Umweltkranke haben definitiv keine „Lifestyle-Erkrankung“, Herr Dr. Harth

hallo-herr-doktor-mcs.jpg

Offener Brief zu:

AP Meldung / Artikel „Lifestyle-Erkrankungen auf dem Vormarsch“
Aussagen bzgl. MCS im Fachbuch „Psychosomatische Dermatologie“

Sehr geehrter Herr Dr. Harth,

Chemical Sensitiv Network ist aufgefallen, dass Sie sich als Autor und Interviewpartner zu umweltmedizinischen Themen aus psychodermatologischer Sicht äußern.

Es mag  ja sein, dass es Mediziner heutzutage – wie viele andere Menschen auch – schwer haben.

Es mag ja sein, dass sich Ihre Kollegen gerne motivieren lassen „im Zeitalter der knapperen Ressourcen (Zeitdruck, Budgetierung anrechenbarer Leistungen) den Vorteil der psychodermatologischen Sichtweise bei der Therapie von anspruchsvolleren Patienten und Problempatienten oder Kommunikationsproblemen aufzugreifen“, wie Sie das in Ihrem Rundbrief (1) Ihres Arbeitskreises Psychosomatische Dermatologie 2007 formuliert haben.

Allerdings sollten Sie bei Anwendung Ihrer psychodermatologischen Sichtweise nicht aus dem Auge verlieren, dass es auch Fakten gibt, die gerade Sie als habilitierter Mediziner kennen sollten:

Sie stellen auf der Internetseite der APD den Kollegen als Praxis-Tipp ICD Schlüssel bereit. (2)

Wir stellen Ihnen als Praxis-Tipp für Sie als habilitierten Dermatologen hier einen ICD Schlüssel bereit, der Ihnen als Co-Autor des Werks „Psychosomatische Dermatologie“ offenbar nicht geläufig ist, denn in Ihrem Buch gaben Sie fälschlicherweise für MCS den ICD F45,0 an (Anm.: F-Codes gehören zu den somatoformen Störungen):

FAKT:
„MCS (Multiple Chemical Sensitivity) wird im für Ärzte verbindlichen ICD klassifiziert unter:

T78.4 – Allergie, nicht näher bezeichnet;
Kapitel 19 (Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen), Abschnitt T66-T78 (Sonstige und nicht näher bezeichnete Schäden durch äußere Ursachen)

Eine Zuordnung der o. g. Erkrankungen zum Kapitel 5 (Psychische und Verhaltensstörungen) ist seitens der ICD-10-GM nicht vorgesehen.

Dr. Ursula Küppers
Arbeitsgruppe Medizinische Klassifikation
Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit
DIMDI, Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information“ (3)

FAKT:
Wir stellen Ihnen einen Auszug aus einem Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales als Praxis-Tipp zur Verfügung:

„Die Sachverständigen haben empfohlen, den Satz „Die Fibromyalgie und ähnliche Somatisierungssyndrome (z.B. CFS/MCS) sind jeweils im Einzelfall entsprechen der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen.“

durch

„Die Fibromyalgie, Chronisches Fatigue Syndrom (CFS), Multiple Chemical Sensitivity (MCS) und ähnliche Syndrome sind jeweils entsprechen der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen.“

zu ersetzen.
Mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag

Dr. Christa Rieck
Bundesministerium für Arbeit und Soziales“ (4)

Umweltkrankheiten sind keine psychische Störung
Gegenüber der Nachrichten Agentur AP äußerten Sie sich aktuell zu Erkrankungen, die Sie „Lifestyle-Erkrankungen“ nennen und begründen diese Etikettierung mit der besseren gesellschaftlichen Akzeptanz: „Heißt eine Depression nicht mehr Depression, sondern Deisler-Syndrom, klingt das schon fast wie ein schmückendes Attribut.“ (5)

Nun, ob die geschätzte Leserschaft der AP Meldung Ihre Interpretation der Welt annimmt, sei dahingestellt. Ihre Interpretation von Umwelterkrankungen als „Lifestyle-Erkrankung“, mithin „psychischen Störungen“, ist nicht nur falsch, sondern diskriminierend.

In der AP Meldung, die am Wochenende unter anderem in der Frankfurter Rundschau und dem Handelsblatt online stand, heißt es:

„Ein dritter Bereich von Krankheitsbildern sind Hypochonder, die unter vermeintlichen Umweltgiften leiden. Betroffene klagen über Kopfschmerzen, Augenbrennen, Nasenlaufen, Müdigkeit und Herzrasen oder Atemnot – obwohl es dafür keinen medizinischen Grund gibt.

