Neue Strategie für die Umweltmedizin
Den Grundbestand der Forschung systematisch erfassen:
Eine unverzichtbare Strategie, um mehr Umweltmedizin in die klinische Praxis und in die Gesundheitspolitik einzubringen
Als Gesellschaft könnten wir Umweltmedizin weitaus besser in die klinische Beratung und in die Empfehlungen für die Politik einfließen lassen
Denken wir z.B. an Formaldehyd: In den frühen 80’er Jahren haben mehrere Studien mit Ratten gezeigt, dass die Einwirkung von Formaldehyd bei ihnen die Wahrscheinlichkeit für nasale Krebserkrankungen erhöhte. Es mussten jedoch weitere zwanzig Jahre beobachtender Forschung am Menschen ins Land gehen, um dieselben gesundheitlichen Folgen für diesen zu bestätigen, damit es endlich zu beschränkenden gesetzlichen Regelungen für Formaldehyd kam.
Bisphenol-A (BPA), der umstrittene Zusatzstoff für Plastik, entpuppt sich als klassisches aktuelles Beispiel des Problems, das die Ärzte des Gesundheitssystems mit Formaldehyd hatten. In diesen Fall gibt es etwa 1 000 Studien zu dessen möglichen Gesundheitsrisiken – aber es wird immer noch nur politisch gestritten, anstatt eindeutig zu entscheiden, ob BPA sicher ist oder nicht.
Umweltmedizinische Experten wissen, dass es einen substantiellen Grundstock an wissenschaftlichen Beweisen gibt, die einen Zusammenhang zwischen Chemikalien in der Umwelt und einem weiten Bereich von Erkrankungen herstellen. Zu diesen zählen Krebs, neurodegenerative Erkrankungen, Autismus, Diabetes und so weiter. Die Fälle von Formaldehyd und BPA belegen jedoch die augenfälligen Barrieren zwischen dem Erwerb von umweltmedizinischem Wissen und der Gesellschaft, die anschließend handeln sollte, um die allgemeine Gesundheit zu schützen. Allein im Falle von Formaldehyd bedeutete dies nichts anderes als zwanzig Jahre unnötige nasale Krebsleiden bei Menschen.
Die Langsamkeit, mit der die umweltmedizinische Forschung das politische Handeln und die Arbeit an den Kliniken beeinflusst, mag teilweise an den Unterschieden zwischen umweltmedizinischer und klinischer Forschung liegen, und mehrere Gruppen arbeiten an dieser Lücke.
Tracey Woodruff, MPH (Master of Public Health), Leiterin des Programms für Reproduktive Medizin an der University of California San Francisco (UCSF) ist sich dieses Problems sehr bewusst. Als eine Ärztin im Gesundheitswesen, die sich mit Fortpflanzungsmedizin befasst, erläutert sie, dass, als ihr die zunehmende Häufigkeit von Endometriose und Unfruchtbarkeit bei ihren Patientinnen auffiel, sie es sich selbst zuerst nicht erklären konnte, warum dies so ist, sondern dass es auch nichts gab, was ihr dabei helfen konnte, die Ursache der von ihr beobachteten Veränderungen zu verstehen.
Woodruff koordiniert nun das Komitee für praktische Ärzte und Ärzte im Gesundheitswesen, das der Auffassung ist, dass ein Großteil des Problems mit den grundsätzlichen Unterschieden zu tun hat, wie umweltmedizinische und klinische Forschung betrieben und dargestellt werden. Das Komitee glaubt, fehlendes Verständnis der Nützlichkeit umweltmedizinischer Daten führe zu einer falschen Wahrnehmung unter Klinikern, nach welcher umweltmedizinische Forschungsergebnisse für die klinische Praxis belanglos seien, da die Daten in der Tat sehr verschieden sind.
Der wichtigste Unterschied ist der Einsatz der randomisiert kontrollierten Studie (RCT) [randomised controlled trial], die als das „Nonplusultra“ wissenschaftlicher Erkenntnis für medizinisch diagnostische Bewertung angesehen wird. Während diese das Hauptprodukt der klinischen Forschung ist und den Inhalt nahezu aller Studien ausmacht, die im Mainstream der medizinischen Literatur veröffentlicht werden, gibt es nahezu keine RCT-Studie aus dem Forschungsbestand der Umweltmedizin. Dafür gibt es einen Hauptgrund: es ist unethisch, Menschen für Forschungszwecke einer Substanz auszusetzen, von der man eine schädigende Wirkung erwartet, deshalb ist eine RCT-Studie für umweltmedizinische Forscher geradezu tabu. Diese Beschränkung ist auch in der Medizin durch das Verbot akzeptiert, Medikamente an schwangeren Frauen zu erproben.
Anstelle von RCTs setzen beobachtende Studien am Menschen eine größere Bedeutung von Vergleichbarkeiten voraus, um zu verstehen, wie die Einwirkung von chemischen Stoffen in der Umwelt die Gesundheit beeinträchtigen könnte. Die Bedeutung von auf Beobachtung beruhenden Evidenzen sollte nicht unterschätzt werden, da es unter ihnen viele Beispiele gibt, die stark genug waren, um ein Eingreifen zu rechtfertigen, wie z.B. die Identifikation der toxikologischen Gefährdung durch Diethylstilbestrol (DES) gezeigt hat. In diesen Falle hatten alarmierte Kliniker genug Daten über die pränatale Exposition durch DES gesammelt, die einen Zusammenhang mit der Zunahme einer seltenen, die Fortpflanzung betreffenden Krebsform bei Frauen nahe legten.
Neben beobachtenden Studien an Menschen sind in vivo Tierversuche und in vitro Experimente eine weitere wichtige Informationsquelle für umweltmedizinische Forscher. Obwohl diese in der pharmazeutischen Industrie in großen Umfang genutzt werden um zu entscheiden, ob es sich lohnt, einen Wirkstoff an Menschen zu testen und natürlich, ob dies für diese sicher ist, hat die Entdeckung toxischer Wirkungen bei Tieren offenbar dann nicht die gleiche Bedeutung, wenn es darum geht, die Schädlichkeit menschengemachter Chemikalien zu bestimmen.
Interessant ist, dass diese nahezu ausschließliche Beachtung von RCT-Studien bedeutet, dass andere Nachweismethoden verworfen und für die medizinische Praxis als bedeutungslos angesehen werden. Aufgrund dieser Wahrnehmung ist Umweltmedizin als Fach offiziell nicht Teil der medizinischen Ausbildung. Infolgedessen tun sich Ärzte mit solchen Dingen schwer oder lehnen wahrscheinlich sogar deren Bedeutung ab. Beispielsweise können sich einer Studie des US-Staates Georgia zufolge die meisten Kinderärzte nicht dazu bequemen, eine Umwelt-Krankengeschichte aufzunehmen, obwohl in über der Hälfte der berichteten Krankengeschichten Patienten ernsthaft durch Umwelteinflüsse geschädigt wurden. Dies verringert die Chancen, daß nichtklinische Studien in den medizinischen Mainstream-Zeitschriften veröffentlicht werden, weshalb Ärzte die Forschungsergebnisse nie zu Gesicht bekommen, was das Problem weiterbestehen lässt. (Übersetzung des Abstract zur Studie im Anhang)
Diese Situation zu ändern ist schwierig. Wenn die Wissenschaft [der Umweltmedizin] von der medizinischen Gemeinschaft für die Gesundheit nicht als relevant angesehen wird, gibt es wenig Argumente zu versuchen, sie in die Ausbildung oder klinische Arbeit hinein zu zwingen; jeder, der schon mal mit medizinisch Lehrenden über die Aufnahme von zusätzlichem Stoff zu den Curricula gesprochen hat, wird wissen, wie schwer es ist, zur Ausbildung von Nachwuchsmedizinern Inhalt hinzu zu fügen. Auch wollen Kliniker in der begrenzten Zeit des Kontakts mit dem Patienten nicht noch mehr zu tun haben.
Bemühungen, um die Umweltmedizin-Forschung zugänglich zu machen
Was ist also zu tun? Für Mark Miller MD (Doctor der Medzin), Leiter des UCSF Pediatric Environmental Health Specialty Unit, (einer Spezialabteilung für Kinder-Umweltmedizin an der Kalifornischen Universität s.o.) und Mitglied der Arbeitsgruppe von Woodruff, besteht der erste Schritt darin, eine Wissenschaft, die manchmal als „seltsam“ angesehen wird, Klinikern zugänglich zu machen: „Der Schlüssel [zum Erfolg] liegt darin, die Materialien so zu sortieren, dass sie für die klinische Gemeinschaft akzeptabel sind – sie müssen den Anforderungen dieser Gemeinschaft gerecht werden, in einer Sprache geschrieben sein, welche die Gemeinschaft versteht und die für die Angelegenheiten von Klinikern eintritt.“
Um dies zu bewerkstelligen versucht Woodruffs Komitee den „GRADE Ansatz zur Erhebung klinischer Eingriffe“ für die Umweltmedizin zu übernehmen. [GRADE (Recommendations Assessment, Development and Evaluation), Bewertung von Empfehlungen, Entwicklung und Erhebung)] Zunehmend weltweit angewendet und von der Cochrane Collaboration, dem British Medical Journal und dem American College of Physicians befürwortet, stützt sich GRADE auf eine genau festgelegte Methodik für Empfehlungen zu klinischen Eingriffen.
Wenn ein ähnliches System für die Umweltmedizin entwickelt werden könnte, insbesondere mit einer anerkannten transparenten Methodik, wäre nach Ansicht von Woodruff ein eindeutiger Schritt nach vorne getan, Umweltmedizin in die medizinische Arbeit einfließen zu lassen. Würde man alles aus der umweltmedizinische Wissenschaft mit Hilfe einer transparenten Methodik sammeln und präsentieren, würden wohl begründete Ansichten mit dazugehörigen Handreichungen für Kliniken und Politik zu einer absolut zuverlässigen Informationsquelle werden, ganz ähnlich der Bedeutung, wie sie die Agency for Research on Cancer Monographs [WHO-Einrichtung für Krebsforschung] und die Rezensionen von Cochrane für klinische Eingriffe haben.
Erste tastende Schritte ein solches System zu errichten, wurden in Großbritannien unternommen. Mark Starr, Chef-Software-Entwickler hinter der Cochrane-Datenbank zur Sortierung [und Bereitstellung] von Rezensionen, aus der später zur Cochrane Bibliothek wurde, entwickelt ein System namens „„Sustainability for Health: an Evidence Base for Action“ (SHEBA) [Nachhaltigkeit für die Gesundheit: Ein Grundbestand an Forschung um zu handeln]. Dessen Zweck besteht darin, umweltmedizinisches Wissen an einem Ort zusammen zu führen, um es dann einem Überprüfungsverfahren im Stile von Cochrane zu unterziehen, um die bedeutendsten und wirksamsten praktischen und administrativen Interventionen zur Minimierung von umweltbedingten gesundheitlichen Schäden zu bestimmen. (Ich bin selber an diesem Projekt beteiligt. Obwohl die Webseite zugänglich ist, befindet sie sich immer noch in der Entwicklung – jeder der mehr Information wünscht, soll sich ermutigt fühlen, mit mir in Kontakt zu treten) [Wenden Sie sich bitte an CSN-Deutschland.]
Um den durch die Umwelt der Gesundheit zugefügten Schaden zu begrenzen, beschreibt es Miller s.o. als wichtigstes Ziel, die Kliniker dazu zu bringen, „die Ursachen der Probleme zu sehen und am Thema Gesundheitspolitik hängen zu bleiben, weil diese Probleme dazu geführt haben, dass zu aller erst sie den Patienten vor sich haben. Die Umweltmedizinische Wissenschaft für die Arbeit der Kliniker und den politischen Lenkern des Gesundheitswesens relevanter zu machen, scheint grundlegender Teil dieses Vorgangs zu ein.
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Autor: Paul Whaley, 9. März 2010 für Environmental Health, Research von The Pump Handle
Herzlichen Dank an Paul Whaley für die freundliche Genehmigung diesen Artikel übersetzen zu dürfen!
Paul Whaley ist Herausgeber der Webseite und der monatlichen e-Publikation Health & Environment, die hauptsächlich dazu dienen soll, praktischen Ärzten und Machern der Gesundheitspolitik die Bedeutung der Umwelt als bestimmenden Faktor für die Öffentliche Gesundheit nahe zu legen. (Einige dieser Materialien für Kliniker können Sie hier ansehen.) Er arbeitet auch als Kurator des Environmental Chemicals Stream für (SHEBA), s.o. und ist Communication Manager für die Cancer Prevention and Education Society.
Übersetzung: BrunO für CSN
ANHANG
The environmental history in pediatric practice: a study of pediatricians‘ attitudes, beliefs, and practices
Kilpatrick N, Frumkin H, Trowbridge J, Escoffery C, Geller R, Rubin L, Teague G, Nodvin J.
Department of Behavioral Sciences and Health Education, Rollins School of Public Health, Emory University, Atlanta, Georgia 30322, USA.
Environ Health Perspect. 2002 Aug;110(8):823-7.
Abstract: Wir führten eine Befragung per Post unter praktizierenden Kinderärzten in Georgia durch, um ihr Wissen, ihre Einstellung und ihre Gewohnheiten bezüglich der Aufnahme von umweltbezogenen Krankengeschichten ihrer Patienten zu bewerten. Von 477 der in Frage kommenden Kinderärzte haben 266 (55.8%) geantwortet. Weniger als einer von fünf berichteten, dass sie für die Erstellung umweltbezogener Krankengeschichten ausgebildet wurden. Kinderärzte berichteten, dass sie sehr an die Bedeutung von Umwelteinflüssen für die Gesundheit von Kindern glauben, und 53.5% der Anworter berichteten von Erfahrungen mit einem Patienten, der durch Umweltgifte [Expositionen] ernsthaft erkrankte. Kinderärzte stimmten moderat stark zu, dass die Aufnahme einer Umwelt-Krankengeschichte nützlich ist, um potentiell schädliche Expositionen zu identifizieren und zu helfen, diese zu vermeiden. Anworter berichteten wenig Selbstvertrauen bezüglich der Erstellung [solcher Kranken-] Geschichten, der Diskussion von Umweltexpositionen mit Eltern, und dem Auffinden wissenschaftlicher Informationen über Umweltschadstoffe zur Diagnose und Behandlung. Die Wahrscheinlichkeit der selbstberichteten Aufnahme einer Umwelt-Krankengeschichte hing von der Art der Exposition ab, am meisten wurde nach Information zu Tabakrauch und Haustieren in der Lebensumgebung gesucht, am wenigsten nach Asbest, Quecksilber, Formaldehyd und Radon. Die Kinderärzte bevorzugten Informationsquellen wie die American Academy of Pediatrics (Amerikanische Akademie für Kinderärzte), Newsletter und Patienteninformationen. Kinderärzte zeigen großes Interesse für Kinder-Umweltmedizin, trauen sich aber bei der Aufnahme von Umwelt-Krankengeschichten wenig zu. Es gibt ein beachtliches Potential, die Erstellung von Umwelt-Krankengeschichten zu trainieren und die Häufigkeit der Erstellung solchen Krankengeschichten zu erhöhen.
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