehrt wurde, „richtige deutsche Mediziner“ ein Vorbild in der Welt waren, das Qualitätssiegel „Med. in Germany“ noch höchste Anerkennung genoss. Frei nach dem Motto „der Aberglaube frisst die moderne Medizin“, sollen die alternativen Heilmethoden schnell wieder vom Campus verschwinden.
Missstände an deutschen medizinischen Fakultäten
In einer Hinsicht muss man dem Autor Recht geben: Die Missstände an den deutschen medizinischen Fakultäten sind in der Tat beklagenswert. Bei allem Klagen über schlechte Ausbildung, “Deprofessionalisierung“ und „Entakademisierung“, über „wenig ergiebige“ Dissertationen fragt man sich allerdings: Was hat das Ganze mit Naturheilkunde & Co zu tun? Warum müssen ausgerechnet die komplementären Verfahren als Prügelknabe herhalten?
Forschung zur Komplementärmedizin weltweit
Wer befürchtet, international den Anschluss zu verlieren, sollte über den nationalen Tellerrand hinausschauen. Er wird feststellen: Ohne universitäre Programme zur Komplementärmedizin ist die Gefahr, ins wissenschaftliche Abseits zu geraten, ungleich größer. Die deutsche Medizin muss sich anstrengen, möchte sie im internationalen Vergleich mithalten.
In den USA ist die Forschung zur Komplementärmedizin (Complementary and Alternative Medicine = CAM) von staatlicher Seite seit Jahren fest etabliert. An 82 von insgesamt 125 medizinischen Hochschulen ist CAM als Pflichtteil des Lehrplans festgesetzt. Außerdem wurde das National Center of Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) als Abteilung des NIH (National Institute of Health) eingerichtet. Mittlerweile werden hier jährlich mehr als 120 Millionen Dollar in Forschungsförder- programme investiert – Tendenz steigend! Die Gründe sind unter anderem: In den USA stehen Nebenwirkungen von konventionellen Behandlungen auf Platz 11 aller Todesursachen. Die „Amerikanische Behörde für Technikbewertung“ stellte fest, dass maximal 20 Prozent der Produkte der Pharmaindustrie in ihrer Wirkung wissenschaftlich abgesichert sind. Abgesehen davon wurde 1992 klar, dass die Bevölkerung mehr Geld für komplementärmedizinische Behandlungen ausgibt als für konventionelle.
Dass auf europäischer Ebene Bewegung in die Sache kommt, zeigt die Integration der Komplementärmedizin ins 7. EU-Forschungsprogramm.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in einer Resolution den Stellenwert der Komplementärmedizin und der traditionellen Medizinsysteme hervorgehoben. Es ist ein Armutszeugnis für den Wissenschaftsstandort Deutschland, dass z.B. Homöopathie-Studien heutzutage aus dem Iran, Indien oder Brasilien kommen und die Phytotherapieforschung nahezu komplett in amerikanischer Hand ist – teilweise mit sensationellen und zukunftsweisenden Resultaten.
Wissenschaft im Dienste der Bevölkerung
Dass die Komplementärmedizin Einzug an deutschen Universitäten hält, hat weniger etwas mit „gutem Sponsoring“ zu tun, sondern zeugt vielmehr von gesundem Pragmatismus. Der Autor schreibt selbst: Je nach Umfrage haben bis zu zwei Drittel aller erwachsenen Bundesbürger schon einmal alternative Heilmethoden in Anspruch genommen.
Wo die Schulmedizin an ihre Grenzen stößt, beschreitet die Komplementärmedizin Therapiewege, die offensichtlich Erfolg versprechend sind. Gerade weil die moderne Medizin chronisch kranken Patienten keine kurativen Therapiemöglichkeiten anbieten kann, suchen diese nach Möglichkeiten, ihre Lebensqualität zu steigern.
Es ist im unmittelbaren Interesse der Patienten und einer Verbesserung der Versorgung, mehr Klarheit über komplexe Therapieverfahren – wie zum Beispiel der Homöopathie oder der Traditionellen Chinesischen Medizin – zu erlangen. Wenn Wissenschaft zum Selbstzweck wird und sich nicht mehr um die Probleme der Patienten kümmert – dann sind die Universitäten auf dem besten Weg, sich selbst abzuschaffen.
Wissenschaft im Dienste der Ärzteschaft
Eine aktuelle Umfrage belegt, dass 40 Prozent der Entscheidungsträger an den medizinischen Fakultäten eine positive Einstellung gegenüber komplementären Methoden haben. Die wachsende Zahl von Ärzten mit den Zusatzbezeichnungen Akupunktur, Homöopathie und Naturheilverfahren zeigt das zunehmende Interesse der Ärzteschaft und verdeutlicht die Notwendigkeit der Lehre an den Universitäten.
Die Komplementärmedizin ist längst auf allen Ebenen angekommen: Die Landesärztekammern verleihen die Zusatzbezeichnung erst nach zertifizierter Weiter- bildung, für die eine Facharztbezeichnung Voraussetzung ist.
Die Bundeärztekammer leistet sich eine Einrichtung namens „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ – ins Leben gerufen vom Präsidenten der Bundesärzte- kammer persönlich. Ja, sogar die gesetzlichen Krankenkassen erstatten für spezielle Verfahren die Kosten ganz oder teilweise.
Es ist an der Zeit, den ärztlichen Nachwuchs in Deutschland zu professionalisieren. Die Relevanz ist offensichtlich.
Bestandteil der universitären Ausbildung sollte es daher sein, die Studierenden so neutral wie möglich über komplementäre Therapieverfahren zu informieren. Nur so können die angehenden Ärzte ihre Patienten später auch zu diesen Fragen fundiert beraten.
Die Karl und Veronica Carstens-Stiftung hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, schon im Studium Grundlagenwissen zur Komplementärmedizin zu vermitteln.
Dabei ist das Nachwuchsförderprogramm der Stiftung in der Universitätsmedizin ohne Beispiel: Studenten werden durch Arbeitskreise, Kongresse, Promotions- seminare und Stipendien betreut – das Niveau der Forschungsarbeiten ist herausragend. Das ist eine angemessene und konstruktive Antwort auf die vom Autor bemängelten Zustände an den Universitäten.
Problem Drittmittel-Finanzierung?
In ihrem gerade erschienen Buch „Gesunder Zweifel“ über den Aufstieg und Fall des ehemaligen IQWIG-Chefs Peter Sawicki, schreibt die Journalistin Ursel Sieber: „Heute hängen Professuren am Tropf der Industrie.“
Falls die Fremdfinanzierung an den medizinischen Hochschulen ein Problem darstellen sollte, dann sicher nicht auf Seiten der Komplementärmedizin: Von derzeit insgesamt 2.839 Medizin-Professuren haben lediglich 8 (!) die Komplementärmedizin zum Inhalt – alle 8 sind Stiftungsprofessuren, denn eine staatliche Förderung findet in Deutschland bis heute nicht statt.
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CARSTENS-STIFTUNG, Stellungnahme der Karl und Veronica Carstens-Stiftung zum Artikel “Wehe! Wehe!” von Harro Albrecht (Die Zeit, Nr. 37, 09.09.2010), www.carstens-stiftung.de
Es ist genau wie Du sagst, Silvia, Deutsche medizinische Fakultäten und das Gesundheitswesen schlechthin, täten gut daran, alt eingefahrene Verhaltensweisen und Lehrmethoden über Bord zu werfen und sich der Realität zu stellen, dem Wohl des Patienten zu dienen und realistische Umweltmedizin endlich bedingungslos zu zulassen.
Stattdessen ist man abhängig von den industriellen Geldgebern, die in Zeiten leerer Kassen die sog. „Forschungsgelder“ zur Verfügung stellen. Aber der Arm vieler Industriezweigs ist bekanntlich lang und mächtig – Lobbyismus lässt grüßen.