Beim „Sick-Building-Syndrom“ etwa werden Ausdünstungen aus Gebäuden und Innenräumen für die Beschwerden verantwortlich gemacht. Manche schreiben Ekzeme dem neuen Waschmittel zu.“ (6)

Wer heute noch durch Chemikalien verursachte Erkrankungen wie MCS, CFS und SBS als Hypochondrie abtut, ist nicht auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft. (7)

Ihr Kollege, Prof. Dr. Grönemeyer, fordert die Einrichtung von Umweltambulanzen:
„Mittlerweile gibt es Menschen, bei denen schon geringe Spuren von Chemikalien, z. B. in Reinigungsmitteln oder Parfums, zu schweren allergischen Reaktionen führen. Das Phänomen ist unter dem Begriff »Multiple Chemical Sensitivity« (MCS) in den USA als Krankheit anerkannt. Die Behandlung von Allergien und ihrer Symptome verursacht Kosten in Milliardenhöhe. Auch aus diesem Grund ist der Aufbau eines Netzwerks von umweltmedizinischen Ambulanzen äußerst wichtig…

Es fehlen jedoch immer noch geeignete Institutionen, die nicht nur das Schädigungspotenzial von chemischen oder physikalischen Giften analysieren, sondern auch ein umfassendes Angebot an therapeutischen und vorbeugenden Maßnahmen anbieten.“ (8)

Es wäre an der Zeit, Herr Dr. Harth, notwendige Änderungen in dem von Ihnen veröffentlichten Buch vorzunehmen und sich öffentlich differenzierter über Umwelterkrankung zu äußern.

Mit freundlichen Grüßen,

Silvia K. Müller
CSN – Chemical Sensitivity Network

Literatur:

1. APD Rundbrief 2007

2. APD Tipps für die Praxis

3. MCS – Multiple Chemical Sensitivity – WHO ICD-10 T78.4

4. Psychiatrisierung von MCS Kranken stellt in Deutschland den Tatbestand der Diskriminierung Behinderter dar

5, 6.FR – Life-Style Krankheiten auf dem Vormarsch

6. Handelsblatt – Wenn der Luxus krank macht

7. Ausländische Wissenschaftler fragen; What’s up on Germany?

8. Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, Vorwort, Wenn Gifte auf die Nerven gehen

11 Kommentare zu “Umweltkranke haben definitiv keine „Lifestyle-Erkrankung“, Herr Dr. Harth”

  1. Clarissa 4. Februar 2009 um 15:39

    Mahlzeit, das nenn‘ ich jemanden abwatschen.
    Hr. Dr. Harth, ich als Betroffene erwarte von Ihnen eine Entschuldigung und eine sofortige Richtigstellung in ihren Publikationen, durch ergänzende Beilagen, bzw. Überarbeitung vor einer Neuauflage.

    Ich bin nicht psychich erkrankt, wenn das so einfach wäre wie sie behaupten, dann wäre ich schon längst auf entsprechende Medikamente und Therapien gesetzt.

    Hr. Dr. Harth ich bin schwerkrank und es geht mir fast nur elend, aber ich bin nicht dumm, blöd, verrückt, o.ö. meine Erkrankung hat den Schlüssel T78.4 nach ICD10 und sie ist O R G A N I S C H !!

  2. Franz 4. Februar 2009 um 16:48

    Ich habe schon in CSN Forum über das Buch und die Presseartikel gelesen. Wir sind ja hier schon Einiges gewöhnt. Aber, dass Einem die Krankheit auch noch als etwas Schickes verkauft werden soll und dass in einem Fachbuch falsche Diagnoseschlüssel abgedruckt werden, das ist in der Tat schon ein starkes Stück.

    Und dann dieser Arbeitskreis-Rundbrief des Herrn Dr. Harth an die Kollegen, wo es heißt

    “im Zeitalter der knapperen Ressourcen (Zeitdruck, Budgetierung anrechenbarer Leistungen) den Vorteil der psychodermatologischen Sichtweise bei der Therapie von anspruchsvolleren Patienten und Problempatienten oder Kommunikationsproblemen aufzugreifen“

    Ich frage mich, wie ich diese Aussage mit dem Vorteil der psychodermatologischen Sichtweise zu verstehen habe. Und mich würde auch interessieren, wen Herr Dr. Harth mit anspruchsvolleren Patienten und Problempatienten meint, für die auch die psychodermatologische Sichtweise richtig sein soll. Und er würde mich auch interessieren, warum die psychodermatologische Sichtweise bei Kommunikationsprobleme aufgegriffen werden soll.

    Der Vorteil soll wohl sein,

    dass man psychodermatologisch besser abrechnen kann,

    dass man für Patienten, die anspruchsvoll oder problematisch sind und deshalb viel Zeit in Anspruch nehmen so ein höheres Honorar erhält,

    dass man Patienten, die mit der Diagnose und/oder Therapie nicht gesunden, psychodermatologisch „befrieden“ und/oder „umetikettieren“ kann.

    Mich würde eine Stellungnahme der KV, der Versicherungen und auch des Bundesministeriums für Gesundheit in dieser Angelegenheit interessieren.

  3. Astrid 4. Februar 2009 um 17:28

    Oh je und dann das Buch von Herrn Dr. Harth und Herrn Prof. Gieler

    http://books.google.com/books?id=TRroAQTlxzwC&pg=PA43&dq=Psychosomatische+Dermatologie++mcs&lr=&hl=de&sig=ZL2UREimoyqlZGkavrpytjMeVEw

    Heute steht gerade ein MCS Crash-Kurs im Forum von CSN
    Den sollte man den Autoren Harth und Gieler anraten.

    MCS Diagnostik:
    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/05/14/diagnostik-von-chemikalien-sensitivitaet-mcs-in-der-praxis/

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/04/23/biochemische-anomalien-bei-patienten-mit-mcs/

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/01/22/umweltmedizin-pet-scan-zeigt-dass-die-geruchsverarbeitung-bei-chemical-sensitivity-mcs-gestoert-ist/

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/01/03/spanische-wissenschaftler-finden-ursachen-fuer-chemikaliensensitivitaet-mcs/

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/05/02/umweltmedizin-genvariationen-bei-chemikalien-sensitivitaet-festgestellt/

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/03/31/multiple-chemical-sensitivity-mcs-und-sick-building-syndrom-sbs-im-maeuseversuch-bestaetigt/

    MCS & Psyche:
    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/05/03/umweltmedizin-mcs-psycho-studien-halten-kritischer-betrachtung-nicht-stand/

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/12/24/die-psychiatrisierung-von-mcs-kranken-stellt-in-deutschland-den-tatbestand-der-diskriminierung-koerperlich-behinderter-dar/

    MCS & Wissenschaftlicher Sachstand:
    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/01/31/wissenschaftlicher-sachstand-zu-multiple-chemical-sensitivity-mcs/

  4. Henriette 4. Februar 2009 um 18:30

    Hr. Dr. Harth,

    auch ich bin an MCS – Multipler Chemikalien Sensitivität erkrankt und durch meine vielfältigen auffälligen Laborbefunde wird eindeutig belegt, dass meine Chemikalien Sensitivität keinesfalls psychogenen Ursprungs ist.

    Die Menschenrechtskommission überprüft derzeit Deutschland, wie es bei uns um die Achtung der Menschenrechte bestimmt ist. Ich würde vorschlagen, diese Angelegenheit bei der Beurteilung mit einzubeziehen.

    MCS ist eindeutig klassifiziert und als Behinderung anerkannt, die nicht den psychischen Erkrankungen zugeordnet ist, siehe hierzu die FAKTEN im Offenen Brief. Daher ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass MCS Kranke in der Öffentlichkeit derart diffamiert werden.

    Eine Richtigstellung Ihrer Behauptungen ist mehr als angebracht.

  5. BILL 4. Februar 2009 um 20:49

    Sehr geehrter Herr Dr. Harth,

    als Chemikaliengeschädigter und u.a. MCS Erkrankter erwarte auch ich von Ihnen eine öffentliche ENTSCHULDIGUNG sowie eine RICHTIGSTELLUNG sowohl in Ihren Publikationen als auch bezüglich Ihrer getätigten Äußerungen in Zeitungsinterviews.

  6. Besserwisser 5. Februar 2009 um 09:37

    Ich finde es einfach nur peinlich und menschenverachtend, dass man weiterhin solche Behauptungen über Umweltkranke und Behinderte aufstellt, wie gerade wieder aktuell, und diese durch die Presse oder durch Verlage verbreitet werden, währenddessen z. B. die Holzschutzmittelopfer, von denen als Folge dieser gesundheitsschädigenden Holzschutzmittel, viele Betroffenen mittlerweile an MCS erkrankt sind. Was muss es gerade für die Holzschutzmittelopfer bedeuten, in der Frankfurter Rundschau oder im Handelsblatt solche diffamierende Meldungen lesen zu müssen?

    Die an der Realität absolut vorbeigehenden Behauptungen von Dr. Harth sind schlichtweg Verleumdung schwer kranker Menschen. Es ist nicht nur ein Kavaliersdelikt, was durch diese Worte angerichtet wird. Aber wer weiß, was diesen Herrn dazu bewegt, mit solchen unsachlichen und diffamierenden Äußerungen an die Öffentlichkeit zu treten. Der Arm der Industrie ist lange, sage ich immer, Lobbyismus ist ja in Deutschland weit verbreitet, Korruption an der Tagesordnung und Psycho-Diagnosen wohl die häufigst gestellte Fehldiagnose überhaupt.

  7. Lucca 6. Februar 2009 um 14:49

    Der ICD-10 für MCS war nie F 45,0. Warum haben Sie einen falschen ICD genommen Dr. Harth?

    Doch wohl nicht um Psychotherapie bei den MCS Patienten abrechnen zu können, oder etwa doch?

  8. Juliane 7. Februar 2009 um 08:58

    Psychopathologisieren ist Trend. Besonders in diesem unserem Lande.

    Aktuell hat die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein die Umweltmedizinvereinbarungen zum Ende diesen Jahres gekündigt. Kinder und Hausärzte sollen aber ab Januar 2009 Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung im hausärztlichen Versorgungsbereich abrechnen dürfen.

    Die IKK Niedersachsen hat erkannt, dass es einen guten Grund gibt, den Psychoschleier zu lüften: Das minimiert die Kosten und beschert dem Versicherer gesündere Kunden.

    http://www.csn-deutschland.de/blog/2008/12/29/umweltambulanz-einer-krankenkasse-findet-schadstoffe-als-ursache-von-krankheiten/

    Wollen wir hoffen, dass dieses Modell Schule macht. Man kann den Krankenkassen und Versicherungen nur wünschen, dass sie nicht mehr nach der Pfeife jener etablierten Experten tanzen, die nicht im Interesse kranker Menschen und schon gar nicht im einer Kostensenkung im Gesundheitswesen handeln.

  9. Karlheinz 7. Februar 2009 um 12:59

    Das wirklich Schicke an der Psychomasche ist wohl die Tatsache, dass man damit auch Patienten behandeln kann, denen man sonst nicht zu helfen weiß, weil es entweder kein einfaches Standartproblem ist, mit dem man konfrontiert ist, oder der Arzt schlicht inkompetent ist.

    Ich kante mal jemanden, der sich sein psychosomatisches Problem schließlich chirurgisch entfernen lassen mußte.

  10. Mona 7. Februar 2009 um 18:21

    Ich möchte Herrn Harth anbieten,eine Woche hier mit mir und meinem Mann zu leben und zu sehen und zu recherchieren,ob es da irgendeine psychische Erkrankung gibt.

    Aber was regen wir uns auf…..es gibt halt immer wieder solche und wir ignorieren sie mal genauso,wie sie uns ignorieren.
    Was haltet Ihr davon????

  11. Clarissa 8. Februar 2009 um 08:52

    Werter Hr. Dr. Harth, hier warten etliche Menschen auf Ihre Stellungnahme.

    Hr. Dr. Harth, wer austeilt, muss auch einstecken können und das Mindeste wäre, dass sie bekennen, dass Sie sich geirrt haben oder einer Fehlinformation aufgesessen sind. Aber wer Fehler macht, sollte auch die Größe haben diese zu zugeben.

    Ich denke mal Sie sind sich nicht bewusst, wieviele schwerkranke Menschen Sie durch Ihre Äusserungen ins Aus drängen und viele Ihrer Kollegen Ihre Äusserungen für wahr betrachten und somit Fehldiagnosen erstellen und die Opfer dieser Diagnosen noch lange Zeit weiter leiden müssen.

    Ich habe Verständnis dafür dass Sie Ihr Auskommen haben möchten, aber deshalb andere Menschen unnütz leiden lassen? Ich jedenfalls habe dafür kein Verständnis.

    Ich hoffe, dass Sie diese Zeilen irgendwann erreichen und einen Denkprozess anstossen.

Kommentar abgeben: