Chemikalien-Sensitivität (MCS): Armut trotz materiellem Reichtum

Armut hat in Bezug auf die weltweit verbreitete Krankheit Chemikalien-Sensitivität viele Facetten. Der materielle Reichtum ist ab einem gewissen Schweregrad der Erkrankung kaum noch von Relevanz. Für einen Menschen, dessen Aktionsradius sich nur noch auf wenige Quadratmeter gefilterte Luft beschränkt, der also in unfreiwilliger Zwangsisolation lebt und weder seine Umwelt, noch jede Nahrung oder ein normales Wasser zum Trinken toleriert, für den Menschen spielen materielle Werte nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Airstream Trailer in Texas

Gleißendes Sonnenlicht, unerträgliche Schwüle, kein Windhauch regt sich. Einige silberne Alu-Trailer die sich in der Sonne spiegeln, ringsum keine Menschenseele. In der Mitte ein „Küchenhaus“ aus Wellblech, aus dem man das Surren von Gefrierschränken hört. Ein Geräusch, das die Monotonie des trostlosen Ortes unterstreicht. Es ist kein richtiger Ort, sondern nur eine Ansammlung von metallisch glänzenden Wohnwagen aus den sechziger und siebziger Jahren. Der nächste richtige Ort ist Meilen entfernt und nur durch eine staubige Strasse erreichbar.

Plötzlich ein Geräusch, das Quietschen einer Metalltür, sie schlägt ruckartig zu. Herauskommt eine Person, völlig in weiße Kleidung gehüllt, die viel zu warm scheint für die schwülen Temperaturen. Sie haucht aus der Ferne ein schwaches „Hi“ durch eine weiße Aktivkohlemaske entgegen und hebt freundlich die Hand. Sie kommt nicht näher und verschwindet im Küchenhaus. Einige Gegenstände vor den anderen Aluwohnwagen lassen vermuten, dass es weitere Menschen gibt, die hier leben. Auf einer Wäscheleine hängen Kleidungsstücke, ein Stück weiter einzelne Seiten einer Zeitung.

Am Küchenhaus vorbei steht ein weiterer Wohnwagen, der offensichtlich von mehreren Personen genutzt wird. Von der kahlen Metallaußenwand hebt sich ein Münzfernsprecher ab. Innen sind einige Metallstühle zu sehen, ein Glastisch und ein Fernseher in einer Metallkiste mit Glasscheibe.

Ganz am Ende der kleinen Trailersiedlung steht ein großer Airstream- Wohnwagen. Er ist größer als die anderen, ansonsten unterscheidet er sich von außen nicht. Plötzlich steht ein kernig aussehender Mann neben mir und spricht mich an. Ob ich interessiert sei, der Wohnwagen sei zu verkaufen. Nein, eher nicht, denke ich, nicht an diesem Ort. Der Mann erkennt an meinem Gesicht, dass mein Interesse nicht groß ist, aber er beginnt dennoch zu erzählen. Dieser Wohnwagen habe Lizz gehört, sie sei weggezogen nach fast zwei Jahrzehnten. Es sei sehr schwierig für sie gewesen, doch sie habe es geschafft. Er fasst in seine Hosentasche und zieht einen Schlüsselbund heraus und deutet mir mit der Hand, dass ich ihm folgen solle. Ich erhasche einen ersten Blick in das Innere. Boden, Decken, Wände sind mit pastellfarbenem Emaille überzogen.

Der Trailer ist trotz seiner Kargheit sehr schön anzusehen und wirkt großzügig.  Er hat drei Schlafzimmer, drei Bäder, zwei Salons und eine Küche. Dort im Salon hingen echte Picassos hinter Glas, erzählt mir der Mann. Lizz habe sie mitgenommen in ihr neues Zuhause. Auf meinen verwunderten Blick hin stellt der Mann sich als Dan vor und beginnt zu berichten.

Die Frau, die in diesem Airstream Trailer lebte, gehörte zu den Superreichen in den USA. Ihr Mann und sie hatten keine Kinder, dafür mehrere Häuser und Yachten, zwei davon sogar mit Helikopterport. Ihnen mangelte es an nichts, sie konnten wirklich tun und lassen was sie wollten. Eines ihrer Hobbies war es, ihre Villen schön einzurichten. Sie wurden krank durch giftige Baumaterialien, Farben und Ausstattung, der Mann starb. Lizz wurde so chemikaliensensibel, dass sie ihre Umwelt nicht mehr tolerierte. Sie konnte fast nichts mehr essen, in keinem ihrer Häuser hielt sie es aus, ohne schwerste körperliche Reaktionen zu erleiden. Jeder Versuch machte sie kränker, es ging soweit, dass sie fast nicht überlebte. Durch Zufall erfuhr sie von einem Arzt von einer Umweltklinik in Dallas, die damals noch klein war. Sie ließ sich hinbringen und begann eine Behandlung. Ihre Sensibilität auf Chemikalien war jedoch so stark ausgeprägt und ihr Körper so schwerwiegend vergiftet, dass ihr Leben lange am seidenen Faden hing. Es dauerte, bis überhaupt ein Wasser gefunden war, dass sie ohne Reaktionen trinken konnte. Sie hatte keine Chance, in einem Apartment oder in einem Haus zu wohnen und kam hier raus, um in einem Alutrailer zu leben, der extra für Menschen umgebaut wurde, die auf alles reagieren. Lizz ließ sich dann diesen Trailer hier bauen nach ihren eigenen Vorstellungen. Er hat allen nur erdenklichen Komfort und ist wirklich safe.

In jedem der Räume stand noch immer ein Luftfilter aus Edelstahl, doch auch ohne dass sie liefen, war die Luft ohne jeglichen störenden Geruch. Als Dan die eingebauten Schränke öffnete, konnte ich sehen, dass auch sie innen völlig mit porzellanbeschichtenem Edelstahl ausgekleidet waren. Die Möbel waren alle aus Glas und Metall. Lizz lebte fast zwanzig Jahre nur in diesem Alutrailer und konnte fast nie hinaus. Der Arzt kam zu ihr, wenn es erforderlich war. Sie wurde hier gesünder, aber nie ganz gesund, sie wünschte es sich von Herzen, ans Meer zu ziehen. Dort lebt sie jetzt, und dieser Trailer ist zu verkaufen. Andere hier hatten mehr Glück als sie, obwohl sie kaum Geld besaßen. Sie waren nicht so krank wie Lizz und schafften es sogar wieder, einen Job anzunehmen. Ja, es sei in der Tat nicht alles von Geld abhängig, meinte Dan, denn sonst hätte Lizz es geschafft, denn daran mangelte es ihr nicht. Hätte sie Kinder haben können, hätten auch diese für Generationen ausgesorgt.

Wir hatten den Wohnwagen wieder verlassen und saßen auf der Außentreppe, die Sonne begann sich zu neigen am Horizont und tauchte alles in ein warmes Abendlicht. Die silbernen Trailer leuchteten plötzlich rotgolden. Man sah nach und nach Menschen aus ihnen herauskommen und in Richtung Küchenhaus gehen und wieder zurückkommen und wieder in ihr Refugium verschwinden.

Dan sagte, er könne mir viele Geschichten von Menschen erzählen, die sich hier an diesem trostlosen Ort wegen ihrer Krankheit niedergelassen hatten. Arm, materiell gesehen, ist keiner von ihnen hier, das Wohnen in den Alutrailern sei nicht gerade billig. Geld spiele bis zu einem gewissen Grad dennoch eine völlig untergeordnete Rolle. Wenn man nur noch drei Nahrungsmittel hat, die der Körper annimmt, dann ist man reich, wenn man nach einiger Zeit durch das karge chemiefreie Leben wieder zwanzig oder dreißig Nahrungsmittel essen kann. Oder wenn jemand, der kollabiert nach wenigen Schlucken Wasser wieder ein Wasser findet, was er ohne Schmerzen und ohne Kollaps trinken kann.

Die Vorstellung von arm und reich, die man eigentlich hat, verschiebt sich gänzlich, nachdem man einen Ort wie diesen Trailerpark irgendwo da draußen mitten in Texas gesehen und über sein Eigenleben erfahren hat. Die Schmerzen dieser Menschen, die oft unerträglich sind, lassen sich durch kein Geld der Welt in Luft auflösen, weil Chemikalien-Sensitivität es nahezu unmöglich macht, Schmerzmittel oder andere Medikamente nehmen zu können. Reich ist, wer keine Schmerzen hat, und sei es nur für einen Tag oder eine Stunde.

Die Armut bei Menschen mit Chemikalien-Sensitivität hat viele Gesichter und selbst wer Geld für Generationen hat, ist im Grunde arm. Chemikalien-Sensitivität schränkt den Aktionsradius eines Menschen völlig ein, und mit Geld ist weder die Freiheit, die man einst besaß, zurückzukaufen, noch die Fähigkeit, frei zu entscheiden, was man anziehen möchte, was man gerne essen würde, oder alte Freunde wiederzuerlangen. Nichts ist mehr wie zuvor, als man noch die Vorstellung besaß, ein Mensch, der Originalbilder von Picasso an den Wänden hängen hat, sei reich.

Dieser Artikel wurde zum Thema Armut als Beitrag zum Weltblogtag 2008 geschrieben.

Autor: Silvia K. Müller, CSN – Chemical Sensitivity Network, 15. Oktober 2008

6 Kommentare zu “Chemikalien-Sensitivität (MCS): Armut trotz materiellem Reichtum”

  1. T-Rex 15. Oktober 2008 um 18:47

    Dein Artikel geht an die Nieren Silvia. Mich hat es oft gestört, dass MCS als Krankheit der Armen und Arbeiter hingestellt wird. Nix ist, jeden kann’s treffen und dann geht’s ans Eingemachte.

    Musstest Du auch dort in einem Trailer leben?

  2. Henriette 15. Oktober 2008 um 19:27

    Hallo Silvia,

    Du warst also auch in dieser Trailersiedlung. Es stimmt mich betroffen, dort 20 Jahre leben zu müssen wie Lizz. Wie war der Aufenthalt dort für Dich, war es schlimm? Wie lange warst Du dort?

    Deine Schilderungen bestätigten den altbewährten Satz, Geld kann man nicht essen. Was es heißt an MCS erkrankt zu sein, davon haben Gesunde keinen blassen Schimmer, das Ausmaß ist ihnen völlig fremd und unbegreiflich. Hoffentlich lesen viele Leute Deinen Beitrag, die nicht an MCS erkrankt sind, damit sie eine Vorstellung bekommen, wie schnell es gehen kann, von jetzt auf gleich, unfreiwillig mit unvorstellbaren Einschränkungen leben zu müssen.

    Die Bedeutung von Reichtum und Armut wird durch MCS völlig neu festgelegt.

    Danke für diesen gut geschilderten Beitrag,

    Henriette

  3. Adele 15. Oktober 2008 um 22:19

    Krankheit ist mit das schlimmste, was einem im Leben passieren kann, wie sich am Beispiel MCS abzeichnet. Was benötigen wir alle eigentlich? Gesundheit ist das Allerwichtigste, der Rest klappt dann von alleine. Geld, der ganze Konsumwahn, unser so hochgelobter Lebensstandard unseres Zeitalters, all das ist nichts mehr wert, wenn man an MCS erkrankt ist. MCS ist eine der schlimmsten Krankheiten unserer Zeit, daran sollten auch alle Widersacher von MCS einmal denken. Es kann jeden treffen, dann nutzt es auch nichts, in der Chefetage eines Pharma- oder Chemiekonzerns, mit Spitzengehältern zu arbeiten. Mit Chemikalien Sensitivität zählt das alles nichts mehr. Es gibt zwar die Zwei- , ich denke sogar die Dreiklassenmedizin, allerdings ist Gesundheit nicht immer käuflich.

    Als MCS Kranker nutzt einem das viele Geld rein überhaupt nichts, jedenfalls nicht dazu, gesund zu werden. Alles ist nicht mehr so wie es einmal war. Sogar die Dreiklassenmedizin, mit all ihren Vorteilen für die finanziell Bessergestellten, muss bei MCS kapitulieren – GELD verliert bei MCS seinen Nutzen…

  4. Mary-Lou 16. Oktober 2008 um 13:17

    Hallo Silvia,

    Dein Blog ist sehr aufschlussreich und ging bei mir beim Lesen durch und durch. Wie war das für Dich, an solch einem unschönen Ort, in einem fremden Land mit all Deinen starken körperlichen Symptomen zu leben? Ich stelle mir den Aufenthalt dort extrem schlimm vor, oder?

    MCS bewirkt, dass man zwangsläufig eine andere Weltanschauung von Armut und Reichtum erhält. Armut und Reichtum sind beide relativ, wie Deine Schilderungen verdeutlichen.

  5. Sophie S. 18. Oktober 2008 um 23:03

    Beim Lesen Deines Blogs wurde mir ganz anders, Silvia. An MCS erkrankt zu sein, ist ein besonders schwieriges Schicksal. In solch einer Trailersiedlung leben zu müssen, stelle ich mir äußerst schlimm vor, ganz abgeschieden von jeglicher Zivilisation. Gut, Zivilisation ist genau das, was MCS Kranke am meisten meiden sollten, Ihre Mitmenschen verursachen mangels Rücksichtnahme die heftigsten Symptome, aber dennoch erscheint mir diese Wohnwagensiedlung, dieser Ort, als besonders uneinladend und trostlos.

    In Armut trotz Reichtum leben zu müssen, das sollte jetzt wirklich einmal Alle wachrütteln.

  6. Lucie 17. November 2008 um 08:55

    Hallo Silvia,

    danke für Deinen anschaulichen Blog, mir ist der Bericht sehr nahe gegangen. Deine Ausführungen verdeutlichen, dass materieller Reichtum bei MCS nicht viel nutzt, denn unheilbar krank sind auch die reichen MCS Betroffenen. Die schwerwiegenden gesundheitlichen und sozialen Folgen von MCS können jeden treffen, das sollten sich diejenigen vor Augen halten, die MCS Kranke diffamieren und um ihre gerechtfertigten Ansprüche betrügen, in dem sie Gefälligkeitsgutachten ausstellen und MCS als psychische Erkrankung abtun, zum Wohle von gewissen Interessenverbänden.

Kommentar abgeben: