Neurogene Entzündung und Chemikalien-Sensitivität

Active Neuron

Entzündung ist ein anormaler Zustand des Gewebes, der durch lokalisierte Rötung, Schwellung und Schmerz charakterisiert ist. Histologisch (gewebekundlich) ist die Entzündung durch Ödembildung, Gefäßerweiterung und Infiltration von Leukozyten gekennzeichnet. Es gibt eine Anzahl von biochemischen Substanzen, die dabei helfen, diesen Zustand hervorzurufen.

Entzündungen können durch das Immunsystem ausgelöst werden. Dabei interagieren Fremdstoffe mit Rezeptoren auf den Leukozyten (weißen Blutkörperchen). Die Rezeptoren sind dabei vorher als Reaktion auf eine sensibilisierende Exposition gegenüber diesen Fremdstoffen gebildet worden. Dadurch wird eine Kettenreaktion ausgelöst, die zur Entzündung führt.

Neurogene Entzündung

Neurogene Entzündung ist ein wohl definierter Prozess, bei dem eine Entzündung durch das Nervensystem ausgelöst wird.

Schon früh hatte man erkannt, dass chemische Stimulation zu neurogener Entzündung führen kann. Schon 1910 beobachtete man, dass Entzündungsprozesse, die durch Aufbringen von Senföl unter das Augenlid bei experimentellen Tiermodellen ausgelöst werden, durch die Entfernung des sensorischen Nerven blockiert werden kann.

Heute weiß man, dass sensorische Nerven die Neuropeptide Substanz P (SP), Neurokinen A (NA) und das Calcitonin Gene Related Peptide (CGRP) enthalten und dass diese Signalstoffe starke gefäßerweiternde Eigenschaften haben. Direkte Stimulierung sensorischer Nerven erzeugt durch die dadurch veranlasste Ausschüttung dieser Neuropeptide Gefäßerweiterung und Entzündung. Die dabei involvierten Nerven sind so genannte C-Fasern, in denen die Nervenleitgeschwindigkeit wegen der fehlenden Myelinhülle nur 1-2 m/s beträgt.

Ein Oberflächenmolekül der Zellen, die neutrale Endopeptidase (NEP), reguliert die neurogene Entzündung wieder runter, indem es die Substanz P wieder abbaut. In der Lunge wird dieses Enzym durch Zigarettenrauch, virale Infektionen und auch Toluen-diisozyanat blockiert (entzündungsverstärkend), während Kortikosteroide (z.B. Kortison) die Menge des vorhandenen NEP erhöhen (entzündungshemmend).

Man nimmt an, dass sensorische Nerven bei neurogenen Entzündungsprozessen, die durch irritierende chemische Substanzen ausgelöst werden (vgl. Blogbeitrag über Chemestesis sowohl als afferente (in Richtung Gehirn laufende) als auch als efferente (vom Gehirn weglaufende) Nerven wirken. In der Nase wurde die Freisetzung von Substanz P für Expositionen gegenüber Nikotin, Capsaicin, Äther, Formaldehyd und Zigarettenrauch nachgewiesen. Die Beziehungen zwischen irritierenden chemischen Substanzen, Nervenfasern, Substanz P und NEP sind hier skizziert: Bild 1 und Bild 2.

Irritierende chemische Substanzen binden an Rezeptoren auf sensorischen Nervenfasern und setzen Substanz P (P) und andere Stoffe an den Nervenendungen frei. Substanz P bindet an Rezeptoren auf anderen Zellen und löst die Entzündung aus. NEP baut SP wieder ab.

Dr. William Meggs stellte die Hypothese auf, dass Chemikaliensensitivitäten Erkrankungen der Regulation der neurogenen Entzündung sein könnten.

Die möglichen Rollen neurogener Entzündungen

Neurogene Entzündung könnte bei einer Vielzahl von Erkrankungen eine Rolle spielen, von Asthma und Rhinitis bis zu evtl. Migräne, rheumatoider Arthritis und Fibromyalgie. Diese Vermutung wird durch Tierstudien, pharmakologische Reaktionen bei diesen Erkrankungen und indirekte Hinweise nahe gelegt.

Es ist bekannt, dass die Neuropeptide, die neurogene Entzündungen auslösen, die Krankheitszeichen von Asthma reproduzieren. Außerdem wurde die Rolle neurogener Entzündung bei Asthma in Tiermodellen dokumentiert. Substanzen, die die Atemwege irritieren, wie VOCs und Zigarettenrauch, können Asthma und Rhinitis (Schnupfen) verschlimmern. Dies legt nahe, dass es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen Innenraumluftverschmutzung mit VOCs und der sich verschlimmernden Asthmaepidemie gibt.

Wechselwirkungen

Meggs schlägt vor, zwischen immunogenem und neurogenem Asthma zu unterscheiden. Dabei beschränkt sich die Unterscheidung auf die Auslöser, da sich die Verläufe nach Ausschüttung der Entzündungsmediatoren überlappen. Die Mediatoren neurogener Entzündung können die Degranulation von Mastzellen auslösen und Mastzellen können wiederum periphere Nerven stimulieren.

Dieses Überlappungsphänomen bedeutet nicht, dass neurogene und immunogene Entzündungen immer das genau gleiche Krankheitsbild erzeugen. Mit der Exposition gegenüber irritierenden chemischen Substanzen beginnen die Beschwerden in den oberen Atemwegen mit Brennen oder Schmerz. Bei immunogenen Entzündungen bestehen die Anfangsbeschwerden in Juckreiz. Im Grad der Überlappung mag es individuelle Unterschiede geben. Die zwei Mechanismen können unterschieden werden, indem man die Patienten versuchsweise entweder Antigenen oder aber nicht allergenen irritierenden chemischen Substanzen aussetzt und dabei die klinischen Symptome beobachtet sowie die ausgeschütteten Mediatoren misst. Dies ist bei Reaktionen der oberen Atemwege einfacher, da die Mediatoren leicht durch Nasenspülung zugänglich sind und gemessen werden können.

Eine andere Erkrankung, die in den 80er Jahren deutlich zugenommen hat, ist die Migräne. Kopfschmerzen sind eine frühe und regelmäßig auftretende Folge der Exposition gegenüber VOCs. Sowohl Spannungskopfschmerzen als auch Migräne können durch neurogene Entzündung hervorgerufen werden. Stimulation der trigeminalen sensorischen Fasern führt bei Ratten zu Veränderungen, die mit Rattenmodellen von Migräne übereinstimmen. Und diese Veränderungen können durch die Antimigränemittel Sumatriptan und Dihydroergotamin unterbunden werden. Eine Verursachung durch neurogen Entzündung erklärt auch, warum Serotoninantagonisten effektiv gegen Migräne helfen. (Mittlerweile kann angenommen werden, dass ein Teil des Signalwegs, der bei Ratten aktiv ist, beim Menschen nicht vorkommt.)

Zusammenfassend kann man sagen, dass jede Erkrankung, an der neurogene Entzündung beteiligt ist, potentiell durch Umweltchemikalien verschlimmert werden kann.

Die Rolle neurogener Entzündung bei Chemikaliensensitivitäten

Meggs hält es für möglich, dass neurogene Entzündung beim „Sick Building Syndrome“ (SBS), dem Multiple Chemical Sensitivity Syndrome (MCS), Reactive Airways Dysfunction Syndrome (RADS) und Reactive Upper-Airways Dysfunction Syndrome (RUDS) eine Rolle spielt.

RADS ist eine asthmaähnliche Erkrankung, die innerhalb von Minuten oder Stunden nach akuter Exposition gegenüber Staub, Rauch oder Lösungsmitteln auftritt. Dieses Asthma wird nach einem ersten expositionsbedingten Auftreten chronisch und ist schwer zu behandeln.

RUDS folgt ebenfalls auf eine Chemikalienexposition und ist schwer zu behandeln. Es betrifft nur die oberen Atemwege und führt zu chronischem Schnupfen. Die hauptsächliche Beschwerde von Patienten mit RUDS ist Chemikalien-Sensitivität.

Vgl. Meggs

Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen SBS, MCS, RADS und RUDS. Das Syndrom wird jeweils durch eine hochdosierte Exposition induziert. Folgende Verschlimmerungen sind dann mit niedrig dosierten Expositionen assoziiert. SBS und MCS betreffen mehr als ein Organsystem, wobei die Schleimhäute der Atemwege und das Zentralnervensystem wesentlich beteiligt sind.

Autor: Karlheinz für CSN – Chemical Sensitivity Network, 28. Mai 2009

Literatur:

Neurogenic Inflammation and Sensitivity to Environmental Chemicals, William J. Meggs, Environmental Health Perspectives, Volume 101, Number 3, August 1993

Stephen J. Peroutka, Neurogenic Inflamation and Migraine: Implications for the therapeutics, Molecular Interventions 5:304-311, (2005)

4 Kommentare zu “Neurogene Entzündung und Chemikalien-Sensitivität”

  1. Maria 28. Mai 2009 um 12:22

    Hallo Karlheinz,

    besten Dank für Deinen heutigen Blog, der verdeutlicht, wie komplex die Zusammenhänge von neurogener Entzündungen, dem ZNS und Multipler Chemikalien Senstitivität sind. Aber auch, dass es auf diesem Gebiet noch weiteren Forschungsbedarf gibt.

    LG
    Maria

  2. Domiseda 29. Mai 2009 um 05:41

    Hallo Karlheinz,

    vielen Dank auch für diesen wichtigen Artikel.
    Allerdings empfinde ich den Absatz über Migräne als sehr problematisch:
    Die genannten Substanzen (Triptane; Ergotamin) können gerade bei MCS-Kranken verheerende Reaktionen auslösen, darunter weitere Migräneanfälle.Sie bieten daher kein allgemein anwendbares Lösungsmodell.Ebenso sehe ich den Denkansatz „Serotoninantagonisten“ als sehr fragwürdig an:Auch Serotoninantagonisten müssen erstmal vertragen und verstoffwechselt werden.Abgesehen davon gibt es auch die Theorie, daß für MCS-Attacken zu niedrige Serotoninspiegel verantwortlich sind; meiner Erfahrung nach treten- selbst wenn der Serotoninspiegel in den Normbereich gebracht wurde- Migräne inklusive MCS-Reaktionen dennoch auf in Abhängigkeit von Expositionen(seien diese aufgrund von VOC,Schwermetallen, Nahrungstoxinen…usw ).Für so manchen bleibt nur übrig:Toxin-Elimination und konsequenter Expositionstop bei gleichzeitiger und kontrollierter antioxidativer Substitution .

  3. Karlheinz 29. Mai 2009 um 18:12

    Die von Domiseda genannten Substanzen sind Teil der Argumentation von W. Meggs und stellen keine Behandlungsempfehlung dar. Weder von Meggs noch von mir.

    Darüberhinaus ist der zugrunde liegende Artikel schon recht alt. Prinzipiell scheint sich an der Stichhaltigkeit oder Nichtstichhaltigkeit seither aber nicht viel geändert zu haben (soweit ich das recherchiert habe). Dass man die Dinge bei Migräne mittlerweile etwas differenzierter sieht habe ich erwähnt. Da scheint nur der Signalweg über CGRP von Bedeutung zu sein. Vgl. den zitierten Artikel dazu (im Volltext im Netz).

  4. Lucca 31. Mai 2009 um 22:42

    Vielen Dank für diesen sehr anschaulichen Artikel über neurogene Entzündung. Überhaupt finde ich die Serie über MCS Mechanismen sehr wichtig und gelungen.

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