Umweltmedizin wird in Deutschland systematisch auf das Abstellgleis geschoben

Bye, Bye Umweltmedizin

Als in den Achtziger und Neuziger Jahren publik wurde, dass immer mehr Menschen unter Umweltkrankheiten und MCS – Multiple Chemical Sensitivity leiden, waren viele Mediziner, Politiker und teilweise auch Behörden hoch motiviert, den Erkrankten zu helfen. Es gab erste Pilotprojekte, später kamen Umweltambulanzen, Ausbildung zum Umweltmediziner und umweltmedizinische Verein-barungen der Krankenkassen hinzu.

Die Zahl der Erkrankten hat seit den Achtziger Jahren drastisch zugenommen, doch statt die umweltmedizinische Versorgung weiter auszubauen, internationales Wissen zu integrieren und zielgerichtete Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, ist in den letzten Jahren ein eher gegensätzlicher Trend zu beobachten. Interessen-vertreter betreiben zielgerichtete Lobbyarbeit, um Umweltkrankheiten eine psychische, psychiatrische Genese anzudichten und damit den Erkrankten adäquate Hilfe zu verbauen.

Kranke werden alleine gelassen
Patienten und niedergelassene Umweltmediziner zeigen sich von der gegenwärtigen Situation gleichermaßen besorgt und fordern funktionierende medizinische Versorgungsprogramme für Umwelt-kranke. Rein ökonomisch würden angemessene Maßnahmen sogar erheblich dazu beitragen, Gelder zu sparen, wie sowohl wissenschaftliche Studien als auch wirtschaftliche Erhebungen und Einschätzungen deutscher Krankenkassen bereits ermittelten.

Wider alle Vernunft wurde aktuell zum Jahresanfang 2009 die Umweltmedizinische Vereinbarung von den Krankenkassen in Nordrhein – Westfalen gekündigt. (1) Damit ist eine Versorgungs-lücke entstanden, die nicht zu schließen ist. Umweltambulanzen, die an Universitäten angeschlossen sind, werden die entstandene Lücke jedenfalls nicht schließen können, wie aus den über Jahre getätigten Äußerungen von Leitern solcher Umweltambulanzen in der Öffentlichkeit zweifelfrei erkennbar war.

Umweltambulanzen für Psychiatrisierung bekannt
Die Vorsitzenden der KV Nordrhein und der Ärztekammer Nordrhein hatten sich über diese Tatsache und den Nutzen der niederge-lassenen Umweltmedizin bereits im Dezember 2000 im Rheinischen Ärzteblatt geäußert:

„In der praktischen, klinischen Umweltmedizin kann auf den immer wieder geforderten interdisziplinären Ansatz verzichtet werden, da das etablierte System von Überweisung und Konsil eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zu anderen Fachgebieten sichert. Dies vermeidet eine unzulässige Psychiatrisierung der Patienten, wie sie in „Umweltambulanzen“ mit einer obligaten psychiatrischen Testung durch das System impliziert wird.“ (2)

In der Fortsetzungsserie – Umweltmedizin in Deutschland – wird die Situation von verschiedenen Seiten beleuchtet werden.

  1. Teil – Krankenkassen schafften Basis für Hilfe bei Umweltkrankheiten
  2. Teil – Umweltmedizinische Vereinbarung ein erfolgreiches Konzept
  3. Teil – Kündigung Umweltmedizinische Vereinbarung, Resonanz der Krankenkassen
  4. Teil – Resonanz des Ministeriums in NRW
  5. Teil – Situation Umwelterkrankter aus der Sicht des Präsidenten einer Standesgesellschaft für Umweltmedizin

Autor:
Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 23. 02.2009

Literatur:
1. KV Nordrhein, Umweltmedizin-Vereinbarung zum 31. Dezember 2008 beendet
2. Dr. Leonhard Hansen – Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Dr. Dietrich Rohde – Mitglied des Vorstandes und Vorsitzender des Ausschusses „Umweltmedizin“ der Ärztekammer Nordrhein,  Honorierung qualitätsgesicherter umweltmedizinischer Leistungen, Rheinisches Ärzteblatt 12/2000

5 Kommentare zu “Umweltmedizin wird in Deutschland systematisch auf das Abstellgleis geschoben”

  1. Spider 24. Februar 2009 um 08:14

    Hallo Silvia,

    dafür bekommst Du von mir 100 Punkte und extra Fleißpunkte obendrauf! Gut dass Du dieses Thema aufgreifst, denn es ist wichtig auf den äußerst negativen Verlauf der deutschen Umweltmedizin aufmerksam zu machen. Ich habe es am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie man in deutschen Umweltambulanzen mit Umweltkranken verfährt und man nicht dort umweltmedizinisch behandelt wird, wie man eigentlich vermuten sollte. Die Psychoschiene wird eingeschlagen, doch diese Handlungen sind den Patienten keinesfalls dienlich, im Gegenteil, Umweltkranken wird dadurch vielfach Schaden zugefügt.

  2. Jewel 24. Februar 2009 um 09:09

    Über den traurigen Stand der Umweltmedizin in Deutschland kann gar nicht genug berichtet werden. Die Umweltmedizin ist wahrlich ins Abseits gedrängt worden. Diese Zustände stellen eine Katastrophe für alle MCS Kranken dar. Anstatt sich der Thematik zu stellen und den Betroffenen Hilfe zu bieten, werden wir komplett ausgegrenzt. Ich kann mich Spider nur anschließen, denn auch bei mir wurden in der Umweltambulanz einer Universitätsklinik keine umweltmedizinischen Befunde erhoben, sondern lediglich Allergietests gemacht, auf die ich aber kaum reagierte und bereits beim Allergologen durchgeführt wurden. Ich habe sog. Pseudoallergien oder Überempfindlichkeiten, wie die meisten MCS Patienten auch. Mit herkömmlichen Allergietests ist man damit auf der falschen Fährte, aber das müssten gut ausgebildete Umweltmediziner eigentlich wissen. Dennoch wurde ich seitens der Umweltambulanzen nicht richtig ernst genommen und mir wurde logischerweise auch nicht geholfen. Erst ein niedergelassener Umweltmediziner brachte dann das wahre Ausmaß meine Erkrankung zutage, Diagnose MCS.

    Meiner Meinung nach ist das alles nur Alibigehabe. Umweltkliniken werden vielfach von der chemischen Industrie finanziell unterstützt, aus dieser Abhängigkeit heraus wird dann wahrscheinlich in den Umweltambulanzen so verfahren, wie in meinem und zig anderen Fällen.

    Herzliche Grüsse und danke für den gelungenen Beitrag,
    Jewel

  3. Juliane 24. Februar 2009 um 11:51

    Damit sich Blog Leser ein Bild machen können, was kranke Menschen u.U. in einer Umweltambulanz erwartet, hier ein Blick auf eine Informationsseite:

    Zitat

    „Sie haben sich entschlossen, einen umweltmedizinisch tätigen Arzt aufzusuchen? Der folgende Text hilft Ihnen, sich auf den Besuch vorzubereiten und sagt Ihnen, worauf Sie achten müssen.

    Es kann sein, dass während des Erstgesprächs deutlich wird, dass der Arzt und Sie als Ratsuchender/Patient recht unterschiedliche Auffassungen darüber haben, woher Ihre Beschwerden kommen können, wie man sie am besten diagnostiziert und therapiert. Oft geht es hier um Vorgehensweisen der wissenschaftlich orientierten Medizin einerseits und alternative Untersuchungs- und Behandlungsverfahren andererseits. Ein erfahrener Umweltmediziner wird in diesem Fall die unterschiedlichen Sichtweisen offen ansprechen und im Bündnis mit Ihnen das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen festlegen.

    Dieses „Arbeitsbündnis“ ist auch und gerade dann sinnvoll, wenn im Verlauf des Gesprächs der Arzt die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Ihre Beschwerden psychosomatisch oder psychisch bedingt sein können, während Sie davon überzeugt sind, dass sie aus der Umwelt herrühren. Hier ist die Verständigung zwischen dem Arzt und Ihnen als Ratsuchenden/Patienten darüber, dass umweltbedingte Gesundheitsstörungen sowohl eine körperliche als auch eine psychische Komponente haben können, wichtig. In diesem „Arbeitsbündnis“ können der Arzt und Sie gemeinsam festlegen, dass zu einem geeigneten späteren Zeitpunkt eine psychotherapeutische Untersuchung und Betreuung sinnvoll sein kann.“

    „Literatur Beyer, A. und A. D. Kappos (2002): Praktische Hinweise für die Arzt-Patienten-Kommunikation. Anhang: Checkliste für das ärztliche Gespräch im Rahmen des umweltmedizinischen Untersuchungsganges. In: Folgelieferung 1/2002 zum Springer Loseblatt-System „Praktische Umweltmedizin”. Hrsg.: A. Beyer, D. Eis. Springer Verlag, Sektion 11.03

    Kommission „Methoden und Qualitätssicherung in der Umweltmedizin“ (2001): Untersuchungsgang in der Umweltmedizin. Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 44:1209-1216″

    http://www.allum.de/service-links-checkliste_umweltmedizin.html

    Über das ganze Bundesgebiet verteilt gibt es Umweltambulanzen
    Eine Auflistung findet man hier auf der Seite der ALLUMgGmbH

    http://www.allum.de/service-umweltmedizinische-beratungsstellen.html

  4. Eike 24. Februar 2009 um 23:37

    Danke, dass dieses brisante Thema aufgegriffen worden ist.
    Ich hoffe, es gibt viele Informationen, die für Chemikaliengeschädigte hilfreich sein können.
    Der Bereich der Umweltmedizin in der BRD ist in meinen Augen zur Zeit eine Katastrophe.

  5. yol 27. Februar 2009 um 18:04

    Danke Silvia, das Du das heisse Eisen aufgegriffen hast.

    Über die Umweltmedizinische Betreuung im sogenannten Vorzeigenachbarland Luxemburg gibt es noch weniger Positives zu berichten, um es klar auszudrücken, es gibt sie gar nicht. Es gibt nur MCS-Kranke in Luxemburg, die entweder nicht behandelt werden oder aber das unerhörte Glück haben einen der noch 5 von 22 praktizierenden UWÄrzten „erwischt“ zu haben. Der ganze Spass wird allerdings recht teuer, denn es gibt nicht nur keinerlei Strukturen, keinerlei Wissen in allen andern Strukturen, es gibt auch keinerlei Unterstützung.

    Eine einzige Person hat momentan eine Rente unter dem Namen MCS, alle andern laufen unter PSY, was soviel bedeutet, dass sowohl die Statistiken zu MCS wie PSY falsch sind, nicht gefälscht aber dennoch falsch!

    Und das, obwohl dieses Land vor gut 4/5 Jahren eine Umweltklinik bauen wollte, wo auch Patienten aus den benachbarten Ländern behandelt werden sollten.

    Der Bauplatz war gefunden, die Pläne fertig, der leitende Arzt angefragt – doch heute spricht man davon nicht mehr. Ist auch wieder so ganz typisch für dieses, mein Land, das dem Grössenwahnsinn verfallen ist/war.

    Zuerst eine ganze Umweltklinik mit allem drum und dran und dann bis heute nicht mal die elementarsten Strukturen oder das elementarste Wissen damit MCS-Patienten nicht durch gut gemeinte Behandlung ins Jenseits befördert werden. Ich habe jedenfalls noch keinen Arzt in einer Klinik getroffen der auch nur den Namen MCS gehört hat, geschweige denn weiss, was damit gemeint ist.

    Wie denn soll man solche Missstände denn bezeichnen?

    Doch dieses Land hat keine Industrielobby, warum dann aber lässt man MCS-Kranke im Regen stehen? Das vorher beschriebene Szenario zeigt doch deutlich auf, dass es nicht am Wissen um das Bedürfnis liegen kann.

    JEDE Klinik in Luxemburg hat eine aufwändige Psychiatrische Struktur, wo von A-Z alles vorhanden ist, dass diese Strukturen funktionnieren können, mitsamt dem spezialisierten Personal. Und psychisch krank sind 2 % der Bevölkerung… (siehe im Vergleich MCS-%satz!)

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