Umweltmedizin, Umwelterkrankte – Schweizer Bundesrat antwortet auf eine Interpellation

Bundeshaus-Schweiz

 

Umwelterkrankte und insbesondere Menschen mit MCS – Mutiple Chemical Sensitivity haben auch in der Schweiz einen schweren Stand. Umweltmedizinische Versorgung ist nur spärlich vorhanden. Geeigneter Wohnraum ist nicht verfügbar und ein erstes MCS-Wohnprojekt erst in Planung. Yvonne Gilli, Mitglied des Nationalrates, Grüne Franktion Schweiz, reichte am 23.09.2009 eine Interpellation im Schweizer Bundesrat ein, um die Situation hinsichtlich Umweltmedizin und die der Umwelterkrankten im Land abzuklären. Sie wurde am 18.11.2009 vom Schweizer Bundesrat beantwortet. Die Interpellation mit der Nummer 09.3816, Handlungsfeld Umweltmedizin, hatte 18 Mitunterzeichner: 

Bänziger Marlies, Donzé Walter, Fehr Jacqueline, Frösch Therese, Hodgers Antonio, John-Calame Francine, Lachenmeier-Thüring Anita, Meier-Schatz Lucrezia, Müller Geri, Prelicz-Huber Katharina, Rechsteiner Rudolf, Schelbert Louis, Schenker Silvia, Teuscher Franziska, Thorens Goumaz Adèle, von Graffenried Alec, Weber-Gobet Marie-Thérèse, Weibel Thomas. 

Eingereichter Text: Der Bundesrat wird gebeten, folgende Fragen zu beantworten:

1. Wie beurteilt er im Vergleich zur Ip 03.3092 Forschungsstand und klinische Abklärungsmöglichkeiten für Betroffene, die sich über Symptome beklagen als Folge von gesundheitsschädigenden Umwelteinflüssen?

 2. Welche Handlungsmöglichkeiten sieht er, um den Bedarf an fachkompetenter umweltmedizinischer Beratung besser abzudecken? 

3. Wurden oder werden Wohnprojekte für Umweltkranke durch den Bund unterstützt, wie als Möglichkeit in der Antwort auf die Ip 03.3092 skizziert? In welchem Umfang? Wenn nein, was sind die Gründe? 

4. Wie wertet er die Notwendigkeit von Hausuntersuchungen durch Umweltfachstellen als Teil der umweltmedizinischen Abklärung und wie könnte deren Finanzierung gesichert werden? 

5. Wie beurteilt er die Rolle des Bundes im Zusammenhang mit der Sicherung industrieunabhängiger Forschungsgelder? 

Begründung
Während sich im letzten Jahrhundert gesundheitsschädliche Umwelteinwirkungen vor allem als spezifische Krankheiten (Asbest, Tabak) oder örtlich begrenzt (Chemieunfälle, Trinkwasserverschmutzung, Smog) manifestierten, gestaltet sich die umweltmedizinische Beurteilung heute ungleich komplexer. Produktionsstandards und gesetzliche Rahmenbedingungen mit der Festlegung von Grenzwerten haben die spezifischen Risiken minimiert. Äusserst rasche technologische Entwicklungen (Funk-, Nanotechnologie) mit ebenso rasch erfolgender industrieller Anwendung in einer globalisierten Wirtschaft konfrontieren uns mit einer neuen Ausgangssituation. Die individuellen Risiken sind „klein“, die Krankheitsbilder unspezifisch, multifaktoriell bedingt und geografisch weit verteilt. Bei der Exposition gegenüber Feinstaub bewirkt eine unmerkliche Verschlechterung der Atemkapazität von weniger als 5 Prozent in der Schweizer Bevölkerung, dass die Anzahl der Erkrankten um rund 50 Prozent ansteigt. Was als individuell kleines Risiko beurteilt wird, lässt die Gesundheitskosten explodieren. Ähnlich präsentiert sich die Situation vielleicht in den Gebieten Multiple Chemical Sensitivity oder electrosensitivity. Gemäss einem wissenschaftlichen Pilotprojekt der Universität Basel ergab sich 5 Prozent der Untersuchten ein plausibler Zusammenhang zwischen geschilderten Symptomen und Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern. Ein laufendes Folgeprojekt der Ärzte und Ärztinnen für Umweltschutz Schweiz scheint dies zu bestätigen.

 

Am 18.11.2009 antwortete der Schweizer Bundesrat:

 
1. In den letzten Jahren wurden einige nationale und internationale Studien durchgeführt mit dem Ziel, das Phänomen der besonderen Empfindlichkeit auf Umwelteinflüsse wissenschaftlich zu untersuchen. In Kurzzeituntersuchungen konnte kein kausaler Zusammenhang zwischen Gesundheitsbeschwerden und den vermuteten Umwelteinflüssen festgestellt werden. Auch konnten keine objektiven Kriterien identifiziert werden, mit denen besonders empfindliche von durchschnittlich empfindlichen Personen sicher unterschieden werden können. 

In der Schweiz wurden Patienten aus der Region Basel, welche über umweltbezogene Gesundheitsstörungen klagten, im Rahmen eines vom Bund unterstützten Forschungsprojekts interdisziplinär untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Patientengruppe sehr heterogen ist in Bezug auf Umweltbelastungen, psychisch/seelische Belastungen sowie bestehende somatische Erkrankungen. Es zeigte sich auch deutlich, dass eine interdisziplinäre medizinische und psychologische Abklärung solcher Patienten und eine Erfassung von Umwelteinflüssen in ihrem Wohn- und Arbeitsbereich unumgänglich ist. 

Auf Basis der Empfehlungen aus dem Basler Projekt haben die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz Schweiz (AefU) im Januar 2008 ein Pilotprojekt „Umweltmedizinisches Beratungsnetz“ lanciert, welches Patienten eine vertiefte Abklärung ihrer Leiden anbietet. Dieses Pilotprojekt wird mit Unterstützung der Bundesämter für Gesundheit (BAG) und Umwelt (Bafu) wissenschaftlich begleitet und läuft bis Ende 2010. 

2. Der Bundesrat begrüsst die erwähnte Initiative und Aktivitäten der AefU. Das Bafu und das BAG werden im Rahmen der vorhandenen Mittel dieses Pilotprojekt weiterhin unterstützen. Bezüglich umweltmedizinischer Aus- und Weiterbildung verlangt das Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe in der Grundausbildung unter anderem auch das Verständnis der ökologischen Faktoren und Auswirkungen auf die Gesundheit (Art. 8 Bst. f MedBG, SR 811.11). Auch im Rahmen der Weiterbildung und Postdiplomstudien zu Prävention und öffentlicher Gesundheit werden umweltmedizinische Kurse angeboten. 

3. Wohnprojekte für Umweltkranke könnten auf der Basis des Wohnraumförderungsgesetzes (WFG, SR 842) durch den Bund unterstützt werden. Artikel 2 Absatz 2 WFG statuiert den Grundsatz, dass der Bund innovative Bau- und Wohnformen unterstützt. Artikel 41 Absatz 2 Buchstabe c WFG konkretisiert, dass das Bundesamt für Wohnungswesen exemplarische Projekte mit innovativem und nachhaltigem Charakter fördern kann. Schliesslich werden exemplarische Projekte durch Artikel 46 der Verordnung zum Wohnraumförderungsgesetz (WVF, SR 842.1) insofern privilegiert, als von den Anforderungen an die Gebäude- und Standortqualität, von den Kostenlimiten und von den besonderen Voraussetzungen, die für die Erneuerung von bestehendem Wohnraum gelten, abgewichen werden kann. Eine Unterstützung im Rahmen der verfügbaren Mittel wird somit gewährt, sofern die Projekte die übrigen an die Bundeshilfe geknüpften allgemeinen Anforderungen erfüllen. Bisher wurde jedoch kein Gesuch für ein Wohnprojekt für Umweltkranke gestellt. 

Die Stadt Zürich plant in enger Zusammenarbeit mit umweltmedizinischen Patienten („Chemikalienunverträglichkeit“) und Beratern den Bau eines Wohngebäudes, welches soweit wie möglich frei von Schadstoffbelastungen und anderen negativen Umwelteinflüssen sein soll. Das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich dokumentiert die verschiedenen Arbeitsschritte bei der Planung und Ausführung ausführlich, um die dabei gemachten Erfahrungen für ähnliche Vorhaben, aber auch für das nachhaltige Bauen generell nutzen zu können. 

4. Im Rahmen einer umweltmedizinischen Untersuchung sollte die Umweltbelastung am Wohnort und am Arbeitsplatz abgeklärt werden. Ob dazu eine Hausuntersuchung nötig ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Im AefU-Pilotprojekt wird eine Hausuntersuchung aufgrund der Ergebnisse eines Umweltfragebogens und auf ärztliche Indikation nach einem standardisierten Protokoll durchgeführt. Diese Hausuntersuchungen werden aus Eigenmitteln und Eigenleistungen der AefU und von den Unterstützungsgeldern der Lungenliga Schweiz, privaten Stiftungen und dem Bafu finanziert. Nach der Auswertung des Pilotprojekts wird die Notwendigkeit von Hausuntersuchungen und ein allfälliger Finanzbedarf besser beurteilt werden können. 

5. Der Bund nimmt seine Rolle zur Sicherung industrieunabhängiger Forschungsgelder wahr, indem er wissenschaftliche Forschung gemäss Forschungsgesetz (FG, SR 420.1) unterstützt, namentlich über den Schweizerischen Nationalfonds. Die Bundesverfassung (vgl. Art. 20) und Artikel 3 FG garantieren die Freiheit von Lehre und Forschung. 

Zudem unterstützt der Bund im Rahmen der Ressortforschung wissenschaftliche Studien, die zur Aufklärung relevanter Fragen nötig sind. Zum Thema „Nichtionisierende Strahlung: Umwelt und Gesundheit“ hat der Bundesrat ausserdem das Nationale Forschungsprogramm NFP 57 lanciert. Der Bundesrat begrüsst aber auch die finanzielle Beteiligung der Industrie an Forschungsvorhaben. Dabei soll durch eine geeignete Projektorganisation die Unabhängigkeit der Forschung und der Publikation der Ergebnisse sichergestellt werden. 

Quelle: Geschäftsdatenbank Yvonne Gilli, Handlungsfeld Umweltmedizin 29. November 2009

 

Weitere Interpellation zum Thema Umweltmedizin, Multiple Chemical Sensitivity,

eingereicht von Nationalratspräsidentin Pascale  Bruderer Wyss am 19.03.2003 nebst Antwort des Schweizer Bundesrates vom 14.05.2003.

5 Kommentare zu “Umweltmedizin, Umwelterkrankte – Schweizer Bundesrat antwortet auf eine Interpellation”

  1. Maria 30. November 2009 um 17:12

    Es ist überall das Gleiche, warum sollte es in der Schweiz anders sein als bei uns? Die Verflechtungen mit der Industrie bewirken eben, dass es noch viele Studien geben und ein Prüfungsverfahren nach dem anderen folgen wird. Die bislang bestehenden internationalen Fakten, die die Notwendigkeit von dringendem Handeln belegen, werden weiter ignoriert und es wird auf Zeit gespielt.

  2. Henriette 30. November 2009 um 22:52

    Bla bla bla …

    Ich kann all das nicht mehr hören. Zeit schinden auf Kosten von schwer Kranker und der heute noch Gesunden. Der Supergau wird kommen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

  3. Phönix 1. Dezember 2009 um 20:06

    Aber die zuständigen in Zürich haben ja doch erkannt,das dies ein zukunftsorientiertes Projekt mit Vorbildcharakter werden könnte. Sie schließen ja die Sensibilität gegenüber Chemikalien nicht direkt aus. Es ist wertungsfrei, liest sich für mich so an. Ich finde es Klasse! Ein riesen Schritt in die richtige Richtung!

  4. Lucie 2. Dezember 2009 um 08:19

    Für mich liest sich die Antwort des Schweizer Bundesrates nicht wertungsfrei, ganz im Gegenteil. Schon zu Beginn wird MCS als Phänomen dargestellt, was MCS schlichtweg ganz und gar nicht ist. Auch dass sich lt. deren Untersuchungen kein kausaler Zusammenhang zwischen Gesundheitsbeschwerden und Umwelteinflüssen feststellen ließ, ist völlig inakzeptabel. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

    Für mich besagt das Antwortschreiben des Schweizer Bundesrates ganz deutlich, dass Bagatellisieren von MCS und Zeit schinden in deren Sinn liegt und kein ernsthaftes Interesse besteht, dringend notwendige und ernsthaft gemeinte Veränderungen einleiten zu wollen. Durch dieses Schreiben wird verdeutlicht, dass Umweltkranke keine Lobby haben und man seitens der Behörden wenig interessiert ist, diesem Missstand entgegenzuwirken…

  5. Christian Schifferle 4. Dezember 2009 um 11:44

    Vor einem Jahr habe ich diese Parlamentarierin Nationalrätin Dr. med. Yvonne Gilli gebeten für uns diese politische Anfrage zu machen. Da sind wir ihr sehr dankbar dafür, das hat sie toll gemacht…. steter Tropfen. Natürlich darf man von höchster Regierungsstelle nicht schnell allzuviel erwarten, doch immerhin wird das Züricher MCS Wohnprojekt erwähnt und unterstützt, meines Wissens sogar mit einem (finanziellen) Beitrag. Das schätzen wir sehr. Wer auch zwischen den Zeilen liest, kann hier eine Morgendämmerung am Horizont erkennen. .. Auch vor 6 Jahren habe ich mit Hilfe einer Parlamentsabgeordneten Nationalrätin Pascale Bruderer eine solche Interpellation zur Umweltkrankheit MCS eingereicht. Pascale ist super engagiert für behinderte Menschen und sie ist vor einigen Tagen zur höchsten Schweizerin gewählt worden, sie ist nun Präsidentin des Schweizer Nationalrates. (Präsidentin des Bundestags) Wir sind in Kontakt. Sie ist nun in höherer Stellung und kann für unsere Anliegen, wer weiss, bald Türen öffnen. Auf jedenfall lohnt es sich, sich nicht von solchen politischen Antworten entmutigen zu lassen, was das Zürcher Wohnprojekt beweist, dabei brauchte es auch mehrere Anläufe und siehe da, die Stadt Zürich schreibt MCS-Geschichte mit ihrem MCS-gerechten Mehrfamilienhaus, das sie mit unserer MCS Wohnbaugenossenschaft realisieren will ( http://www.gesundes-wohnen-mcs.ch ) Nächste Woche bin ich in der Züricher Architekturwettbewerbs-Jury dabei, um aus den über 30 Bewerbern 5 Architekten auszuwählen, die das Projekt mit MCS-Fachleuten realisieren sollen… Die Stadt Zürich organisiert diesen MCS-Wettberwerb, einfach toll….in der Jury auch Dr. Peter Ohnsorge und Peter Bachmann von Sentinel-Haus, und viele Fachleute mehr, ich werde darüber berichten….

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